Vor lauter Schlafentzug haben mein Freund und ich fast Halluzinationen. Fragt uns jemand, wie es uns geht, setzen wir mit weit aufgerissenen Augen zu einer relativ detailgenauen Schilderung der Nacht an. Egal, was gerade Thema ist, wir drehen es so, dass es nur noch um Schlaf geht. Kein Schlafmuster ähnelt dem anderen, sagt die Gesundheitspflegerin, als wir sie anrufen. Ich kann nicht mehr buchstabieren, auf einmal weiß ich nicht mal mehr, wie die einfachsten Wörter geschrieben werden. Wenn mein Sohn endlich schläft, träume ich, dass er aufwacht, und stürze mit Herzrasen an sein Gitterbettchen. Ich bewege mich wie eine Schlafwandlerin und schrecke beim geringsten Geräusch zusammen, da ich befürchte, dass die Welt über mir zusammenbricht. Ich wende mich ratsuchend an die Schulleiterin, sie hat zwei erwachsene Töchter. Wir wandern zwischen den Wiesen von Røde Bro umher, der Wind fährt uns durchs Haar. Sie sagt, damals war eine andere Zeit. Viele Schwangere rauchten, es gab keine Babyfone, Kinder gehörten einfach ganz natürlich zum Leben mit dazu. Abends stellte sie im Vortragssaal zwei Stühle zusammen, und auf denen schliefen die Mädchen dann zu den Klängen von Musik und Tanz. Das ist dreißig Jahre her, sage ich, vielleicht hast du irgendwelche Details vergessen. Nein, das glaubt die Schulleiterin nicht, sie hat seit jeher ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ich will wissen, ob sie denkt, dass die antiautoritäre Erziehung die neurotischen Kleinkindereltern hervorgebracht hat, die sie heute überall sieht. Die Schulleiterin sagt, jede Generation geht auf ihre eigene Weise mit den Dingen um, und so ist es ja auch richtig. Stell dir vor, wir würden in der Steinzeit leben, sage ich und wippe den Kinderwagen auf und ab, ich versuche, ihn über den unebenen Randstreifen zu rollen, damit er möglichst viel wackelt. Mein Sohn schließt kurz die Augen, reißt sie aber augenblicklich wieder auf, als ich zu wippen aufhöre. Die Schulleiterin sagt, dann wären mein Liebster und ich wahrscheinlich von unserem Stamm verlassen worden und würden allein dastehen mit einem kreischenden Kind, das die wilden Tiere anlockt. Vor ein paar Wochen hat sie uns zum Abendessen eingeladen, als die Schule von ein paar bildenden Künstlern aus Island Besuch bekam. Ihr Mann hat ein fünfgängiges Menü zubereitet und Kerzen hingestellt. Ich versuchte, eine Mascarabürste zwischen die Wimpern zu klemmen, mein Freund ging ins Bad. Unser Sohn saß lächelnd auf meinem Arm, deutlich von einem dekorativen Salat fasziniert. Ach, was ist er nur süß, sagte einer von den Gästen. Nein, sagten mein Freund und ich unisono. Das sollte wie verabredet wirken, aber ich glaube, wir waren beide überrascht, wie bitter es klang. Trotzdem konnten wir nicht aufhören. Machten Witze, von wegen ihn zur Adoption freizugeben oder ihm irgendwo in Velling eine nette Pflegefamilie zu suchen, wir lachten laut und schrill, das bemerkte ich durchaus, aber aufhören konnte ich nicht. Den ganzen Abend lang lenkten wir alle Themen auf Schlaf um, und das war gut, denn die Gäste interessierten sich sehr für sämtliche Aspekte der dänischen Gesellschaft. Nach einer längeren Abwägung, inwieweit unsere hellen Gardinen schuld sein könnten, eventuell auch Magen-Darm-Probleme, oder ob der Lärm von der Landstraße eine Rolle spielen mochte, fiel uns auf, dass alle verstummt waren. Wenn wir ihn wenigstens dazu bringen könnten, den Schnuller anzunehmen, murmelte mein Liebster. Stumme Ermattung lag über den sechs Gesichtern, die Schulleiterin goss Wein in hohe Gläser und bedachte ihre Gäste mit einem entschuldigenden Lächeln. Ich blickte meinem Liebsten in die Augen. In dieser Sekunde waren wir die einzigen Menschen auf der weiten Welt, aber es war nicht wie seinerzeit, als wir uns ineinander verliebten. Sondern da waren zwei Personen, denen im selben Moment auffiel, dass sie schwer krank waren und sie möglichst schnell eingesperrt gehörten, bevor sie andere anstecken konnten. Im Eingangsflur legten wir unseren Sohn in den Kinderwagen und falteten die Wickeltasche zusammen. Wir hörten, wie das Gespräch langsam wieder in Gang kam, und erst, als ich lautes Lachen hörte, fiel mir auf, dass in unserer Gegenwart kein Mensch mehr lachte. Die Gutenachtlieder hatten an jenem Abend einen aggressiven Beiklang, die Pulsfrequenz stieg, wir reichten uns unseren Sohn hin und her wie einen Pokal, den niemand so recht entgegennehmen will. Unser Gegoogel erreichte neue Gipfel der Verzweiflung, es fing an mit: Wie bringt man ein Kleinkind zum Schlafen, und endete lange nach Mitternacht mit: Wie früh sind Persönlichkeitsstörungen erkennbar. Wir tauschten offenherzig unsere Rachefantasien aus. Wie wir in sechzehn Jahren unseren Sohn mit großen Gongschlägen wecken würden, wenn er einen Rausch ausschlief. Wie wir im ganzen Haus Trompete spielen würden, nachdem er die ganze Nacht gegamt und Cheese Puffs gegessen hatte. In einem Aufblitzen reiner Bosheit wünschten wir ihm ein gesundes, schönes Kind, das nie schlief. Wenn er dereinst begreift, was er uns angetan hat, und anruft, um sich zu entschuldigen, werden wir tief Luft holen und sagen, oh, diese Nächte, das ist ja so lange her. Wir werden Großmut an den Tag legen, klarmachen, dass wir keinen Groll hegen, aber auch, dass wir uns ein ziemlich bequemes Alter wünschen würden. Häufige Besuche im Pflegeheim und Souvenirs von allen Reisen. Ein weiches Bett, wenn es soweit ist, leise Lieder und unbedingte Liebe, bis wir selber die Augen schließen.