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5.

Von den
Beast Boys entführt

Mit Höchstgeschwindigkeit raste der HeroSpeeder fast einmal um die Welt. Zunächst ging die Reise weit nach Osten. In der Nähe der japanischen Hauptstadt Tokio setzte Cliff Hanger kurz zur Landung an. Ein schmächtiger Junge mit ernstem, aber entschlossenem Blick kam an Bord. Seine fast bläulichen Haare fielen ihm in Fransen ins Gesicht. Er trug eine ultracoole enge Jeans und einen dünnen weißen Pulli mit einem großen roten Kreis – die Fahne Japans. Fette Kopfhörer der teuersten Marke hingen um seinen Hals, ihr Kabel endete irgendwo in seiner Hosentasche, wahrscheinlich an einem ebenso wertvollen Smartphone. Auf der Schulter des Jungen hockte ein Gecko und ließ die Zunge ein- und ausfahren.

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„Ich bin Aiko“, sagte der Junge knapp und setzte sich. „Mein Gecko heißt Nelson. Ich war der Erste der Animal Heroes.“

Augenblicklich hob der HeroSpeeder wieder ab.

John rollte mit den Augen.

„Aiko, du alter Angeber!“, motzte er. „Musst du das immer so betonen? Der Erste ist noch lange nicht der Beste!“

Aiko stieß geräuschvoll die Luft aus. „Tsssä!“, machte er. „Wenn du schneller würdest, könntest du auch bald mit mir mithalten. Ich habe seit Langem alle Fähigkeiten von Nelson übernommen.“

Aiko schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren. Pepe konnte beobachten, wie der japanische Junge beinahe die Farbe seiner Umgebung annahm. Das Muster des Klappsitzes hinter ihm schien deutlich durch seinen Körper hindurch.

„Pöh!“, machte John und verschränkte die Arme vor der Brust. „Willst du wirklich, dass ich so aussehe wie Wesley?“

Aiko öffnete die Augen wieder. „Das wäre schon mal ein Anfang“, konterte er. „Aber du schwimmst und tauchst bloß. Das kann ich auch.“

John wollte aufstehen und Aiko an die Gurgel gehen, das erkannte Pepe genau. Doch die Sicherheitsgurte hielten den Australier zurück.

„Ruhe, Jungs!“, brüllte Cliff dazwischen. „Sonst schmeiße ich euch über dem Meer ab. Die Beast Boys haben Mojo entführt, da erwarte ich höchste Konzentration. Und Zusammenarbeit. Sonst könnt ihr eurem Freund schon mal ein Grab schaufeln!“

Sofort herrschte Stille an Bord. Nur das Surren der Rotorblätter war noch zu hören.

„War nicht so gemeint“, nuschelte Aiko schließlich. „Ohne zu atmen ewig unter Wasser bleiben kann ich nicht. Frieden?“ Er hielt John die Hand hin.

John ergriff sie. „Du hast ja recht“, gab er zu. „Wenigstens ein bisschen. Ich trainiere wirklich nicht genug. Nach einem Kilometer tauchen muss ich nach oben und Luft holen. Das muss Wesley nicht.“

Aiko war nun die Höflichkeit in Person. „Ich musste mich anfangs auch zwingen“, verriet er. „Die Fähigkeiten, die von alleine da waren, haben mir schon gereicht. Aber die waren natürlich nur der Anfang, wie ich heute weiß.“

Aiko drehte den Kopf und sah Pepe zum ersten Mal richtig an. „Und wer bist du?“, wollte er wissen.

Was sollte Pepe darauf antworten? Pepe? Falkenflügel? Der Neue?

„Ich bin der Letzte der Animal Heroes“, sagte er schließlich.

John brach sofort in lautes Lachen aus.

Aiko fühlte sich erst nicht ernst genommen, grinste dann aber auch. „Willkommen, Letzter“, erwiderte er. „Gerade erst verwandelt und schon eine große Klappe, das gefällt mir.“

Er nahm Nelson in seine Hand. Der Gecko hatte die ganze Zeit den Falken nicht aus seinen großen Augen gelassen.

„Keine Angst, mein Freund“, versuchte Aiko ihn zu beruhigen. „Horus weiß, was sich gehört. Einen von uns würde er niemals anknabbern.“

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„Seid ihr alle angeschnallt?“, rief Cliff nach hinten. „Wir landen in wenigen Minuten. Meine Weltkarte zeigt mir an, dass Mojo in ein Versteck in den Anden gebracht wurde, nach Peru, um genau zu sein. Euer Auftrag ist klar: Mojo aufspüren, befreien und in Sicherheit bringen.“

Pepe zog seinen Gurt enger. Aiko aber schnickte seine Hände nach vorne, als wollte er Fliegen verjagen. Aus seinen Ärmeln schossen Handschuhe mit starken Saugnäpfen heraus. Aiko streifte sie über und presste die Hände hinter sich an die Wand des Helis. Als Cliff eine scharfe Kurve flog, hob Aiko vom Sitz ab und hing waagerecht vor Pepe in der Luft.

Cliff Hanger warf einen Blick in den Rückspiegel. „Aiko, lass den Unsinn!“, bellte er scharf. „Eure Fähigkeiten dürfen nicht aus Eitelkeit benutzt werden, hast du das vergessen?“

Aiko zog sich in den Sitz und schnallte sich an. „Ich übe doch nur …“, protestierte er, aber nur ganz leise.

Drei Minuten später ging der HeroSpeeder zu Boden. Das Höhenmeter blieb auf über 4000 stehen, so viele Meter waren sie über dem Meeresspiegel. Sie mussten also hoch im Gebirge sein.

„Die Luft ist dünn hier in den Anden“, mahnte Cliff. „Also spart euren Atem, wo ihr nur könnt, sonst geht euch schnell die Puste aus.“

Die Tür des Helis öffnete sich. „Und jetzt raus mit euch! Wie lautet euer Motto?“

John und Aiko antworteten wie aus einem Mund: „Einer für alle, alle für einen!“

Pepe kannte den Spruch. Er war aus dem Buch Die drei Musketiere. Mit D’Artagnan waren sie auch vier gewesen, genau wie die Animal Heroes.

Aiko schnappte sich Nelson und setzte ihn auf seine Schulter, Horus flatterte von alleine ins Freie.

„Und Wesley?“, erkundigte Pepe sich.

John sprang aus dem Speeder. „Der kann durch die magische Verwandlung auch viel schneller schwimmen als ein normaler Rochen. In vier Stunden müsste er hier sein.“

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Pepe wunderte sich. „Und dann?“, hakte er nach. „Wesley kann doch nicht mit uns an Land kommen.“

John lachte. „Nein, soooo magisch ist er nun auch wieder nicht“, antwortete er. „Aber wenn er in der Nähe der Küste bleibt, kann ich mental mit ihm Verbindung aufnehmen. So klappt meine Verwandlung auch, falls wir meine Fähigkeiten hier oben irgendwie brauchen sollten.“

Pepe nickte und stieg aus. Draußen schlug ihm eisige Luft entgegen. Sie standen auf einer kleinen Ebene in den Bergen, ein Stück unter ihnen lag ein kleines Dorf. Irgendwo hier in der Nähe wurde Mojo gefangen gehalten, genauer konnte es auch Cliff auf seiner Karte nicht sehen. Der HeroSpeeder hob ab. Von jetzt an waren die drei Jungs auf sich allein gestellt. Auf sich und ihre Tiere.

Pepe wollte gleich losmarschieren, doch John hielt ihn zurück. „Die Beast Boys sind mit allen Wassern gewaschen“, warnte er. „Die wissen genau, dass wir kommen – das wollen die ja nur. Wir sollten ihnen nicht den Gefallen tun und ihnen gleich in die Arme laufen.“

Aiko hatte sich ein Stück von den beiden weg bewegt. Er stand vor einem fünf Meter hohen Felsen. Der Japaner legte seine Hände an den Stein und lief dann die nackte Wand empor. Schon war er oben. Das Ganze war schneller gegangen, als Pepe auf dem Boden vorwärtskrabbeln konnte.

„Der Fels ist hohl!“, zischte Aiko zu seinen Freunden herunter.

Pepe und John gingen ein paar Schritte. Tatsächlich! Der Fels sah aus, als hätte ihn ein Blitz gespalten. Die Lücke war so groß, dass sie auch zu dritt locker hineinpassten. Als Vogelgekreische erklang, packte John Pepe am Ärmel und zerrte ihn mit sich. Zu dritt quetschten sich die Animal Heroes durch den Spalt in den Fels. John und Pepe kauerten am Boden, Aiko hing in fünf Metern Höhe über ihren Köpfen und hielt Ausschau.

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„Das ist Corvus, die Krähe von Liam“, flüsterte er. „Sie ist genauso hinterhältig und listig wie er.“

Pepe verstand. Die Beast Boys hatten natürlich auch Tiere, deren Fähigkeiten sie übernahmen. Und Liam war wohl der, mit dem Pepe es in der Luft aufnehmen musste – wenn er es jemals schaffte, zu fliegen.

„Auf welche Tiere muss ich noch achten?“, fragte Pepe leise nach.

Johns Gesicht verzog sich sorgenvoll. „Auf Ignatius, den Skorpion von Phil, auf Morelia, die Python von Cooper, und auf Rialto, Tommasos Hai“, zählte er auf. „Wobei du hier oben sicher keine Haie auf der Weide treffen wirst.“

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Das Kreischen der Krähe schallte noch eine ganze Weile von den umliegenden Bergspitzen zu den drei Jungs herunter. Dann drehte Corvus ab, wie Aiko meldete. Der Erkundungsflug hatte scheinbar nichts ergeben. Sie waren unentdeckt geblieben. Aiko kletterte kopfüber zu den anderen beiden nach unten und hockte sich neben John.

„Wir haben ein Ass im Ärmel“, bemerkte dieser. „Einen Trumpf, mit dem sie nicht rechnen. Und das bist du, Falkenflügel.“

Pepe sah ihn verwundert an. „Ich?“

John nickte. „Uns beide kennen sie“, fügte er hinzu. „Mich glauben sie ausgeschaltet zu haben, weil wir so weit vom Meer entfernt sind. Sie bereiten sich also nur auf einen Angriff von Aiko vor. Dass ihnen auch Besuch aus der Luft bevorstehen könnte, davon haben sie nicht den blassesten Schimmer.“

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Aiko stupste Pepe an. „Wie viele Flugstunden hast du denn schon hinter dir?“, wollte er wissen. „Hundert? Zweihundert? Tausend?“

Pepe wurde rot. „Äh … null“, stammelte er. „Auch keine Minute und keine Sekunde. Ich bin noch gar nicht zum Fliegen gekommen. Kurz nach meiner Metamorphose hat Cliff Alarm geschlagen.“

Aiko war ehrlich geschockt.

„Shit!“, fluchte er. „Da haben wir also einen Frischling am Bein, na bravo! Es scheint mir, als wärst du eher der Trumpf der Beast Boys!“

Pepe war ruhig und bescheiden. Niemals führte er in der Klasse oder auf der Straße das große Wort. Wenn Schlägereien drohten, zog er sich immer zurück. Aber ein Feigling war er nicht. Und er hatte auch seinen Stolz. Also ging er in die Knie und presste Aiko seine Faust unters Kinn.

„Pass auf, mein Freund!“, drohte er. „Dein Hochmut geht allen hier auf die Nerven. Mojo kenne ich noch nicht, aber ich bin sicher, bei ihm ist es genauso. Du kannst ja deinen eigenen Klub aufmachen, wenn wir anderen dir zu schlecht sind. Sonst halt einfach die Klappe, okay?“

John klatschte. „Bravo, hätte ich nicht besser sagen können!“, höhnte er. „Mach doch die Aiko Heroes auf. Mitglieder nur du und du und du. Lauter Superhelden!“

Aiko wischte sich Pepes Faust aus dem Gesicht. „Idioten!“, knurrte er. „Ja, dann mache ich es eben alleine. Ihr bleibt hier und glotzt die Wände an. Ein Schwimmer ohne Wasser und ein Flieger ohne eine einzige Sekunde in der Luft. Aber keine Sorge, ich regle das schon! Ich sondiere die Lage, dann überlegen wir weiter. Komm, Nelson!“

Blitzschnell schlängelte er sich zusammen mit seinem Gecko den Fels empor, zog sich durch den Spalt nach draußen und war aus dem Blickfeld der anderen beiden verschwunden.

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Kurz darauf hörten sie einen dumpfen Aufprall auf dem Boden. Aiko war die fünf Meter einfach in die Tiefe gesprungen. Einem Geckojungen wie ihm machte das nichts aus.

„War das zu hart?“, erkundigte Pepe sich. „Sollen wir nicht lieber mit ihm gehen?“

John schüttelte den Kopf. „Das waren genau die richtigen Worte“, lobte er Pepe. „Der kriegt sich schon wieder ein. Aiko ist total gut, keine Frage, aber am besten ist er, wenn er vor Wut hellwach ist. Und das ist er jetzt. Perfekt!“ John gähnte. „Da wir gerade von hellwach reden. …“, schmatzte er so lässig wie eh und je, „… lass uns ein bisschen Augenpflege betreiben. Wir werden unsere Kräfte noch brauchen, das habe ich im Blut.“

John lehnte seinen Kopf an Pepes Schulter, zog sich den Hut über die Augen und drei Sekunden später schnarchte er los. Pepe nahm sich vor, wach zu bleiben. Aiko war schließlich ganz allein unterwegs. Vielleicht brauchte er doch noch Hilfe?

Irgendwann übermannte ihn aber doch die Müdigkeit und die Augen fielen ihm zu.

Und während diese beiden Animal Heroes schliefen, schwebte Aiko – im wahrsten Sinne des Wortes – in Lebensgefahr. Unter der Decke einer Hütte.