XVII

Am nächsten Morgen – Freitag – schlug das Wetter um. Vom Meer zog dichter Nebel auf und hüllte das Camp in ein Grau, das die Laune trübte und die Gäste an die düsteren Städte erinnerte, in die sie morgen zurückkehren würden. Die Tatsache, dass der Verrückte Hutmacher am Vorabend stillgehalten hatte, sorgte außerdem für nervöse Anspannung. Die Nerven hatten blank gelegen und waren auch am darauffolgenden Morgen strapaziert, denn man hatte mit der nächsten Aktion gerechnet – und so war man müde, aber die Erwartungen hatten sich nicht erfüllt. Nach dem Frühstück streiften die Gäste recht ziellos umher. Die Finale der verschiedenen Turniere – Tennis, Bowls, Clock-Golf – hätten an diesem Morgen stattfinden sollen, aber der dichte Nebel machte dies unmöglich. Und doch erschien es als entsetzliche Verschwendung, den letzten Urlaubstag drinnen zu verbringen. Und so machte sich unter den Gästen leiser Unmut breit. Eine Abordnung des Sportkomitees, angeführt von der respekteinflößenden Miss Gardiner, erkundigte sich bei Captain Wise nach etwaigen Fortschritten der Ermittlungen gegen den Verrückten Hutmacher. Der Direktor verwies sie an Nigel, er habe den Fall im Griff, ließ dieser verlauten.

»Nun, junger Mann«, fügte Miss Gardiner hinzu, »mit einer Phrase lasse ich mich nicht abspeisen. Wir vertreten die Gäste des Camps und haben ein Recht darauf zu erfahren, was unternommen wird. Haben Sie die Wahrheit nun herausgefunden oder nicht?«

»Ja, habe ich.«

»Also, dann …«

»Wünschen Sie einen Skandal im Camp oder nicht, Miss Gardiner?«, fragte Nigel und glich seinen Ton ihrem forschen Auftreten an. Die Delegierten warfen einander verunsicherte Blicke zu. Bloß Miss Gardiner bestand weiter hartnäckig auf der Wahrheit.

»Verstehe ich richtig, dass Sie der Meinung sind, die Campleitung wünschte, dass sie die ganze Sache vertuschen?«

»Die Lage ist komplex, Miss Gardiner. Wenn wir den Namen des Schuldigen publik machen, könnte es passieren, dass die anderen Gäste äußerst grob mit ihm umgehen. Heute Morgen ist die Stimmung etwas gereizt. Zudem kann man denjenigen lediglich für das Vergiften des Hundes belangen. Er hat keinen weiteren Schaden angerichtet, und für das Untertauchen wird sich kein Gericht wirklich interessieren.«

»Aber das ist unerhört. Soll er etwa ungeschoren davonkommen?«

Nigel legte vorsichtig einen Finger auf Miss Gardiners wunden Punkt. »Nein. Aber als sachkundige Psychologin werden Sie mir zweifellos zustimmen, dass man bei bestimmten Vergehen am besten Psychotherapie einsetzt und auf disziplinäre Maßnahmen verzichtet.«

Die Lehrerin schenkte ihm ein befriedigtes Lächeln und zwinkerte komplizenhaft.

»Ich verstehe. Ja, das ändert natürlich alles. Wie ich sehe, Mr Strangeways, kann der Fall ohne Weiteres Ihrer Verantwortung überlassen werden.«

Sie nickte den anderen Delegierten kurz zu, erstickte damit jeden Widerspruch im Keim und führte sie dann schulmeisterhaft hinaus.

Nigel sagte Captain Wise, er sei sie losgeworden. »Aber wie lange sie Stillschweigen bewahren werden, kann ich nicht sagen«, fügte er hinzu. »Ich habe mir überlegt, heute Nachmittag die Betroffenen zusammenzurufen und zu dem Fall Bericht zu erstatten. Vielleicht sollte ich auch besser Miss Gardiner dazubitten. Allerdings wird es in meinem Chalet ein wenig eng werden.«

»Wieso nutzen wir nicht meine Räumlichkeiten?«, schlug Captain Wise vor. »Um wie viel Uhr wäre es Ihnen recht?«

»Sagen wir vier Uhr? Bis dahin sollte ich die restlichen Details geklärt haben, und dieses Prozedere würde auch das allgemeine Programm nicht stören. Die Gäste werden beim Tee sein.«

»Bestens. Und ich werde uns Tee bringen lassen. Wer wird alles kommen?«

»Perry. Der Arzt meint, er wird bis heute Nachmittag wieder einigermaßen auf den Beinen sein. Mr Thistlethwaite und Sally, Albert Morley, Miss Gardiner und Ihr Bruder. Das macht neun, inklusive uns beiden und Miss Jones.«

»Und der Verrückte Hutmacher ist einer von ihnen?«

»Das müssen wir entscheiden, sobald ich meinen Bericht gegeben habe.«

Nigel verbrachte den Rest des Vormittags damit, einige der Gäste und der Angestellten zu befragen. Er hätte sich keinen besseren Tag aussuchen können, um nicht aufzufallen. Der Nebel, der durch das Camp waberte, hüllte die Gebäude ein, und die meisten Gäste blieben in ihren Chalets. Die wenigen, die er antraf, musterten ihn verstohlen, bis sie ihn wiedererkannten. Offenbar fürchteten sie, der Nebel wäre die perfekte Gelegenheit für den Verrückten Hutmacher. Selbst drinnen, am Flipperautomaten, beim Dart, Billard oder welche Freizeitgestaltung auch immer gerade Anklang fand, war die Stimmung verhalten. Über die Ereignisse des Vortags, die Schießerei, an der Wise und Perry beteiligt waren, hatte man die Gäste nicht informiert. Captain Wise war der Meinung, dass dann im Camp Panik ausbrechen würde, und bestand darauf, die Angelegenheit zu vertuschen. Auch hochrangige Beamte, die sich mit Nigel und der lokalen Polizei telefonisch in Verbindung gesetzt hatten, bestanden darauf, dass der Tod von Mr Charles Black keinesfalls an die Öffentlichkeit dringen sollte.

Zur Mittagszeit war Nigel in Applestock und beriet sich mit dem Nachrichtendienst der Marine und dem Polizeipräsidenten. Bei einer Gegenüberstellung war es ihm möglich, den Mann zu identifizieren, der dem Spion den Wettschein gegeben hatte. Später suchte er noch einen winzigen übelriechenden Laden in der Altstadt auf. Das Polizeiauto brachte ihn um halb vier nach Wunderland zurück …

Um vier Uhr fanden sich die Geladenen im Wohnzimmer von Captain Wise ein. Sie setzten sich an einen Tisch, auf dem bereits das Teeservice stand. Die meisten empfanden eine gewisse Befangenheit, als spielten sie bei einem Spiel mit, dessen Regeln sie nicht kannten. Captain Wise bedeutete Miss Gardiner, unter den Anwesenden die Älteste, sich ans Kopfende des Tisches zu setzen. Nigel wurde am anderen Ende platziert, mit dem Rücken zum Fenster. Als sich alle gesetzt hatten, musterte er rasch die einzelnen Gesichter.

Zu seiner Linken war Paul Perry, den Arm in einer Schlinge, blass und ein wenig verunsichert, doch mit einem schwachen, aber merklichen Ausdruck von Triumph. Neben ihm, strahlend und schützend – eine grauäugige Athene –, war Sally Thistlethwaite. Neben Sally saß Teddy Wise, mit einem grünen Wunderland-Pullover bekleidet, Albert Morley an seiner Seite verschwand fast neben der athletischen Gestalt. Auf der anderen Seite der Lehrerin, die sich hoheitsvoll ihren Zwicker aufsetzte, saß Captain Wise. Er wirkte so entspannt wie jemand, der alle Verantwortung abgegeben hatte. Neben ihm war Miss Jones, und zwischen ihr und Nigel hatte der aufmerksame Mr Thistlethwaite in seiner ganzen Körperfülle Platz genommen.

»Wären Sie so freundlich, den Platz mit Mr Thistlethwaite zu tauschen?«, fragte Nigel Miss Jones. »Es ist praktischer, falls ich Sie bitten sollte, Notizen zu machen.«

Mr Thistlethwaite erhob sich, deutete mit einer höfischen Geste auf seinen Stuhl und setzte sich auf ihren Platz, wobei er vorsichtig ein Hosenbein hochzog bevor er die Beine übereinander schlug. Für diesen bedeutenden Anlass hatte er übrigens einen cremefarbenen Flanellanzug angelegt mit einer Nelke im Knopfloch.

»Nun, meine Damen und Herren«, begann Nigel, »Captain Wise war so freundlich, die Erlaubnis zu erteilen, Ihnen hier Bericht bezüglich des Verrückten Hutmachers zu erstatten. Auf die ein oder andere Weise sind Sie alle maßgeblich in diese Sache involviert, also ist es nur fair, dass Sie die ersten – und vielleicht auch die einzigen – Leute sein werden, die die ganze Wahrheit erfahren.«

»So ist es!«, rief Miss Gardiner.

»Ein außerordentlich komplexer Fall, und zwar nicht, weil den Taten eine besondere Raffinesse zugrunde lag oder weil die Suche nach einem Motiv schwierig war, sondern weil immer wieder andere Ereignisse, die nicht damit in Verbindung standen, dazwischenkamen und es so gut wie unmöglich war, zuverlässige Alibis zu erhalten. Zu diesen Ereignissen gehören die Umstände, die dazu geführt haben, dass Perry seinen Arm in einer Schlinge trägt. Diejenigen, die darüber informiert sind, haben sich zu Stillschweigen verpflichtet, und ich darf nicht mehr darüber sagen, als dass es mit unserer Zusammenkunft hier heute Nachmittag nicht das Geringste zu tun hat.«

Man wurde unruhig und wechselte nervöse Blicke. Miss Gardiner richtete sich zu einem Wort des Tadels auf, besann sich aber eines Besseren, nachdem sie Nigels Blick aufgefangen hatte.

»Auf ein anderes Ereignis komme ich gleich zu sprechen«, fuhr er fort. »Wie gesagt, aufgrund der großen Zahl an Besuchern hier sowie dem informellen Ablauf der Mahlzeiten – die Gäste kommen und gehen nach eigenem Gutdünken – wäre es unmöglich gewesen, zuverlässige Alibis für die meisten Zeiträume zu erhalten, in welchen der Verrückte Hutmacher seine Streiche gespielt hat. Abgesehen davon hätten ausgiebige Nachforschungen nach Meinung von Captain Wise die Gäste verärgert. Es war aber wichtig, dem Verrückten Hutmacher rasch auf die Schliche zu kommen. Ich musste mich also anderer Methoden bedienen. Auf der Suche nach einem möglichen Tatmotiv ergaben sich mehrere Optionen. Erstens: X macht sich einen Spaß daraus, Streiche zu spielen. Zweitens: Es handelt sich in seinem Fall um Schizophrenie. Drittens: X will den Ruf Wunderlands nachhaltig ruinieren. Viertens: Die Streiche sollen von einer gezielten Attacke auf eine bestimmte Person ablenken.

»Das erste Motiv konnte man recht schnell verwerfen. Jemand, der schlicht und einfach Streiche spielt, hört damit auf, wenn er merkt, dass die öffentliche Meinung sich entschieden gegen ihn wendet. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass er die Presse über die Aktionen informiert. Das vierte Motiv kann ebenfalls ausgeschlossen werden, da keine gewaltsame Attacke auf irgendjemanden hier stattgefunden hat.«

»He, he!«, protestierte Teddy Wise. »Wenn meiner einer unterbrechen darf. Was ist mit der Kugel, die es beinahe geschafft hat, sich in das Prachthirn meines Bruders einzubetten?«

»Das bringt mich zu dem zweiten Ereignis, das nicht zum eigentlichen Thema gehört.«

»Für mich war es nicht so belanglos«, sagte Captain Wise und strich über sein bandagiertes Ohr.

»Sie meinen, es war nicht der Verrückte Hutmacher, der Captain Wise angeschossen hat?«, fragte Esmeralda Jones.

Nigel blickte ausdruckslos in die Runde. »Captain Wise«, verkündete er, »wurde natürlich von Albert Morley angeschossen.«

Das war eine absolute Sensation. Miss Gardiner machte einen Satz und nahm ein Messer in die Hand, als ob sie sich gegen den rotgesichtigen, pummeligen kleinen Mörder, der neben ihr saß, verteidigte. Sally sah aus, als ob sie mit einem Messer auf Nigel losgehen wollte. Captain Wise starrte seinen mutmaßlichen Angreifer ungläubig an. Paul Perry drehte sich ruckartig zur Seite, um Albert anzusehen, stieß sich dabei seinen verletzten Arm und zog scharf die Luft ein. Selbst Miss Jones’ teilnahmsloses Mannequin-Gesicht zeigte Emotionen. Albert selbst fiel die Kinnlade herunter, und er verfiel in eine Starre wie ein kleines Tier, das nicht entdeckt werden möchte. Schließlich rief Teddy Wise mit geheuchelter Heiterkeit, »Oh Albert, du ungezogener, kleiner Mann! Aber he, warten Sie mal! Sie haben den Falschen, Strangeways. Albert kann das nicht gewesen sein. Er ist ein hoffnungsloser Schütze. Er könnte nicht mal einen Heuhaufen treffen.«

»Albert traf Captain Wise, weil er so ein schlechter Schütze ist«, erwiderte Nigel.

»Ach, hören Sie schon auf!«, rief Teddy.

»Ich glaube, Sie reden Unsinn«, sagte Sally.

»Albert war die einzige Person, die sich in der Nähe des Tatorts befand«, fuhr Nigel fort. »Er kam zwischen einer Gruppe Bäumen hinter dem Schießstand hervor und mir entgegen. Alber hat viele bewundernswerte Eigenschaften, aber ich denke, dass er nicht die Nerven hat für so einen Bluff – vorausgesetzt er hatte wirklich die Absicht, Captain Wise umzubringen. Tatsache ist – wie ich auch sofort aus seinem entsetzten Gesichtsausdruck hätte schließen können, als ich ihm erzählte, dass Captain Wise angeschossen worden war –, dass er nicht die Absicht hatte, ihn überhaupt zu treffen. Die einzige Person, die, geografisch gesehen, den Schuss hätte abfeuern können, war ein extrem schlechter Schütze, die Chancen standen tausend zu eins, dass er sein Ziel überhaupt treffen würde. Ich ließ das erst einmal beiseite und fragte mich, weshalb Albert überhaupt geschossen haben sollte. Mr Thistlethwaite machte den klugen Vorschlag, dass er Captain Wise mit seinem Bruder verwechselt hatte, gegen den er durchaus einen gewissen Groll hegen könnte. Aber die Spontaneität, mit der das Verbrechen ausgeführt wurde, sowie Alberts Wissen um seine miserable Treffsicherheit passten nicht zu dieser Theorie. Also betrachtete ich die Sache aus einem anderen Blickwinkel. Sally verriet mir, sie hätte Albert erzählt, dass Perry sich mit der Sorge quälte, er könnte der Verrückte Hutmacher sein, beziehungsweise dass er dessen verdächtigt werden könnte. Albert würde alles für Sally tun. Er wusste, dass Perry gestern einen langen Spaziergang machen wollte, und damit stand der Plan. Dazu kam, dass Mr Thistlethwaite in einem anderen Zusammenhang den Ausdruck ›die Romantik des Verbrechens‹ verwendete, und plötzlich hatte ich die Lösung. Albert Morley ist ein unverbesserlicher Romantiker. Er machte sich schon seit einiger Zeit Gedanken darüber, wie er Sally und Paul die Sorge einer falschen Anschuldigung von der Seele nehmen könnte. Er ist zufällig am Schießstand, als Captain Wise auf den Balkon hinaustritt. Augenblicklich denkt sich Albert, ›Wenn ich auf den Balkon schieße, wird man annehmen, der Schuss sei vom Verrückten Hutmacher abgegeben worden. Paul ist auf einem Spaziergang und nicht im Camp, also wird der Schuss beweisen, dass er nicht der Verrückte Hutmacher ist. Q. E. D.‹ Wohlgemerkt, jeder hätte in diesem Sinn argumentieren können, aber nur ein hartgesottener Romantiker würde auch dementsprechend handeln. Ich sollte hinzufügen, dass Albert, da er dank Mr Thistlethwaite ein Alibi für den Vorfall mit den toten Tieren hatte, glaubte, dass er keinesfalls – Schuss oder nicht – verdächtigt werden würde, der Verrückte Hutmacher zu sein. Jedenfalls legt er an und feuert, mit der Absicht, die Kugel sicher und in respektvoller Distanz zu Captain Wises Kopf vorbeifliegen zu lassen. Doch seine Aufregung trägt dazu bei, dass er am Abzug reißt, statt ihn zu drücken, der Lauf bewegt sich ruckartig nach rechts, und die Kugel beißt sich ein Stückchen aus unserem Direktor. So ist es doch, Albert, oder?«

»Ich … ich fürchte ja. Es war furchtbar dumm von mir, fürchte ich«, stammelte Albert Morley. Dann fügte er mit haarsträubender Förmlichkeit hinzu, »Ich muss die Gelegenheit ergreifen, Captain Wise, mein tiefstes Bedauern zu bekunden. Ich …«

»Das ist schon in Ordnung, Morley. Ist ja nochmal gutgegangen.« Der Direktor drehte sich zu Nigel. »Wir stehen also wieder am Anfang?«

»Ja, auf gewisse Weise. Perry hatte immer noch nicht das Alibi, das Albert ihm verschaffen wollte, und Mr Thistlethwaite hat mir letzte Nacht gesagt, dass Alberts Alibi für die Sache mit den Tierkadavern nicht wasserdicht ist. Also fangen wir wieder von vorne an.«

Sallys Gesicht war weiß vor Empörung. Aber man hatte sie zu Stillschweigen über Perrys Spaziergang verpflichtet, und so biss sie sich auf die Zunge und schwieg.

Nigel gab nun eine kurze Zusammenfassung des Falls, es war mehr oder weniger die gleiche Version, die er am Vorabend Mr Thistlethwaite erzählt hatte. Als er geendet hatte, sagte er, »Das waren die Fakten. Jetzt gehen wir zur Theorie über.«

»Einen Moment, Mr Strangeways«, sagte Miss Gardiner ein klein wenig lauter als sonst. »Lassen Sie mich etwas klarstellen. Aus welchem Grund möchten Sie, dass wir uns das anhören. Kann ich annehmen, dass unter denjenigen, die an diesem Tisch sitzen, der Verrückte Hutmacher höchstpersönlich ist?«

Es klopfte an der Tür, und alle zuckten zusammen. Doch es war lediglich eine Angestellte, die ein Tablett mit Tee und Speisen brachte. Sie stellte es auf den Serviertisch und verließ das Zimmer.

»Ah, Tee«, sagte Nigel und rieb sich die Hände. »Perfekt für eine Pause zwischen Fakten und Theorie.«

Man half, Platten mit Sandwiches, anderen Speisen und zwei Teekannen auf dem Tisch zu verteilen.

»Ihr Koch bewirtet uns königlich«, sagte Nigel und strahlte angesichts dieser Auswahl.

Miss Gardiner schien einige Schwierigkeiten mit einer der beiden Teekannen zu haben.

»Der Schnabel funktioniert nicht«, sagte sie, nahm den Deckel ab und spähte ins Innere der Kanne. Im nächsten Moment stieß sie einen merkwürdigen, kleinen Schrei aus, knallte die Teekanne wieder auf den Tisch und sprang auf ihren Stuhl. Alle starrten sie an. Mit schiefsitzendem Kneifer und aufgeblasenen Backen deutete sie stumm auf die Kanne. Man hörte ein Krabbeln, und gleich darauf steckte eine ansehnliche weiße Maus ihren Kopf heraus, ließ die Schnurrhaare zittern, blickte sich nervös unter den Anwesenden um und verschwand wieder außer Sicht.

Für einen Moment herrschte vollkommenes Schweigen. Dann rief Miss Jones mit einem unsicheren Lachen, »Gott! Das ist der Siebenschläfer! Der Siebenschläfer, den man in die Teekanne gesteckt hat! Das hier ist die Teegesellschaft des Verrückten Hutmachers.«

Captain Wise machte einen Satz zu der Tür, die in sein Büro führte. Die Tür war abgeschlossen.

»Was zum Teufel? Ich gehe auf den Balkon und sehe nach, ob unten irgendjemand ist. Das ist eine Ungeheuerlichkeit.«

»Nur einen Augenblick, Captain Wise«, sagte Nigel. »Wir haben keine große Eile. Lassen Sie uns wieder setzen und überlegen, was all das zu bedeuten hat. Erlauben Sie mir.« Er goss die Maus aus der Teekanne, ergriff sie und setzte sie auf den Balkon. Miss Gardiner stieg wesentlich behäbiger, als sie hinaufgeklettert war, wieder von ihrem Stuhl herunter. Albert Morley half ihr dabei und bemerkte, »Kein Grund zur Beunruhigung. Es war eine zahme Maus. Ich hatte weiße Mäuse wie diese, als ich ein Junge war.«

»Es interessiert mich nicht, Morley, ob Sie weiße Mäuse oder weiße Elefanten gehalten haben«, schnarrte die Lehrerin. »Eines ist glasklar – dieser fadenscheinige Detektiv ist schon wieder hereingelegt worden. Der Verrückte Hutmacher ist nicht in diesem Raum.«

»Weshalb glauben Sie überhaupt, dass er hier ist?«, fragte Nigel sanft.

»Er hat uns komplett lächerlich gemacht. Was für eine Demütigung … Ich werde das nicht tolerieren. Lassen Sie mich raus.«

»Na, na, na. Da bleibt Ihnen nur ein Sprung vom Balkon. Wir verhalten uns am besten alle ganz ruhig.«

»Ich schlage vor, wir wenden uns wieder unserem Tee zu. Ha! Muffins, wie schön«, sagte Mr Thistlethwaite und nahm den Deckel von einer der Speisen. Es waren keine Muffins. Es war eine kleine Astgabel.

»Was in aller Welt ist das?«, fragte er und nahm es vorsichtig heraus. »Eine Steinschleuder?«

»Heiliges Kanonenrohr!«, rief Captain Wise. »Die Astgabel, auf dem die Rakete lag!«

»Mortimer!« Miss Jones Stimme durchschnitt die allgemeine Aufregung wie ein Peitschenhieb. Alle drehten sich zu ihr. »Er muss … schnell, was ist in den anderen Schüsseln?«

Für einen kurzen Augenblick herrschte Verunsicherung. Niemand schien die anderen Schüsseln aufdecken zu wollen. Schließlich strich Paul Perry sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte, »Gut, dann probiere ich es mit der nächsten Überraschung.«

Er hob einen Deckel an. Darunter kam der Kadaver einer Drossel zum Vorschein.

»Ach, wie schrecklich!« Sally vergrub das Gesicht in den Händen. Bald waren auch die restlichen Schüsseln abgedeckt und offenbarten nacheinander eine kleine, mit dem Wort ›Strychnin‹ beschriftete Flasche, die zwei Hälften eines Tennisballs, gefüllt mit Sirup und ein Patrone des Kalibers .22, die in einem Stück Watte steckte.

»Also, das ist höchst interessant«, bemerkte Nigel. »Der Fall wird fraglos immer besser. Unser Scherzbold hat einen Sinn für Symbolik. Aber irgendetwas fehlt doch, oder? Genau, das Untertauchen. Das war der einzige Streich, den er sozusagen nicht unter dem Deckel halten konnte. Außer«, er kicherte, »mal sehen, was ist in der anderen Teekanne?«

Teddy Wise ging zu dem Serviertisch und nahm die Kanne. »Sieht nicht nach Tee aus«, sagte er. Er steckte einen Finger hinein, leckte vorsichtig daran und rief, »Nicht zu fassen! Salzwasser!«

»Ah! Das bringt die Sache zum Abschluss! Wunderbar!«, sagte Nigel und nahm noch ein Sandwich. Captain Wise, am Ende mit den Nerven, rief gereizt, »Jetzt hören Sie mal, Strangeways. Die Sache ist absurd! Der Kerl muss die Kellnerin bestochen haben, das ganze Zeug hierherzubringen und uns einzuschließen. Wir müssen nur hier rauskommen und sie finden, und dann werde ich mir diesen Burschen schon schnappen.«

»Sie finden? Haben Sie ihr Gesicht gesehen? Sie hatten ihr den Rücken zugewendet. Hat ihr irgendjemand Aufmerksamkeit geschenkt?«

Wie sich herausstellte, war dem nicht so.

»Meine Güte!«, sagte Sally. »War sie etwa der Verrückte Hutmacher in Verkleidung?«

»Wir benehmen uns alle ein wenig albern«, sagte Miss Jones säuerlich. »Der Tee kam vor zehn Minuten. Wenn diese Kellnerin der Verrückte Hutmacher in Verkleidung war, wo ist dann bitte die echte, die die Küche zu uns geschickt hat? Wurden die Speisen unterwegs ausgetauscht? Wie …?«

»Vielleicht wurde die echte Kellnerin unterwegs aufgehalten und ausgeschaltet«, schlug Mr Thistlethwaite in einem Ton vor, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Bitte, wir dürfen uns davon nicht derart beeindrucken lassen«, sagte Nigel. »Es gibt eine relativ simple Erklärung für all diese ungebetenen Gäste hier. Lassen Sie uns zu dem letzten Punkt zurückkehren. Ich habe Ihnen eine Zusammenfassung des Falls gegeben. Bevor ich Ihnen meine eigene Interpretation liefere, würde ich gerne Ihre Theorien hören. Sie können ganz unvoreingenommen sprechen, wie man so schön sagt, denn nichts, was hier besprochen wird, verlässt diesen Raum.«

»Das ist höchst ungewöhnlich«, erklärte Miss Gardiner.

»Bitten Sie uns etwa gerade darum zu sagen, wer unserer Meinung nach der Verrückte Hutmacher ist?«, fragte Teddy Wise.

»Ja. Das sollte eigentlich aus den Fakten, die ich Ihnen geschildert habe, ersichtlich sein.«

Der Streich, der ihnen gerade gespielt worden war, sorgte, nachdem der anfängliche Schock überwunden war, für eine Atmosphäre der Leichtfertigkeit. Die Anspannung hatte sich entladen, und die grotesken Gegenstände, die vor ihnen ausgebreitet lagen, ließen alles unwirklich erscheinen. Es wurde stillschweigend angenommen, dass dieser Streich nur das Werk einer Person außerhalb dieses Raumes gewesen sein konnte, und daher waren alle Anschuldigungen der Anwesenden eher theoretisch und harmlos.

Miss Gardiner wies darauf hin, wie gut es auf den Charakter Albert Morleys passen würde, einfach nur Streiche spielen zu wollen. Captain Wise erwähnte die Indizien, die angeblich Paul Perry belasteten, und sagte entschuldigend, dass er Paul seit geraumer Zeit der Taten verdächtigte. Daraufhin erhob sich Mr Thistlethwaite und beschuldigte Captain Wise und Miss Jones, wie er es am Vorabend gegenüber Nigel getan hatte.

»Und nun«, sagte er schließlich, »komme ich zu der Frage nach dem Motiv. Weshalb sollten diese beiden, deren Schicksal mit dem Wunderlands steht und fällt, die Gans, die goldene Eier legt, schlachten, wenn ich das so ausdrücken darf. Die Antwort lautet – die Eier waren ihnen nicht groß genug. Miss Jones, Tochter eines Millionärs und gewohnt an ein Leben in Müßiggang und Luxus, sieht sich auf einmal gezwungen, ihren Lebensunterhalt mit dem Hungerlohn einer Sekretärin zu bestreiten. Captain Wise, dessen Gehalt, wie ich von mehreren Leuten erfahren habe, beileibe nicht seinen Fähigkeiten oder Ambitionen angemessen ist, geschweige denn ausreichend, um einen Lagonda zu unterhalten, goldene Armbanduhren oder den anderen Plunder, den er trägt, zu kaufen …«

»Wirklich, Mr Strangeways«, sagte Esmeralda Jones eisig, »geht das jetzt nicht zu weit? Das ist äußerst geschmacklos.«

»Das waren all die Streiche auch, Miss Jones. Vergessen Sie das nicht.«

Die Atmosphäre im Zimmer, die immer beklemmender geworden war und dabei zunehmend an Realität wiedergewonnen hatte, war nun zum Zerreißen gespannt. Der Tonfall, in dem Nigel seine letzte Bemerkung angebracht hatte, ließ sie alle aufmerksam die Köpfe recken. Alle Augen waren auf Miss Jones gerichtet. Das Kinn stolz gereckt, der rotgeschminkte Mund zu einem verächtlichen Ausdruck verzogen, starrte sie Nigel an und wich keinen Fußbreit. Captain Wises Finger trommelten auf den Tisch. Er war dem allen nicht gewachsen, er wirkte absolut überfordert und in sich zusammengesunken.

»Das Motiv«, sagte Nigel, »ist wie Mr Thistlethwaite es dargelegt hat. Wie ich erfahren habe, hat Captain Wise vor einigen Jahren eine stattliche Erbschaft durchgebracht. Er verschwendet Geld, genau wie Miss Jones. Einige von uns haben bemerkt, dass er auf größerem Fuß lebt, als sein Gehalt es eigentlich zulässt. Und sein Bruder hat mir erzählt, dass er keinerlei Privatvermögen hat.«

»Strangeways, das ist eine dreiste Unverschämtheit. Ich …«

»Wir haben hier also dieses ambitionierte, Prunk liebende Paar, vielleicht bereits verschuldet und ganz bestimmt auf der Suche nach einem Weg, seine Lage zu verbessern. An diesem Punkt erscheint ein gewisser Mr Leyman auf der Bildfläche. Er ist der Mann hinter dem großen Unternehmen, das das Urlaubscamp in Beale betreibt und Wunderlands größter Rivale. Miss Arnold erzählte mir, dass sie vor einigen Monaten Leyman mit Captain Wise und Miss Jones in einem Restaurant in London sprechen sah. Das war natürlich an sich nicht unbedingt verdächtig, aber als ich es Miss Jones gegenüber erwähnte, gab sie von sich aus eine ganze Menge Informationen über Leyman preis. Sie kenne ihn noch aus ihren sorgloseren Zeiten, sagte sie, und als die Dinge schiefliefen, versuchte er, ihre Misere auszunutzen. Das mag zwar die Wahrheit gewesen sein, aber es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass sie sich mit einem Mann, der sich so verhalten hat, in einem Restaurant unterhalten würde. Es gab keinen Grund dafür, außer, sie wollte mich davon ablenken, dass es zwischen ihr und Leyman eine andere Art von Beziehung gegeben hatte . Diese Beziehung, würde ich sagen, war unser guter, alter Freund, der schnöde Mammon. Leyman hatte versprochen, dass Jones und Wise ausgesorgt haben würden, wenn sie im Gegenzug das Unternehmen zugrunde richteten, das sein größter Konkurrent war.«

»Das sind doch nichts als Hirngespinste«, sagte Miss Jones. »Glaubt irgendjemand hier wirklich, dass respektable Unternehmen sich gebärden wie Bösewichte in einem Gangsterfilm?«

»Natürlich tun sie das, wenn sie das, was sie wollen, auf keine andere Weise erreichen. Denken Sie doch nur an die Bestechungen und die Geheimnistuerei, die im Waffenhandel gang und gäbe ist. Oder an die Methoden, derer sich einige große Zeitungsverleger bedienen, um alteingesessene Provinzblätter zu verdrängen. Oh nein, das Motiv ist nicht bloß ein Hirngespinst. Die ungewöhnliche Vorgehensweise steht allerdings auf einem anderen Blatt. Ich denke, sie ist Miss Jones zuzuschreiben, die äußerst intelligent ist und außerdem über einen sardonischen Humor verfügt. Sie war das komische Genie, das hinter dem Verrückten Hutmacher steckte, und ich glaube, dass sie überdies die treibende Kraft hinter der ganzen Angelegenheit war. Ich bezweifle, dass Captain Wise ohne ihr Drängen etwas unternommen hätte. Doch wie so viele intelligente Kriminelle hat sie sich übernommen.«

»Ich habe Ihnen geduldig zugehört, diesem ganzen Theater, das Sie hier veranstalten, Strangeways. Ich kann dazu nur folgendes sagen: Wenn sich jemand übernommen hat, dann sind Sie es. Ich rate Ihnen, äußerst vorsichtig zu sein wie …«

»Mr Thistlethwaite wies darauf hin, dass von all den Leuten im Camp der Direktor und die Sekretärin bei Weitem die besten Gelegenheiten hatten, all die Streiche zu spielen«, fuhr Nigel ungerührt fort. »Sie kannten das Terrain, sie wussten, wo die Wachen standen, sie konnten das ganze Zubehör für die Streiche sicher versteckt halten, und vor allem waren sie die einzigen zwei Leute, die der Logik nach für die Streiche verantwortlich sein konnten, da das Untertauchen im gleichen Zeitraum stattfand, in dem die Notiz am Schwarzen Brett auftauchte. Damit musste es sich um mindestens zwei Personen handeln. Und so kommen wir zu der Teegesellschaft des Verrückten Hutmachers, seinem letzten Streich. Natürlich sollte bewiesen werden, dass der Verrückte Hutmacher nicht einer der Anwesenden sein konnte. Doch auch hiermit haben sie sich übernommen, denn es ist völlig offensichtlich, dass niemand außer diesen beiden die Teegesellschaft hätte organisieren können. Zunächst einmal kam der Vorschlag, Tee zu trinken, von Captain Wise. Seine Angestellten sind ihm treu ergeben – die Bedienung, die das Tablett mit dem Tee brachte und zweifellos den Kuchen, den sie servieren sollte, durch diese unheilvollen Objekte ersetzt hat, würde ihn niemals verraten. Vielleicht hat er ihr sogar erzählt, dass dies zu dem Plan gehörte, den Verrückten Hutmacher zu schnappen. Und es hat funktioniert, wenn auch von seiner Seite sicherlich unbeabsichtigt. Sie sind alle vernünftige Leute. Kann sich irgendjemand von Ihnen vorstellen, dass dieser letzte Streich von jemand anderem hätte ausgeführt werden können als von Captain Wise und Miss Jones?«

Die Antwort darauf war Schweigen. Zudem hatten mehrere der Anwesenden die verärgerten, ratlosen und fragenden Blicke bemerkt, die die beiden ausgetauscht hatten. Schließlich sagte Miss Jones wütend und mit schriller Stimme, »Sie haben nicht auch nur den Hauch eines Beweises für ihre lächerliche Theorie vorgelegt. Und was diese Teegesellschaft angeht, von der Sie behaupten …«

»Ich habe nicht den Hauch eines Beweises vorgelegt?«, frage Nigel in schneidendem Tonfall, der sie verstummen ließ. »Nun gut. Dann werde ich das jetzt tun, wenn Sie darauf bestehen. Ihr Komplize hat sich mit dieser Teegesellschaft selber ein Bein gestellt. Genauer gesagt, mit einem Stückchen Holz.«

Mit einer schnellen Bewegung griff Nigel nach der Astgabel und nahm sie aus der Schüssel. Er hielt sie hoch und fragte, »Ist jemandem irgendetwas Seltsames daran aufgefallen?«

Zu jedermanns Überraschung war es Albert Morley, der das verblüffte Schweigen durchbrach, errötete und mit wackelndem Kopf schüchtern sagte, »Ich fand es eher merkwürdig, dass Captain Wise meinte, auf diesem Zweig hätte die Rakete gelegen. Aber das stimmt doch nicht, oder?«

» Ganz genau! Aber ein Zweig wie dieser wurde benutzt, um die Rakete, die an jenem Abend zwischen den Hütten über den Köpfen der Leute abgefeuert wurde, abzustützen und auf ihr Ziel zu richten. Als ich den Zweig fand – und ich war der Erste, der am Tatort ankam, wie Sie sich erinnern werden –, habe ich ihn in meine Tasche gesteckt. Ich habe niemandem davon erzählt. Daraus lässt sich schließen, dass niemand, außer der Person, die die Rakete abgeschossen hat, dieses Stück Holz hätte erkennen können. Miss Jones hat sogleich realisiert, dass ihr Komplize sich damit verraten hat, und deshalb ›Mortimer!‹ gerufen. Sie hat noch versucht, es herunterzuspielen, aber es war zu spät. Haben Sie eine Antwort darauf, Captain Wise?«

Alle starrten den Direktor an. Seine Hände zitterten, er versuchte zu sprechen, aber die Antwort stand ihm bereits ins Gesicht geschrieben.