So, jetzt die Vorfahrtsregeln, sage ich mit einem Blick in mein Theoriebuch. Malte, eine Zigarette im Mund, streicht sorgsam seine Locken zurecht, bis sie scheinbar ganz zufällig so liegen. Ja und, er wirft den Zigarettenstummel auf den Boden und tritt ihn mit der Fußspitze aus, als der mitternachtsblaue BMW auf den Parkplatz einbiegt. Mona steigt aus dem Auto und sagt, Rauchen tötet, während sie sich eine Zigarette ansteckt. Malte grinst, ich strecke die Hand nach ihren blauen Camels aus. Nichts da, du hast ein Kind, sie schlägt mir auf die Hand. Mona gibt mir ein kleines Plastikauto, das sie für meinen Sohn gekauft hat. Wahrscheinlich macht der den Führerschein sowieso noch vor dir, sagt sie. Malte lacht laut und lange. Und los geht’s, sagt Mona und dirigiert mich Richtung Eisenbahnbrücke. Ich habe panische Angst vor entgegenkommenden Traktoren oder einem von Vestas’ vielen donnernden Lkw. Diese Brücke ist die schmalste Stelle in ganz Velling und so ungünstig gebogen, dass man andere Fahrzeuge erst fünf Meter vor der Stelle in der Mitte der Brücke sieht, wo man ihnen begegnet und an der zwei Pkw mit knapper Not aneinander vorbeipassen. Ich sage, ist doch ironisch, dass ich direkt an der gefährlichsten Stelle von ganz Velling wohne. Mona meint, wenn ich mir meine Katastrophenfantasien abgewöhnen würde, könnte ich es noch weit bringen. Und zehn Minuten später, als ich den Blinker setze und links abbiege, will sie wissen, warum ich jetzt so sauer dreinschaue. Weil sie hier die unbedingte Vorfahrt hätte beachten müssen, sagt Malte. Genau, sagt Mona, wir versuchen’s gleich noch mal. Sie räumt ein, dass diese Eigenheimviertel auch nicht unbedingt ein Kinderspiel sind, der Straßenverlauf kann relativ unklar sein. Aber trotzdem, sagt Mona, schalt mal das Hirn ein, Dolph. Malte lacht böse auf dem Rücksitz, ich biege Richtung Tændpibe ab, wo wir einen kurzen Blick auf ein Reh erhaschen, das gelassen zwischen ein paar Bäumen grast. Mona sagt, man dürfe Wild, das über die Straße setzt, auf keinen Fall ausweichen, das sei einfach zu gefährlich. Sie erzählt, wie ihr mal aus dem Nichts ein Rehbock vors Auto gesprungen ist. Er schaute ihr ruhig in die Augen, eine Sekunde danach hatte sie ihn auf dem Kühler. Das Geweih war gebrochen, sagt Mona, wisst ihr übrigens, dass Rehe vier Mägen haben. Ich schüttele den Kopf. Ja, sagt Malte. Mona sagt, sie hat dann alle vier gesehen, von innen. Ihre Scheibenwischer wischten das Blut hin und her, ein Wagen vom Falck-Dienst kam in Windeseile, um dem Reh den Gnadenschuss zu geben. Während sie in ihrem Auto darauf wartete, musste Mona die Schreie des Rehes mit anhören. Die Versicherung ist dann für alles aufgekommen, sagt sie, aber kein Mensch braucht ein aufgeschlitztes Reh auf der Netzhaut. Ich für meinen Teil weiß, dass ich von jetzt an überall imaginäre Rehe sehen werde. Rehe mit kleinen Kälbern, die es nicht nach Hause in den Wald zurückschaffen, und mein eigener Kopf knallt gegen die Windschutzscheibe. Ohne es zu bemerken, werde ich immer langsamer, ich stelle mir meinen mutterlosen Sohn vor, das arme Rehkitz. Zigarettenpause, ruft Mona, danach wechselt ihr. Wie alt bist du jetzt noch mal, fragt sie Malte. Er läuft knallrot an und muss lachen. Zwanzig, sage ich. Bist du stumm, fragt sie, Malte schüttelt den Kopf. Ist sie deine Bauchrednerin, Mona deutet auf mich. Nein, sagt Malte. Die Jugend umschwirrt ihn wie ein kleiner, hübscher Vogel. Wenn Mona etwas sagt, starrt er sie an, als ob die Worte für ihn sichtbar würden, und er nähme sie über die Augen war, nicht über die Ohren. Auf dem Heimweg zur Volkshochschule sitzt Malte hinter dem Steuer. Alles, worauf die Sonne scheint, gehört dir, flüstere ich ihm zu, die Landstraße liegt vor uns wie ein gestreifter Webteppich von Wand zu Wand. Er beißt sich auf die Lippen und wirft rasche Blicke in den Seitenspiegel. Gut, sagt Mona, du liegst gut auf der Straße. Malte errötet, als wollte er sich farblich der untergehenden Sonne anpassen.