Liebe Ratlose,

pass an Seen bloß gut auf. Irgendetwas Eigenes ist um das Wasser, um die Kreise, die sich auf Gespräche legen, wenn Leute lieber im Freien reden möchten. Seen verheißen Vertraulichkeit und Intimität, Seen verheißen die Lösung all deiner Probleme. Für mich persönlich bringen Seen allerdings Probleme, statt sie zu lösen, denn sie ziehen so Typen wie deine Freundin an. Nun soll es hier nicht um mich gehen, aber ich kann nachvollziehen, was du durchlebst. Ich hatte mal einen Freund namens Kasper. Er war recht sensibel und dachte viel über alles Mögliche nach. Wenn er sich per Telefon meldete und fragte, ob wir uns am Schwarzen Teich treffen sollten, wusste ich, was die Uhr geschlagen hatte. Seine Stimme hatte bisweilen einen ganz besonderen Klang, leicht klagende Töne auf einem resoluten Fundament. Dann konnte ich immer hören, dass er dieses Gespräch in seinem Kopf bereits durchgespielt hatte, mit wohlbedachten Pausen und genauestens vorformulierten Repliken. Es würde sicherlich um etwas gehen, was ich ein bisschen ungeschickt geäußert hatte, oder um eine persönliche Krise, deren Ausmaße ich nicht erkannt hatte. Ich will nicht behaupten, dass ich immer ganz unschuldig gewesen wäre. Wie die meisten postmodernen Menschen bin ich nur dann eine gute Freundin, wenn ich mich langweile oder jemanden brauche. Aber man muss schon sagen, Kasper war immer randvoll von Gefühlen. Er musste mit ihnen ins Freie wie mit einem Wurf unregierbarer Welpen, sie hingen an seiner Kleidung, sie wehten im Gehen hinter ihm her, und sie wüteten, wohin er auch kam. Sie gebärdeten sich wie eine wilde Straßengang aus Jugendlichen, hatten ungeschützten Sex, überfielen Ahnungslose und ließen ihre Opfer hilflos zurück. Manchmal versuchte ich, sie in ihrem Schwung zu bremsen. Entschuldige bitte, sagte ich dann. Entschuldige, dass ich beim Tod deines Onkels nicht für dich da war, ich hatte nicht gewusst, dass ihr euch so nah seid. Entschuldige bitte, dass ich das Buch belächelt habe, das du mir zum Geburtstag geschenkt hast, ich weiß, ich bin ein elitärer Snob, das war unsensibel von mir, entschuldige bitte. Liebe Ratlose. Schau zu, dass du auf deiner eigenen Bahn bleibst, schau zu, dass du dich von Seen fernhältst. Die Natur ist nicht neutral, sie hat einen Willen, und die dänischen Seen bestehen aus blauen Montagstränen voll Mascara und aufgelöstem Puder. Sie kokettieren mit ihrer Reinheit, damit, dass sie von der Welt unberührt wären, aber wir wissen ja genau, die meisten von ihnen sind künstlich angelegt worden. Die Natur bäumt sich noch einmal auf, der Erdball hustet zum letzten Mal, bevor er sich zum Sterben hinlegt. Natürlich kann man sentimental werden, wenn man die Flüchtigkeit des Lebens bedenkt. Man zieht auf den Seitenstreifen rüber. Man trinkt Rotwein, man hört Andrea Berg, entdeckt, dass man selbst gar nicht so schlecht singt, und fragt sich, ob sie vielleicht noch Backgroundsänger braucht. Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt, hab so oft mit dir gelacht und würd es wieder tun, singt man an einem Sommerabend am Lagerfeuer. Jemand spielt Gitarre, man hat Tränen in den Augen, weil man sich so verzeihungsbereit fühlt, und am Tag danach ruft man Kasper an. Er klingt fröhlich und spürt gern ein wenig nach, wie es ihm eigentlich geht. Dann drehen wir zusammen mit den anderen eine Runde. Wir schauen uns die Leute an, die sich begegnen und voneinander verabschieden, die Intrigen anzetteln und den Schaden wiedergutmachen. Wir atmen tief durch, die Schwäne schwimmen, die Sonne scheint, wir wissen, es gibt Wasser genug für alle und Worte, so weit das Auge reicht.

Herzlichen Gruß, der Kummerkasten