Lieber Verzweifelter,

so ein Schlamassel. Ich habe eine gute Freundin, Maria. Vor vielen Jahren machten sie und ihr Freund zusammen Ferien mit dem Rad. Es war ein glücklicher Sommer. Dann wollte sie Eis in der Waffel kaufen, eins für sich selbst und eins für Rasmus. Da stand sie vor dem Eiswagen und betrachtete die verschiedenen Sorten. Schoko, Vanille, Minze, Banane, sie war hin und her gerissen zwischen Schokostreuseln und bunten Streuseln. Sie sah den Eismann an. Und erstarrte. Da war etwas in seinen Augen, etwas in seinem Blick, und sie fingen an, miteinander zu reden. Vergessen waren Schokolade, Vanille, Minze und Banane, sie redeten einfach weiter, die Schlange wurde immer länger, der letzte Mann hinten am Strand bekam schon nasse Füße. Danach wusste Maria überhaupt nicht mehr, worüber sie geredet hatten, es war, als hätten ihre Gesichter ohne jede Sprache miteinander gesprochen, sie konnte sich nur an Geräusche und Lachen erinnern. Sie wanderte an der Ostsee entlang zum Campingplatz zurück, zutiefst verwirrt, zwei Eiswaffeln in den ausgestreckten Händen. Als sie bei Rasmus ankam, lief das Eis schon, er lächelte, na, das hat ja gedauert. Maria nickte, sie wollte nur noch weinen. Sie war bereit, sofort zum Eismann zurückzulaufen und mit ihrem Leben Tabula rasa zu machen. Eiströpfchen liefen Rasmus übers Kinn, Maria setzte sich auf eine Bank und aß ihr Eis in großen Bissen. Danach schickten sie Postkarten an ihre gemeinsamen Freunde und machten lachend Selfies. Ein paar Tage später fuhren sie nach Hause. Das ist jetzt elf Jahre her, Rasmus und Maria sind glücklich verheiratet und erwarten Zwillinge. Trotzdem taucht der Eismann immer wieder in Marias Gedanken auf. Nun soll es ja hier nicht um mich gehen und schon gar nicht um Maria, aber ich möchte dir gern begreiflich machen, jeder hat so einen Eismann. Unerwartet kann er auftauchen, in den verschiedensten Erscheinungsformen. Plötzlich steht er da, verkleidet als melancholischer Arzt, der dir in den Hals schaut, oder als Sommervertretung beim Gemüsehändler. Was darf’s sein, fragt er dich lächelnd, und du willst nur eine einzige Antwort geben: Alles. Lass mich deine schöne Seele sehen, schenk mir deine Dunkelheit. Du bist auf einer Insel gefangen, ringsum nichts als Wasser, du weißt, es handelt sich um eine Fata Morgana, um einen LSD-Trip, um einen unglaublich langen Joint. Trotzdem hast du das Gefühl, dir gleitet der Sommer durch die Finger, ein besonderes, magisches Eis, das niemals schmelzen sollte. Lieber Verzweifelter. Wir alle haben schon mal auf dem Heimweg nachts im Wind eine Telefonnummer verloren, wir alle haben schmerzhaft wie eine Ohrfeige das schlechte Timing verspürt. Manche von uns werden von Eismännern verfolgt, wir verstecken uns dann und warten, bis sie vorbeigezogen sind. Manchmal taucht die Liebe aus dem Nichts auf, das kann zwar unpraktisch sein, aber gefährlich ist es nicht. Im Gegensatz zum allgemein verbreiteten Glauben entstehen Situationen wie jetzt deine nicht durch Überdruss, sondern viel eher durch eine jubelnde Freude. Es ist Sommer, die Tage sind lang, die Nächte hell. Wir brauchen unsere Verliebtheit, und allermeist, wenn das Begehren mich wie ein Wolkenbruch trifft, wie ein unaufhaltsamer Wahnsinn, und ich egal wen lieben könnte, dann ist das ein verwirrter Ausdruck der Freude darüber, dass es die Welt gibt.

Herzlichen Gruß, der Kummerkasten