Das Kinderhaus war vor vielen, vielen Jahren ein Heim für elternlose Kinder gewesen. Jetzt war das schöne Bauernhaus ein beliebtes Ziel für Klassenfahrten. Von hier aus konnte man einen Ausflug in den nahen Kletterwald machen oder in kleinen Paddelbooten durch schmale Kanäle schippern. Frühmorgens durften die Schüler mit einem Fischkutter hinaus auf das Meer fahren und nachmittags lockte der riesige Abenteuerspielplatz direkt hinter dem Haus. Die Köchin Anneke sorgte dafür, dass am Abend niemand hungrig ins Bett fallen musste. Und wenn Anneke gut gelaunt war, durfte man sogar beim Plätzchenbacken mithelfen und natürlich naschen.
„Tante Anneke würde niemals zulassen, dass ein Hund in der Küche herumtobt und seine Haare dort herumfliegen“, sagte Henry, als sie zum Kinderhaus rannten. Er musste es wissen, denn Anneke war die beste Freundin seiner Oma.
„Henry, hast du es immer noch nicht kapiert?“, rief Leni ungeduldig. „Wenn die Kinder Mogli wirklich mitgenommen haben, werden sie mit ihm doch nicht im Kinderhaus herumspazieren, schon gar nicht in der Küche. Sie werden so schlau sein, ihn zu verstecken, und aufpassen, dass er keinen Piep macht!“
Paula schüttelte heftig den Kopf. „Das klappt niemals. Mogli lässt sich nicht das Maul verbieten. Der bellt zu Hause doch auch ohne Pause.“
„Alles gut, Paula“, schaltete sich Max ein. „Wir überlegen ja nur dies und das. Wo im Kinderhaus könnte man denn einen Hund verstecken, Henry?“
Henry dachte nach. „Vielleicht im alten Kinderkerker neben dem Fahrradschuppen. Dort werden inzwischen die Vorräte aufbewahrt.“
Paula stieß einen Schrei aus. „Kinderkerker? So was gibt es? Das ist ja voll fies!“
Henry nickte. „Finde ich auch. Tante Anneke hat uns den mal gezeigt. Vor hundert Jahren sind die Erwachsenen oft gar nicht nett zu Kindern gewesen. Wenn sie nicht brav waren, hat man sie zur Strafe schon mal ein paar Stunden eingesperrt.“
Paula war ganz blass um die Nase geworden. Ihre Eltern hatten sie als Baby adoptiert, und Paula fand, dass sie die tollsten Eltern auf der Welt hatte. Dass es Kindern in früheren Zeiten, die ein ähnliches Schicksal wie sie selbst hatten, so schlecht gegangen war, erschütterte sie total.
Leni ahnte, was ihrer Freundin gerade durch den Kopf ging. „Das ist bestimmt nicht oft passiert“, sagte sie. „Damals gab es sicher auch schon so nette Leute wie deine Eltern.“
Paula musste schlucken. „Sieht der Kerker immer noch wie ein echter Kerker aus?“, fragte sie bang. Hoffentlich fürchtete sich Mogli nicht. Wenn er überhaupt dort versteckt war.
Henry lachte. „Wie gesagt – der Kerker ist inzwischen eine Speisekammer. Ein echtes Schlaraffenland voller Leckereien! Wahrscheinlich musst du Mogli mindestens eine Woche auf Diät setzen, wenn wir ihn gefunden haben!“
Inzwischen waren sie am Kinderhaus angekommen. Fischer Peter hatte recht gehabt: Anscheinend war dort eine neue Schulklasse eingetroffen.
Auf dem Parkplatz stand ein Bus mit der lustigen Aufschrift Naseweis-Reisen. Und auf dem Spielplatz tobten jede Menge Kinder herum, die ungefähr so alt wie die Pfotenfreunde waren.
Paula spähte über den Gartenzaun. Am Kletterturm zankten sich ein Mädchen und ein Junge um eine Dose Würstchen, die das Mädchen in der Hand hielt. Das Mädchen hatte streichholzkurze rote Haare und kletterte dem Jungen so flink wie ein Wiesel davon.
„Emma, komm runter!“, schimpfte der blonde Junge. „Du musst mit mir teilen. Ich hab sie zuerst entdeckt!“
Das Mädchen schüttelte vergnügt den Kopf und winkte ihm mit einem Würstchen zu. „Alles meine! Hol dir selber welche, Luis.“ Sie biss ab.
Socke begann, sehnsüchtig zu bellen. Er liebte Wiener Würstchen über alles.
Das Mädchen auf dem Gerüst drehte den Kopf in Sockes Richtung. „Oh, nein, mein Süßer“, rief sie, „hast du Hunger?“ Eilig kletterte sie hinunter, schubste Luis zur Seite, als er nach den Würstchen griff, und rannte zum Zaun.
„Hier mein Kleiner, friss“, sagte sie zärtlich und streckte Socke ein Würstchen entgegen.
Begeistert schnappte sich der Beagle den Leckerbissen und verschlang ihn mit einem Happs.
„Kriegst du nicht genug zu fressen, Kleiner?“, fragte Emma und strich Socke über den Kopf. „Friss nur. Ich weiß, wo es noch mehr davon gibt.“
Henry starrte Emma empört an. So viel Frechheit machte sogar ihn sprachlos.
„Unsere Hunde bekommen ausreichend Fressen. Gesundes Fressen“, sagte Leni genervt. „Würstchen sind kein geeignetes Hundefutter.“
Emma sah bloß kurz auf und schüttelte den Kopf. Sie kraulte Socke und flüsterte in sein Schlappohr: „Dir schmecken meine Würstchen aber, stimmt’s, mein Schatz?“
Bevor Socke weiterfuttern konnte, mischte sich Paula ein und zog den sich sträubenden Beagle vom Zaun weg. „Du hast doch gehört, was Leni gesagt hat. Außerdem ist das Henrys Hund, also Henry ist sein Onkel. Du darfst doch nicht einfach fremde Hunde füttern!“
„Ich darf, was ich will“, erwiderte Emma trotzig.
Paula schoss ein Gedanke durch den Kopf. „Hast du das mit meinem Hund auch so gemacht? Hast du meinen Mogli weggelockt und entführt?“ Den letzten Satz rief sie laut und aufgeregt.
Emma ließ Socke los. „Spinnst du?“, fragte sie und stand auf. „Du redest wirklich Quark. Ich klaue doch keine Hunde!“ Sie war plötzlich krebsrot im Gesicht. „Hunde mögen mich und ich hab Hunde gern. Das ist alles.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Mit euch rede ich nicht mehr. Und eure doofen Hunde könnt ihr auch behalten.“ Sie rannte davon und drückte Luis die Dose mit den restlichen Würstchen in die Hand, bevor sie im Haus verschwand.
Luis sah ihr verblüfft hinterher.
„Da stimmt was nicht“, sagte Max. „Wetten, die weiß, wo Mogli ist?“ Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. „Hallo, Luis!“, rief er zu dem blonden Jungen hinüber. „Kannst du kurz herkommen?“
Luis verdrückte noch schnell das letzte Würstchen, bevor er an den Zaun schlenderte. „Was ist los?“, fragte er.
„Hallo, du heißt doch Luis, oder? Geht diese Emma in deine Klasse?“
Luis guckte misstrauisch. „Was geht dich das an? Willst du uns wegen der Würstchen verpetzen?“
Paula mischte sich sein. „Nein, eure Würstchen interessieren uns nicht. Mein Hund ist verschwunden. Er ist ein Terrier, ein Jack Russell, hat ein blaues Halsband und hört auf den Namen Mogli. Hast du ihn gesehen oder hat Emma ihn vielleicht bei euch im Kinderhaus versteckt?“
In diesem Moment tauchte Emma wieder im Hof auf. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und rief: „Luis, wo bleibst du denn? Es gibt roten Tee und Zuckerschnecken. Ich hab dir eine aufgehoben …“
Max packte Luis am Handgelenk. „Hör zu: Wenn diese Emma Paulas Mogli mitgenommen hat, dann ist das Diebstahl. Und du bist der Mitwisser.“
Luis schüttelte Max’ Hand ärgerlich ab. „Halt mal die Luft an. Emma ist meine Zwillingsschwester. Wenn du was wissen willst, frag sie selber.“ Er verzog sich eilig und verschwand mit Emma im Haus.
„Leute, worauf warten wir?“, rief Henry unternehmungslustig. „Die Luft ist rein. Zeit, sich mal etwas genauer umzuschauen!“
„Zwillinge?“, sagte Max verblüfft. „Die sehen sich aber gar nicht ähnlich.“
Leni zuckte mit den Schultern. „Ist doch egal. Los, Lotta, wir suchen jetzt Mogli … Wo ist dein Freund Mogli, Lotta?“ Sie holte den zerkauten Ball aus Paulas Rucksack und ließ Lotta daran schnuppern.
Der Golden Retriever trabte zu der Gartenpforte, sprang geschickt auf die Klinke und rannte auf das Gelände.
„Donnerwetter!“, rief Henry anerkennend und folgte Lotta.
Socke und Kiwi, die das mal wieder für ein neues Spiel hielten, sausten begeistert hinterher.
Tatsächlich spurtete Lotta am Schuppen vorbei und blieb vor einem alten Gebäude mit einem einzigen vergitterten Fenster stehen.