In Ringkøbing treffe ich mich mit Krisser, wir schieben beide unsere Kinderwagen durch die Fußgängerzone. Dem Gepäck nach zu urteilen, befinden wir uns auf einer Reise um die Welt. Nach nicht mal einem Jahr als Mutter besteht unser Vokabular größtenteils aus Substantiven für all das, was wir so mit uns herumschleppen. Zinksalbe, Wickeltasche, Babytrage, Sabberlätzchen, Babyalarm. Ich denke über den Sieg dieser zusammengesetzten Substantive nach, über ihre trostlose Eroberung der Sprache. Eine Invasion von Windeleimern, Feuchttüchern, Babywippen, Laufställchen und Nuckelfläschchen erobert unsere Wohnungen. Wörter, die ich zuvor noch nie in den Mund genommen hatte und die dort auch nicht hingehören. Ich muss an viel zu junge Mädchen beim ersten verwirrten Versuch eines Blowjobs denken, einer für alle Beteiligten unerfreulichen Prozedur. Krisser hält mir einen dampfenden Pappbecher hin. Sie schüttelt ungehalten den Kopf, ihr Gesicht drückt Widerwillen und Bedauern aus. Ist er schon wieder so scheußlich, frage ich, sie nickt. Krisser wandelt durch eine Welt, von der sie sich unablässig enttäuscht sieht, insgeheim liebe ich ihr unzufriedenes Gesicht. Die Augen werden zu zwei unheimlichen Spalten, ihr Kirschmund bewegt sich hilflos in der Luft. Sie sieht aus, als hätte man ihr eben Kot oder Erbrochenes vorgesetzt, den Ausfluss einer entzündeten Wunde oder gelbgrünen Herbstschnodder, nicht einen leider nur lauwarmen Caffè Latte. Ihre Tochter schaut betrübt unter ihrer grünen Kapuze hervor, ich streichele ihr die Wange. Krisser holt tief Luft, als wollte sie der Welt noch eine Chance geben, würde sich selbst aber zugleich für diese Dummheit verachten. Langsam normalisiert sich ihr Gesicht, und sie sieht wieder aus wie die hübsche Porzellanpuppe, die ich als Kind hatte. Krisser hat uns im Loop angemeldet, einem Sportstudio, das Zirkeltraining anbietet. Eigentlich hat sie es nicht so mit Sport und Gesundheit, aber sie findet, wir müssen wieder ins Gleis kommen. Als wir uns zum ersten Mal in der Geburtsvorbereitungsgruppe begegnet sind, starrten Krisser und ich uns an, als wären wir auf offener See ins Wasser geworfen worden, und stellten jetzt fest, dass da rund um uns herum noch andere nach Luft schnappend herumstrampelten. Wir aßen bergeweise Kleingebäck, das wie Munition vor uns angehäuft lag, wir brauchten nur zuzugreifen. Plunderteilchen, Berliner, Amerikaner, kalter Hund, Zimtschnecken, Liebesknochen, Rumkugeln. Wir unterhielten uns über Unterleibsdinge, verglichen unsere Schwangerschaftsstreifen, holten unsere Brüste raus und sagten, ’tschuldigung, ich tropfe. Mein Liebster war in der Volkshochschule, Karsten im Hotel, die Kinder schlugen die Augen auf und blickten uns erwartungsvoll an. Google meldete Bankrott und ließ uns mit einer Welt aus Körper allein. Unsere langen Gespräche ließen sich auf eine einfache, brennende Frage reduzieren: Ist das normal. Normal war das neue Schwarz, normal hieß, kannste abhaken, normal war eine Liane, an der man sich über einen Fluss mit verborgenen Krokodilen durch den Dschungel schwingen konnte. Wir wünschten uns durchschnittlich viel weinende Kinder, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig, und versuchten, die genaue Balance zwischen Kolik und taubstumm zu erwischen. Zwar wuchsen die Kinder unablässig, doch konnten wir uns nicht ernsthaft vorstellen, dass sie größer wurden, dass die Stillnächte irgendwann ein Ende haben würden. Dass sie sich eines Tages vom Teppich erheben und auf zwei Beinen gehen würden, dass sie Messer und Gabel in die Hand nehmen und Essen von einem Teller zum Mund führen, sich auf ein WC setzen und Klopapier benutzen würden. Wir waren in eine ewige Gegenwart eingeschmolzen, wir waren zu müde, um uns an ein Vorher zu erinnern oder an ein Nachher zu glauben. Die Flüssigkeiten schwappten zwischen uns hin und her, Milch, Schweiß und Tränen, die Stiche der Dammnaht juckten, die Brüste spannten. Wir waren Flitzebogen von Körpern, wir sogen Luft ein, und alles bebte, plötzlich atmeten wir aus, und unsere Konturen lösten sich gründlich auf. Restlos unvorbereitet hatte uns ein Universum voll munterer Motive und singender Teddybären verschluckt. Krisser war nicht glücklich, aber sie war lustig, und wir gingen Probleme auf dieselbe Weise an. Wie zwei Zahnräder, die verzweifelt ineinandergriffen, pumpten wir ab, und Krissers Schwiegervater fuhr uns in den Biergarten in Søndervig. Die Kellnerinnen dort waren angezogen wie deutsche Alpenmädel fürs Oktoberfest, und ihre Dekolletés waren überirdisch schön. Buggyschlafsackmilchpumpespieldecke, riefen wir, und diejenige, die sich bei dem Wort als erste verhaspelte, musste eine Runde ausgeben. Wir schilderten einander, wie wir gewesen waren, bevor wir Kinder bekamen, in unseren Anekdoten waren wir cooler und wilder als jemals in der Wirklichkeit. Du hättest mich mal sehen sollen, bevor ich schwanger wurde, sagte Krisser, echt schade, dass du dich mit den Resten begnügen musst. Ich kann sie zwar noch durch Risse in der Mutterschaft irgendwie erahnen, dennoch würde ich wünschen, wir hätten ein überzeugendes Erinnerungsarchiv, das wir zusammen durchgehen könnten. Manchmal fühle ich, dass ich sie in meiner Jugend vermisst habe, als gäbe es in meiner Vergangenheit ein kleines krisserförmiges Loch. Der fehlende Gast bei meinen Geburtstagspartys, der leere Sitz neben mir im Zug auf der Interrail-Tour. Wir hätten in Florenz Dart spielen, Spritz trinken und Rom unsicher machen sollen. Damals hätte ich den Landesjournalistenpreis kriegen und sie hätte Rocksängerin sein sollen, als wir immer noch daran glaubten, dass jederzeit alles passieren konnte, vor dieser plötzlichen Gegenwart, in der wir uns entdeckt hatten, mitten in der Wirklichkeit.