Liebe Freunde,

ich gebe als Allererste zu, dass mein Alter etwas Unschönes in mir hochkommen lässt, aber ich sehe es auch als Generationenproblem. Wir sind Opfer des freudlosen Rausches der Dreißiger, wir sind wie ein aufgewühltes Meer, Wellen, die blind der Strömung folgen. Ich hasse diese selbstgerechten Kleinfamilien, die überall wie Unkraut aus dem Boden schießen, diesen automatischen Jubel, diesen Triumph, der wie Laserstrahlen aus den Kinderwagen gen Himmel schießt. Das grässliche Holzspielzeug, den selbst gemachten Brokkolibrei, die Lieder, die wir singen. Ich hasse den verzweifelten Ernst in unseren Versuchen, alles richtig zu machen, was wir zum ersten Mal in unserem Leben tun. Gespielt haben wir das alles seit dem Kindergarten, und jetzt wiederholen wir es, mit der trotzigen Unschuld des Kindes und der erwachsenen Angst vor dem Scheitern. Wir beäugen einander, vergleichen uns unablässig, checken Arbeitsverhältnisse, Staatsfinanzen und das allgemeine Glücksniveau der Bevölkerung. Mit ungefähr sieben Monaten hatte mein Sohn eine Phase, in der er mich nicht aus den Augen lassen wollte, aus heiterem Himmel. Kennt ihr das, fragten mein Freund und ich ein befreundetes Paar. Nein, kannten sie nicht, sie hatten immer großen Wert darauf gelegt, dass das Kind mit beiden Elternteilen gleich eng verbunden war. Von Anfang an hatten sie ein großes Tamtam darum gemacht, dass die Mutter nicht die wichtigste Bezugsperson sein sollte, vielleicht lag es daran. Wie soll das gehen, dachte ich, wenn die Kinder achtzig Prozent ihrer Kindheit in Tagesstätten verbringen. Wir haben Glück, unsere Arbeit ist flexibel, sagte mein Freund, und wir brüsteten uns damit, wie früh unser Sohn zur Kita abgeholt wurde. Lange Vormittage, sagte ich, sind uns enorm wichtig. Ich weiß nicht mal, ob ich das wirklich denke, ich hatte immer große Probleme damit, mich zum Rausgehen aufzuraffen, ich weiß nur, dass ich glücklich sein wollte, und zwar glücklicher als die anderen. Die Tochter unserer Freunde schniefte ein bisschen. Sie hatte einen sehr schwierigen Start in der Kinderkrippe, sie war fast einen Monat lang unablässig krank, eine Infektion jagte die andere in beeindruckendem Tempo durch ihren kleinen Körper. Ist das nicht irre, sagte mein Freund, unser Sohn ist nie krank. Toi, toi, toi, sagte ich, und wir lächelten einander an. Keine Ahnung warum, aber wir sind aberwitzig stolz auf die Gesundheit unseres Sohnes. Stundenlang können wir darüber reden, wenn uns niemand unterbricht. Wahrscheinlich, weil wir uns nicht so hysterisch mit Dreck anstellen, sagen wir, nicht immer im Chor, aber zumindest nacheinander. Worauf die Anekdoten folgen, wie unser Sohn im Garten sitzt und Sand und Blätter frisst, und dass wir Bakterien ganz natürlich finden, und wie goldrichtig das sei, könne man ja sehen. Niemals krank, immer rote Wangen. Er ist ja auch ein zertifiziertes Naturkind, lachen wir beide schallend. Das Zusammensein mit unseren Freunden ist demütigend. Wir sind einander die besten Feinde geworden, ein Spiegel, in dem ich meine Frisur checke, sie sitzt immer ganz fürchterlich. Wenn unsere Lebensentscheidungen nicht vollkommen identisch sind, fühlen wir uns wie Angeklagte, am Essenstisch sitzt immer auch ein Gespenst aus Arroganz und Verunsicherung. Früher mal waren meine Freunde ein Raum, in den ich hineingehen und aus Herzenslust schreien konnte, jetzt imitieren wir Vertrautheit wie hirntote Papageien. Am Wochenende war ich bei meinem alten Deutschlehrer zum Abendessen eingeladen, es war sein fünfundvierzigster Geburtstag, und plötzlich erfüllte mich Hoffnung. Seid ihr nicht geschieden, fragten die Gäste, das solltet ihr bald mal nachholen. Ihre Augen strahlten, sie konnten nachts durchschlafen, sie hatten sich von ihren Träumen getrennt. Ihre Nestbauversuche hatten nicht weitergeführt als bis zu einem Schuppen im Garten, das hatte etwas Erotisches an sich. Liebe Freunde. Die einzigen Leute in den Dreißigern, die sich mit ihren Freunden wohlfühlen, gibt es in Fernsehserien, wir anderen müssen uns irgendwie durchschlagen, bis wir uns in den Vierzigern wiederbegegnen. Wir sehen uns auf der anderen Seite.

Herzlichen Gruß, der Kummerkasten