KAPITEL 2

BILDER DER VERGANGENHEIT

Vignette

Celeste

Die Fanfaren hallten in den Straßen von Solaris wider. Die Ankunft der fremden Gäste hatte sich wie ein Sturm verbreitet. Trotz der Anweisung des Königs, dass die Anhängerinnen zuerst zum Palast gebracht werden und dabei so wenig Aufsehen wie möglich erregen sollten, feierten die Menschen in den Straßen ihre Ankunft. Der Kronrat stand auf der Palasttreppe und wartete auf die Neuankömmlinge. Ganz vorn standen König Miro und Nathaniel, Celeste und die anderen beiden Priesterinnen in der Reihe dahinter.

Celeste wusste nicht, was sie von dieser Neuigkeit halten sollte. Dass es noch Anhänger der Mondgöttin gab, war nicht undenkbar. Manche Bewohner des Landes hatten die alten Sitten, Bräuche und Sagen nicht vergessen. Sie wussten noch, dass es ursprünglich vier Göttinnen gegeben hatte und war es noch so lange her. Aber ein weiteres Gotteskind? Eine neue Tochter des Mondes und das nach über hunderten von Jahren? Wie sollte das möglich sein?

Wenn sie ehrlich war, befürchtete Celeste, dass es sich dabei um eine List handelte. Ein Manöver ihrer Feinde. Das Königshaus war verwundbar. Sie hatten sich noch nicht von dem Überfall in Silvina erholt. Es wäre eine günstige Gelegenheit für die Atheos, jetzt zuzuschlagen.

Eine Hand schob sich in ihre. Celeste sah auf und starrte in Malias Gesicht. Die Haut der Priesterin war eingefallen und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Seit ihrer Ankunft in der Hauptstadt hatte Celeste kaum Zeit mit den anderen Priesterinnen verbracht. Zu sehr war sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen eingenommen gewesen. Da war kein Platz für weitere Sorgen. Doch in diesem Moment, in dem sie Malia betrachtete und ihr so nah war, verspürte sie nichts anderes als Sorge um ihre Freundin, die nicht mehr die schöne und starke Priesterin aus Sirena war. Malia sah unglücklich aus, niedergeschlagen und auf eine Art gebrochen, die Celeste den Atem raubte.

»Geht es dir gut?«, Celestes Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und sie spürte, wie sich die Schuldgefühle in ihr ausbreiteten, weil sie diese Frage erst jetzt stellte.

Malia nickte kaum merklich.

»Und dir?«, erklang ihre brüchige Stimme. Auch Celeste nickte. Dabei wusste sie, dass es weder ihr noch Malia gut ging. Sie hatten beide in den letzten Wochen zu viel erlebt. Manchmal wusste Celeste gar nicht mehr, wie sich Glück anfühlte, wenn sie an die Geschehnisse auf dem Gutshof zurückdachte. Und auch Malia musste es so ergehen. Sie hatte mitansehen müssen, wie man ihre Zofe misshandelte. Wie man ihr wehgetan hatte, sie geschlagen und geschändet hatte. Von allen Beteiligten hatte Nami am meisten mitgemacht. Den schlimmsten Schmerz erlebt, den eine Frau erleben konnte.

»Wird es besser?« Celeste musste nicht deutlicher werden. Malia wusste auch so, von wem sie sprach.

»Die Blessuren und Schrammen sind verheilt, aber sie spricht kaum. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr helfen soll. Ich wünschte, meine Heilkräfte wären nicht nur physischer Natur. König Miro hätte ihr helfen können, ich kann es nicht.«

Malia so voller Schmerz zu sehen, brach Celeste das Herz. Sie zog die dunkelhaarige Priesterin in ihre Arme und versuchte, ihr Trost zu spenden. Trost, den sie beide dringend brauchten.

»Mach dir keine Vorwürfe. Nichts von alldem ist deine Schuld. Du tust alles in deiner Macht Stehende, um ihr zu helfen. Nami braucht Zeit. Sie wird sprechen, wenn sie so weit ist.« Zumindest hoffte Celeste das. Aber was wusste sie schon? Niemand konnte den Zustand, in dem sich Nami befand, nachempfinden. Und niemand wusste, wie viel Zeit ins Land ziehen musste, damit solche Wunden heilten. Oder ob sie jemals heilten. Die einzige Person, die Nami hätte helfen können, hatte am Tag der Sonne ihre Kräfte verloren. In dem Moment, als Nathaniel berufen wurde. Miro war von Ilias mit der Gabe der Heilung beschenkt worden. Doch im Gegensatz zu Malia war der König in der Lage gewesen, seelische Wunden zu heilen. Nun blieb ihnen nur noch Linnéa. Durch eine Berührung war es ihr möglich, Namis Schmerzen nachzuempfinden und bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Celestes Blick huschte kurz zu Linnéa hinüber, die neben Malia stand und gebannt auf die Ankunft der Gäste wartete. Aber wenn Celeste ehrlich war, wollte sie nicht, dass die zarte, unschuldige Linnéa dieselben Ängste durchstehen musste wie Nami. Keiner sollte das müssen.

»Doch, das ist es. Man hat ihr meinetwegen all das angetan.«

Celeste hörte die Tränen in Malias Stimme, bevor sie sie in den braunen Augen schimmern sah. Sie drückte Malia fester an sich.

»Sag so was nicht. Du kannst nichts für das, was geschehen ist, also hör auf, dir das einzureden. Wir werden Nami helfen. Sie wird wieder ganz die Alte sein. Vertrau mir.« Auch Vertrauen war etwas, was sie in Zeiten wie diesen nur zu gut gebrauchen konnten.

Malia löste sich aus Celestes Armen und strich sich über die tränennassen Wangen.

»Heilige Göttin, da passiert einmal im Jahrhundert etwas Spannendes und ich schaffe es, gerade an diesem Tag wie ein gerupftes Huhn auszusehen.« Sie lächelte schwach und Celeste erwiderte das Lächeln. Es schien so, als bestünde immerhin die Hoffnung, dass auch Malia wieder die Alte werden könnte. Das waren gute Nachrichten. Ein Lächeln bedeutete Hoffnung.

»Selbst als gerupftes Huhn stellst du alle anderen in den Schatten.« Celeste strich Malia eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr. Die Locken waren etwas wirr, doch das schmälerte nicht im Mindesten Malias Schönheit.

»Welch wahre Worte. Und doch denkt Nate ganz anders darüber«, Malia zwinkerte ihr zu und Celeste schoss die Röte ins Gesicht. Die Tochter des Meeres lachte bei diesem Anblick.

»Ach, komm schon. Mir kannst du es doch sagen. Ich weiß sowieso nicht, warum wir diesen Unsinn noch fortsetzen sollen. Er hat sich doch schon längst entschieden.« Malia machte eine wegwerfende Handbewegung, doch diese Unbeschwertheit sprang nicht auf Celeste über. Sie spürte bei Malias Worten keine Erleichterung, weil sie ihre Zuversicht nicht teilte. Sie konnte es nicht. Denn egal, was Malia sagte, die Wahrheit war, dass Nathaniel noch bis zum nächsten April blieb, um seine finale Entscheidung zu treffen. Und es war gerade einmal August. In dieser Zeit konnte noch viel passieren.

In seiner Gegenwart verspürte Celeste so etwas wie Glück und Zufriedenheit, aber wer sagte, dass diese Gefühle von Dauer waren? Wenn sie eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann, dass sich alles jederzeit ändern konnte. Nichts im Leben war gewiss oder vorhersehbar und so etwas wie eine Garantie gab es nicht.

»Noch ist die Zeit des Reisens nicht vorbei.« Celeste schaffte es nicht, die Resignation aus ihrer Stimme zu verbannen.

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als eine schlichte Postkutsche auf den Schlosshof fuhr. Das gesamte Gefolge des Palastes schien den Atem anzuhalten. Voller Neugierde beobachteten alle Anwesenden das Fuhrwerk. Es wurde getuschelt und gemunkelt und keiner konnte es erwarten, dass sich die Türen der Kutsche öffneten.

Das tat dann endlich ein Diener und heraus trat eine Frau in einem schwarzen Gewand. Ihre dunkle Haut hob sich kaum von der Farbe des Kleides ab und die Kapuze verbarg einen Großteil ihrer dunklen Haare, die zu unzähligen Zöpfen geflochten waren. Doch das Auffälligste an ihr war die Bemalung ihres Gesichts. Über Stirn und Nase war ein roter Streifen gezogen und zwei weiße Halbmonde zierten ihre Schläfen. Ihre schwarzen Augen musterten die Menge und Celeste lief ein eisiger Schauer über den Rücken.

Die Frau trat einige Schritte zur Seite und gewährte so fünf weiteren Frauen den Ausstieg aus der Kutsche. Alle fünf waren in weiße Gewänder gehüllt, mit Kapuzen, die ihnen tief in die Stirn fielen.

König Miro trat vor, gefolgt von Espen, seinem Leibwächter, der die Neuankömmlinge nicht aus den Augen ließ. Seit dem Attentat war der Schutz der Gotteskinder verstärkt worden. Aber wenn Celeste ehrlich war, fühlte sie sich durch die Anwesenheit der Soldaten nicht sicherer. Viel eher erinnerten sie sie erst daran, dass sie sich in Gefahr befand. Und das an jedem einzelnen Tag.

»Herzlich willkommen in Solaris. Man sagte uns, Ihr wärt von Sohalia zu uns gekommen und die letzten verbliebenen Anhängerinnen der Mondgöttin Selinda.« Miro machte eine einladende Handbewegung und schenkte der Frau in schwarz ein von Herzen kommendes Lächeln. Doch sie erwiderte es nicht. Ihr Blick blieb hart und sie musterte den König abschätzig.

»Danke für die Gastfreundschaft. Im Gegensatz zu unseren Brüdern und Schwestern vom Festland haben wir die Göttin nicht vergessen.« Ihre Stimme war kehlig und rau. Der anklagende Ton in ihr war nicht zu überhören und ein Raunen ging durch das königliche Gefolge.

»Ich kann Euch versichern, dass auch wir Selinda nicht vergessen haben. Die Göttin wohnt in den Herzen eines jeden Bürgers von Sirion, ganz gleich, ob sie sich uns zeigt oder nicht. Ein Land vergisst nicht.«

Celeste verzog bei den Worten des Königs das Gesicht. Vielleicht dachte Miro wirklich, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen, doch sie galten nicht für die Bevölkerung des Landes. Die meisten Bewohner von Sirion hatten den Glauben an die Mondgöttin längst verloren. Viele Kinder wussten nicht einmal mehr, dass es sie gegeben hatte. Die bemalte Frau schien es wie Celeste zu sehen, denn ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich.

»Wenn Ihr das sagt, Majestät.«

»Seid Ihr die oberste Ordensschwester von Sohalia?«, wollte der König wissen.

Die bemalte Frau nickte.

»Mein Name ist Zahira, ich bin die Anführerin unseres kleinen Zirkels und diene Selinda bereits mein ganzes Leben.«

»Sagt mir, Zahira, wie kann es sein, dass kein Schiff und kein Rabe es bis nach Sohalia geschafft haben? Wie konnten wir den Kontakt zu Eurer Insel verlieren? Und warum habt Ihr den Kontakt zu uns nicht gesucht?« Die Stimme des Königs war weiterhin freundlich, doch das Misstrauen in ihr war deutlich herauszuhören. Es waren ein paar der Fragen, die sich jeder einzelne von ihnen stellte. Viele Jahre lang hatte man versucht, Sohalia und seine Bewohner zu erreichen. Doch jeder Versuch war gescheitert.

Zahiras Augen wurden schmal.

»Nur die Göttin allein entscheidet, wer seinen Fuß auf ihre Insel setzen darf. Sie ist die Herrscherin über die Gezeiten, wenn sie nicht will, dass jemand ihre Insel betritt, dann weiß sie dies zu verhindern.«

Celeste tauschte einen Blick mit Malia. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihr seltsam vor. Wenn die Göttin des Mondes wirklich verhinderte, dass die Insel betreten werden konnte und sich hunderte von Jahren niemandem gezeigt hatte, warum hatte sie dann ausgerechnet jetzt eine neue Tochter berufen und gab sich wieder zu erkennen?

Miro nickte.

»Ich verstehe. Und wie kommt es, dass Ihr nun hier seid? Was brachte Euch dazu, das Festland zu betreten?«

Zahira betrachtete alle Anwesenden der Reihe nach. Der Blick aus ihren schwarzen Augen blieb bei den Priesterinnen hängen. Sie legte den Kopf schief und musterte jede von ihnen eindringlich.

»Am Tag des Blutmondes sprach die Göttin zu uns und berief eine aus unseren Reihen als ihre neue Tochter. Es ist an der Zeit, dass der Mond auf die Erde zurückkehrt und seinen rechtmäßigen Platz einnimmt.« Sie deutete auf eine Frau in der Mitte der weißgekleideten Gestalten. Die Frau trat einige Schritte vor und stellte sich neben Zahira. Die Kapuze verdeckte ihr Gesicht, doch darunter schauten lange, schwarze Haare hervor, die ihr bis zur Taille reichten.

»Selinda ist bereit, an die Seite ihres Bruders und ihrer Schwestern zurückzukehren. Vergessen ist die Trauer und die Schuld. Die Gotteskinder sollen wieder gemeinsam über Sirion herrschen und seinem Volk mit Güte und Weisheit zur Seite stehen. Im Namen der Göttin Selinda, Herrscherin über Sohalia, verkünde ich Euch die Geburt der neuen Tochter des Mondes.«

Das Mädchen streifte die Kapuze ab. Die tintenschwarzen Haare umrandeten ein schneeweißes Gesicht. Und ein Blick aus eisblauen Augen schweifte umher. Sie verneigte sich vor König Miro.

»Majestät, mein Name ist Selena.«

Der König reichte ihr eine Hand und hauchte einen sanften Kuss auf ihren Handrücken.

»Es freut mich, Euch kennenzulernen, Kind. Sagt mir, ist es wahr? Wurdet Ihr von der Mondgöttin berufen?«

Das Mädchen tauschte einen kurzen Blick mit Zahira, bevor es den Umhang, der um ihre Schultern lag, zu Boden gleiten ließ. Das weiße Kleid darunter verhüllte ihre Gestalt kaum. Teile des Bauches waren frei und auch der Rücken war nicht von Stoff bedeckt. Das Mädchen nahm mit ihren Händen die schwarzen Haare nach vorn zusammen und drehte sich um.

Ein Raunen ging durch die Menge und vereinzelnd hörte man jemanden nach Luft schnappen. Zwischen den Schulterblättern prangte das Zeichen der Götter: eine geschwungene Triskele, die die Weltordnung von Sirion repräsentierte. Götter, Gotteskinder und Menschen. Ein unzerstörbares Band.

Als die junge Frau sich wieder umdrehte, verneigte Miro sich vor ihr.

»Es ist mir eine Ehre, Euch in Solaris willkommen heißen zu dürfen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was es für mich und dieses Land bedeutet, dass Selinda uns ihre Tochter geschickt hat.«

Mit einer Geste winkte Miro Celeste, Malia und Linnéa herbei, die daraufhin an seine Seite traten. Celeste betrachtete die junge Frau mit der schneeweißen Haut und den schwarzen Haaren. Doch die eisblauen Augen der Priesterin schienen sie nicht wahrzunehmen. Zu sehr waren sie von etwas anderem abgelenkt. Oder besser jemandem.

Selenas Blick lag einzig und allein auf Nathaniel. Und erst jetzt bemerkte Celeste, dass auch er sie mit großen Augen ansah. Er war blass geworden und sein ganzer Körper war angespannt. Er betrachtete Selena, als stünde ein Geist vor ihm, doch sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, das ihre eisblauen Augen strahlen ließ. Ihre Stimme erklang und erinnerte Celeste an ein Glockenspiel. Hell und melodisch. Und so einnehmend, dass Celeste ein Schauer über den Rücken lief.

Die Tochter des Mondes ging noch zwei Schritte auf Nathaniel zu, neigte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen.

»Es ist viel Zeit vergangen, aber es ist schön, dich wiederzusehen, Nathaniel.«

***

Nathaniel

Ihm blieben sämtliche Worte im Halse stecken. Nate traute seinen eigenen Augen nicht. Welches Spiel wurde hier gerade gespielt? Wie konnte das sein? Mit weitaufgerissenen Augen sah er die Frau vor sich an. Sie hatte sich nicht verändert. Die schwarzen Haare, die ihr über den Rücken flossen. Die helle Haut, die ihn an Schnee erinnerte, und die gletscherblauen Augen, mit denen sie jeden gefangen nahm. Wie lange war es her, dass er ihr gegenübergestanden hatte? Acht Jahre? Oder waren es doch schon zehn? Nate wusste es nicht. Die Erinnerung an sie und die gemeinsame Kindheit war mit der Zeit verblasst.

Er spürte, wie sich die Blicke der Anwesenden in seinen Rücken bohrten. Besonders ein Blick aus karamellfarbenen Augen. Dieser warme Ton, der das komplette Gegenteil zu Selenas blauen Augen war. Nate wollte das Wort ergreifen, wollte sie fragen, was sie hier tat und wie sie zu der geworden war, die sie vorgab zu sein. Doch er konnte nicht. Seine Kehle war trocken, sein Kopf leer. Alles, was er konnte, war, diese fremde und doch so vertraute Frau vor sich anzustarren.

Das Lächeln breitete sich weiter auf ihrem blassen Gesicht aus.

»Brich mir bitte nicht das Herz, indem du sagst, dass du dich nicht an mich erinnerst.« Ihre Stimme war so melodisch, wie er sie in Erinnerung hatte. Zart, sanft und doch einprägsam.

Hinter sich hörte er, wie jemand scharf die Luft einzog. Vermutlich Malia. Doch damit konnte sich Nate gerade nicht beschäftigen. Er konnte die Gefühle, die wie ein Sturm in ihm tobten, nicht in Worte fassen. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Und gleichzeitig gefror das Blut in seinen Adern zu Eis. Wie der erste Atemzug, wenn man zu lange unter Wasser gewesen ist. Und das alles gleichzeitig. Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt und stand nun in Form einer Frau vor ihm, die er bereits angefangen hatte, zu vergessen.

»Nathaniel?«, es war die Stimme von König Miro, die ihn aus seiner Starre befreite. Ein Ruck ging durch Nates Körper und völlig perplex sah er erst den König und dann wieder Selena an.

Sie legte den Kopf schief und zog eine der dunklen Augenbrauen nach oben. Das Lächeln lag noch immer auf ihren Lippen, doch ihm kam es so vor, als würde sie etwas in seinen Augen suchen, was sie nicht finden konnte. Und Nate wusste auch, was es war. Wiedersehensfreude.

Er räusperte sich und deutete eine Verbeugung an.

»Es ist uns eine Ehre, die Tochter des Mondes in Solaris willkommen heißen zu dürfen.« Seine Worte klangen genauso steif, wie er sich fühlte.

Gemurmel wurde hinter ihm lauter. Doch Nate ignorierte es. Auf diese Begegnung war er nicht vorbereitet gewesen. Und doch stand Selena vor ihm. Und sie war enttäuscht von ihm. Zum zweiten Mal in ihrem Leben konnte Nate ihr nicht das geben, was sie wollte und brauchte.

»Wie es scheint, hat es dem Prinzen die Sprache verschlagen«, sagte Lord Adrian und legte eine Hand auf Nates Schulter. Dankbar sah Nate zu dem Lord auf. Adrian sah ihn wissend an, obwohl sich Nate nicht vorstellen konnte, dass er auch nur die leiseste Ahnung hatte, was in diesem Moment in ihm vorging.

»Wie wäre es, wenn man der Priesterin und ihrem Gefolge die Zimmer zeigt? Anschließend werden die Gotteskinder zum Tee im Salon erwartet.« Lord Adrian war ganz der Diplomat und Nate war ihm in diesem Moment dankbar dafür. Von ihm hatte man erwartet, die Gäste zu begrüßen und er hatte auf ganzer Linie versagt. Sein Versagen hätte ihn ärgern sollen, aber das tat es nicht. Sein Ärger wurde von Erinnerungen überschattet, die ihm nun im Kopf herumschwirrten.

»Eine hervorragende Idee, Lord Adrian. Unsere Gäste sind von der langen Reise erschöpft und wollen sich bestimmt etwas frisch machen. Für Euch und Euer Gefolge wurden die Räumlichkeiten im Ostflügel hergerichtet, Mylady. Ein Bediensteter wird Euch später zum Salon geleiten.« Miro bot Selena seinen Arm an, den sie zögerlich ergriff. Jedoch nicht, ohne Nate noch einen undefinierbaren Blick zuzuwerfen. Sie waren die Ersten, die die Treppen zum Palast erklommen, dicht gefolgt von Lord Adrian, der Zahira den Weg wies. Die Ordensschwester hatte sich jedoch nicht bei ihm eingehakt, sondern lief allein ihrer Priesterin hinterher.

Ein kurzer Blick zur Seite eröffnete Nate, dass auch der Rest von Selenas Gefolge den Weg hinauf zum Palast eingeschlagen hatte. Linnéa und Malia lächelten die Neuankömmlinge an und überließen ihnen den Vortritt, um die Treppen hinauf in den Palast zu nehmen. Während Linnéa die Gäste ehrlich freundlich und unvoreingenommen ansah, musterte Malia sie mit Misstrauen im Blick. Auch Celeste versuchte sich an einem Lächeln, doch sie schien völlig abwesend zu sein. Als sie Nates Starren spürte, traf ihr Blick den seinen. Auch aus der Distanz konnte er die Verwirrung darin erkennen. Nate wusste, dass er mit ihr sprechen musste. Ihr sagen musste, warum diese fremde Frau seinen Namen kannte. Es war kein Geheimnis. Hatte es nie werden sollen. Warum auch? Nate hatte es nur nie für nötig gehalten, über das Mädchen aus seiner Kindheit zu sprechen.

Nachdem das Gefolge um die Mondtochter König Miro in den Palast gefolgt war, schlossen sich alle Übrigen an.

Schweigend lief Nate nun neben dem Rotschopf her und stieg die Treppen zum Palast hinauf. Sein Herz hämmerte noch immer in der Brust und ihm kam es vor, als würde er träumen. Ob es sich dabei um einen Albtraum handelte, konnte Nate noch nicht mit Gewissheit sagen. Aber er befürchtete es.

Auf den Fluren im Palast herrschte reges Treiben. Jeder Bedienstete und jedes Ordensmitglied wollten einen Blick auf die neue Tochter des Mondes erhaschen. Eine Position, die eigentlich nicht existieren dürfte. Die seit hunderten von Jahren nicht existiert hatte. Und doch wandelte gerade jetzt die Priesterin von Sohalia durch den solarischen Palast. Es war ein skurriles Bild. Selena ging neben Miro, als wäre der Platz an seiner Seite für sie bestimmt. Als wäre sie immer hier gewesen. Und doch passte sie nicht in dieses Leben. Zumindest nicht die Selena, die Nate gekannt hatte.

Sein Kopf wurde wieder klarer. Und unzählige Fragen lagen ihm auf der Zunge. Fragen, die er ihr am liebsten sofort gestellt hätte. Aber er riss sich zusammen. Jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Nate würde sich gedulden müssen, auch wenn Geduld nicht zu seinen Stärken zählte.

Bald darauf trafen sich die Gotteskinder, Selena begleitet von der Ordensschwester Zahira und ihrer Zofe Ayla, zum Tee im Salon. Doch von ausgelassener Stimmung, die sonst oft an diesem Ort herrschte, konnte dieses Mal nicht die Rede sein. Ein unangenehmes Schweigen beherrschte den Raum. Nate spürte den Blick aus gletscherblauen Augen auf sich ruhen.

König Miro räusperte sich.

»Ich muss gestehen, ich bin neugierig. Wie genau konnte Selena als Tochter des Mondes berufen werden?« Sein Blick wanderte zu der neuen Priesterin, die kerzengerade auf dem Sofa saß und irgendwie verloren wirkte. Das schneeweiße Kleid ließ ihr Gesicht noch fahler wirken. Das einzig Farbige an ihr waren die blauen Augen. Sie sah hilfesuchend zu Zahira hinüber. Der Salon war elegant und, wie Nate zugeben musste, absolut übertrieben eingerichtet. Viel Gold und Brokat. Zahira mit ihren dunklen Zöpfen, der Gesichtsbemalung, dem Nasenring und dem schwarzen Kleid wollte so gar nicht hierher passen. Und sie sah das wohl genauso. Sie hatte einen harten Zug um die Lippen und ihr Blick wirkte abschätzig, während sie die Anwesenden musterte. Bei der Frage des Königs wandte sie sich ihm zu.

»Wir haben schon sehr lange nach einer Möglichkeit gesucht, die Göttin davon zu überzeugen, erneut eine Tochter zu bestimmen. Aber alle Versuche waren vergebens. Bis die Schwestern Selena und Ayla vor einigen Jahren auf unsere Insel kamen. Sie waren die Ersten, die seit hunderten von Jahren einen Fuß auf Sohalia gesetzt haben, ohne von den Wellen verschlungen zu werden. Da wussten wir, dass die Göttin ihre schützende Hand über sie gehalten hatte.«

Sie verstummte und sah die Mondpriesterin von der Seite an. Nate wurde bei ihren Worten hellhörig. Es war seine Gabe, die ihn aufmerksam zuhören ließ. Irgendetwas an Zahiras Geschichte entsprach nicht der Wahrheit. Oder zumindest nicht vollständig. Doch was genau war es, auf das seine Gabe, Lügen aufzudecken, angesprungen war? Oder glaubte Zahira einfach ihren eigenen Worten nicht? Auch das wäre denkbar und würde das zaghafte Kribbeln in seinem Nacken erklären. Es war kaum spürbar, aber Nate vermutete zu wissen, was es bedeutete.

»Wir haben sie in den Orden aufgenommen und ausgebildet. Kurze Zeit später entdeckten wir in den Archiven Aufzeichnungen, die noch aus der Zeit stammten, als die Götter Sirion regiert hatten. Es handelte sich um ein Ritual, mit dem Selinda ihre erste Tochter erweckt haben soll. Dieser Fund glich einem Wunder und wir beschlossen, das Ritual am Blutmond, der nur alle 100 Jahre kommt, zu versuchen.«

»Und es hat funktioniert«, Miros Stimme war erfüllt von Staunen. Und auch Nate fand diese Geschichte erstaunlich. Fast schon unmöglich, um wahr zu sein. Doch so sehr er es auch versuchte, er konnte keine konkrete Lüge aus Zahiras Worten heraushören. Da war nur dieses leise Kribbeln im Nacken. Das hatte er noch nie gespürt. Wenn ihn jemand anlog, glich sein körperliches Gefühl einem Ziehen in der Brust und er wusste sofort, dass es sich um eine Lüge handelte. Doch dieses unbekannte Gefühl ließ ihn stutzig werden. Irgendwas war hier faul und er würde herausfinden, was es war.

»Ja.« Mehr sagte Zahira nicht. Stattdessen wanderte ihr Blick zu den anderen Priesterinnen. Sie musterte die Mädchen mit einem düsterten Ausdruck im Gesicht.

»Eine wirklich faszinierende Geschichte und es gleicht in der Tat einem Wunder. Ein Wunder, das gefeiert werden muss. Ich habe veranlasst, dass morgen im Palast ein Ball zu Ehren der Mondgöttin und ihrer Tochter veranstaltet wird. Es ist an der Zeit, dass ganz Sirion davon erfährt. Wir haben schwierige Zeiten hinter uns, geprägt von Trauer und Schmerz und nun kann das Land wieder hoffen. Dank Euch, meine Liebe.« Miro sah Selena freundlich an und schenkte ihr ein Lächeln, das die Falten um seine grauen Augen hervortreten ließ. Selena erwiderte das Lächeln zaghaft, doch Nate sah, dass es nicht ihre Augen erreichte. Er musste mit ihr sprechen. Und zwar sofort. Doch nicht in Anwesenheit all dieser Leute. Nicht unter den wachsamen Blicken von König Miro oder den misstrauischen von Malia. Und ganz bestimmt nicht, wenn Celeste dabei war.

»Wie wäre es, wenn ich der Priesterin die Gärten zeige?« Seine Stimme klang ungewöhnlich freundlich. Und selbst in seinen Ohren aufgesetzt. Alle Köpfe drehten sich zu Nate herum. Malia und Linnéa sahen ihn überrascht an. Miro wirkte über seinen Einsatz erleichtert. Doch die beiden heftigsten Reaktionen kamen von Selena und Celeste. Während sich auf dem Gesicht der einen ein strahlendes Lächeln ausbreitete, gefror das der anderen zu Stein. Nate biss sich auf die Zunge. Er würde dem Rotschopf später alles erklären, doch zuerst musste er mit Selena sprechen.

»Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee. Mit den drei anderen Priesterinnen konntest du immerhin schon reichlich Zeit verbringen. Da es nun aber eine Kandidatin mehr gibt, die deine Braut werden könnte, solltest du dich mit ihr vertraut machen.« Auf Miros Gesicht machte sich ein schelmisches Lächeln breit.

Nate verschluckte sich beinahe an seinem Tee. Er hatte bisher nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass nun auch Selena zu seinen Heiratsanwärterinnen gehörte. Wenn er ehrlich war, hatte er allgemein noch nicht viel über die Hochzeit nachgedacht. Ihm lag mehr daran, das Amt des Königs zu erlernen, um so der Bevölkerung ein guter Herrscher zu werden. Heiraten stand nicht besonders weit oben auf seiner Prioritätenliste.

»Es wäre mir eine Ehre, wenn der Prinz mich auf einen Spaziergang begleiten würde.« Die gletscherblauen Augen strahlten und eine leichte Röte überzog ihre Wangen und hauchte Selena Leben ein. Nate sah sie einfach nur an. Wenn sie so lächelte, kam es ihm vor, als stünde noch immer das kleine Mädchen vor ihm. Nicht diese junge Frau, die sich als Priesterin entpuppt hatte und die er nicht mehr kannte.

Er erhob sich und streckte Selena die Hand entgegen.

»Sollen wir?« Nate setzte sein charmantestes Lächeln auf. Ein Lächeln, mit dem er bisher jede Frau um den Finger wickeln konnte. Bis auf Celeste natürlich. Doch bei Selena schien es zu funktionieren. Sie stand auf und legte ihre schmale Hand in seine. Nate führte sie hinaus auf die Terrasse und die Stufen hinunter in die Gärten.

Er achtete genau darauf, dass sie außer Hörweite waren, bevor er stehen blieb und das Wort an sie richtete.

»Was tust du hier?«, fragte er barsch.

Sie sah ihn verwirrt an.

»Was meinst du?«

»Wieso bist du hier? Was soll dieses Gerede von Mondgöttin und Priesterin? Du hast nie an die Götter geglaubt. Also, was soll dieses Theater?« Seine Stimme war dunkel, beinahe aggressiv. Doch Selena ließ sich davon nicht abschrecken. Sie sah aus ihren blauen Augen zu ihm auf. Eine Ruhe lag darin, die Nate nicht von ihr kannte. Aber was machte er sich auch vor? Er kannte die Frau, die vor ihm stand, nicht. Er hatte das Mädchen gekannt, mit dem er aufgewachsen war. Doch nun war sie eine Fremde.

»Das ist kein Theater. Ich mag damals nicht an die Götter geglaubt haben. Im Gegensatz zu dir hat mich meine Mutter auch nicht in ihrem Glauben erzogen. Aber das hat sich geändert. Die Triskele auf meinem Rücken beweist das.«

Nate kniff die Augen zusammen. Keine Lüge, die reine Wahrheit kam aus ihrem Mund. Er musterte sie misstrauisch. »Wie kann das sein?«

»Ich weiß es nicht. Nachdem wir Samara vor all den Jahren verlassen hatten, sind wir viel umhergereist. Vor drei Jahren sind Ayla und ich auf ein Schiff gestiegen, das uns von Sirena nach Silvina bringen sollte. Doch ein Sturm kam auf und trieb uns hinaus aufs Meer. Das Schiff ist gekentert und keiner der Besatzung hat überlebt. Bis auf Ayla und mich. Wir sind an die Küste von Sohalia gespült worden, wo uns Zahira gefunden hat.«

Wieder konnte er keine Unwahrheit in ihrer Geschichte erkennen und sein Misstrauen ließ langsam nach. Selena wirkte noch immer erschüttert von den damaligen Ereignissen. Ihr Blick war abwesend, ihre Unterlippe zitterte. Sie sah aus wie jemand, dem die Sache wirklich nahe ging. Oder sie besaß ein großes Talent darin, andere Leute glauben zu lassen, was sie sie glauben lassen wollte. Das Mädchen von damals war eine schlechte Lügnerin gewesen. Doch vielleicht war die Frau von heute besser darin.

»Warum hast du zugestimmt, die Tochter des Mondes zu werden?« Nate konnte es nicht verstehen. Hätte man ihn gefragt, ob er berufen werden möchte, er hätte abgelehnt. Niemals hatte er ein Gotteskind sein wollen und auch, wenn er vieles heute anders sah, gab es immer noch einige Aspekte, die ihm an diesem Leben gründlich missfielen. Und doch hatte sich Selena freiwillig zu einem Ritual entschieden, um genau dieses Leben zu führen.

Sie schaute zu ihm auf. Nichts als Ehrlichkeit in ihrem Blick. Ein zartes Lächeln umspielte ihre geschwungenen Lippen.

»Warum musst du das fragen?«

Nate zog erstaunt eine Augenbraue nach oben. Selena stieß ein Seufzen aus.

»Als uns am Tag der Sonne verkündet wurde, dass Ilias einen neuen Sohn berufen hat, hätte ich niemals erwartet, dass du dieser Sohn bist. Wir wussten zwar, dass sein Auserwählter aus Samara stammt, aber wer hätte damit rechnen können, dass es ausgerechnet du bist?« Sie lachte. Melodisch hell. Wie ein Glockenspiel. Ein Geräusch, das Nate noch immer in seinen Träumen verfolgte. Bisher hatte er es nie einordnen können. Jetzt wusste er wieder, woher er diesen Klang kannte.

»Kurz nachdem wir erfahren hatten, wer der nächste König sein würde, fragte mich Zahira, ob ich dem Ritual zustimmen würde. Aber, wenn ich ehrlich bin, musste ich nicht einmal darüber nachdenken.« Sie überbrückte die wenigen Schritte, die sie trennten, und sah erwartungsvoll zu ihm auf. Nate wollte zurückweichen, doch er tat es nicht. Selena lächelte und griff nach seiner Hand. Ihre Finger waren kühl und ein Schauer lief ihm über den Rücken.

»Ich habe deinetwegen zugestimmt. Denn man muss eine Priesterin sein, um den zukünftigen König zu heiraten.«

***

Celeste

Celeste trommelte mit den Fingern auf der Sofalehne. Ihr Blick zuckte immer wieder zur Terrassentür, doch Nathaniel kam nicht zurück. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was war gerade geschehen? Sie verstand die Welt nicht mehr. Ihr Herz hatte einen Augenblick lang ausgesetzt, als diese fremde, schöne Frau Nathaniel mit Namen angesprochen hatte. Und ihm gesagt hatte, dass es schön sei, ihn wiederzusehen. Woher kannte sie ihn? Nate hatte von vielen Frauen gesprochen, die seinem Charme zum Opfer gefallen waren. Ob sie eine von ihnen war? Hatten die beiden eine gemeinsame Vergangenheit? Vielleicht eine gemeinsame Nacht? Allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um.

Sie war so in Gedanken versunken, abgelenkt durch die vielen Stimmen, die durcheinander sprachen, dass sie nicht mitbekam, wie jemand vor ihr zum Stehen kam. Ein leises Räuspern riss sie aus ihrer Trance und sie starrte in freundliche, graue Augen.

König Miro bot ihr eine Hand an, die Celeste ohne zu zögern ergriff.

»Geht ein Stück mit mir.« Er half ihr auf die Füße und trat mit ihr hinaus auf die Terrasse.

Ob sie es wollte oder nicht, ihr Blick wanderte sofort umher. Auf der Suche nach Nathaniel und Selena. Sie standen eng beieinander auf dem Kiesweg und unterhielten sich. Es war eine unschuldige Szene und doch versetzte sie Celeste einen Stich in die Brust. Ihr Misstrauen war in dem Moment geweckt worden, als diese fremde Frau seinen Namen ausgesprochen hatte. Sie wollte es nicht. Wollte der Eifersucht keinen Platz in ihrem Herzen gestatten, aber sie konnte nichts dagegen tun. Sie kroch an ihr empor wie Unkraut auf einer Wiese.

»Seltsame Dinge gehen hier vor, findet Ihr nicht?« Miros Stimme erinnerte Celeste immer an die eines liebevollen Großvaters. Sanft und voller Weisheit. Sie mochte es, mit dem König zu reden. Er war von Anfang an großzügig und zuvorkommend gewesen und bot ihr jede Unterstützung, die sie brauchte. Und er wusste ihre Talente zu würdigen. Das war der Grund, warum sie ihn als König verehrte. Miro war ein guter König. Gütig und gerecht. Ein König, wie sie hoffte, dass Nathaniel einer werden würde.

»Ja, sehr seltsame Dinge. Hätte mir heute Morgen jemand erzählt, dass wir zukünftig vier Priesterinnen von Sirion sein würden, ich hätte ihm niemals geglaubt.« Und selbst jetzt wollte sie diese Tatsache nicht glauben. Es war unwirklich. Nach all den Jahrhunderten wurde eine neue Mondtochter bestimmt. Einfach so. Und das ausgerechnet am Tage des Blutmondes, dem wohl schlimmsten Tag in Celestes Leben. Der Tag, an dem sie endgültig zur Waise geworden war. Da nahm Celeste wie durch einen Schleier wahr, dass König Miro etwas aus seiner Brusttasche hervorholte. Erstaunt blickte sie auf. Es war ein Stapel vergilbter, zusammengebundener Briefe. Diesen reichte er Celeste, die ihn schweigend entgegennahm.

»Ich möchte Euch etwas geben.«

»Was ist das?« Celeste betrachtete die Briefe verwundert. Auf allen Umschlägen stand in geschwungener Schrift der Name Miro. Ihre Augen weiteten sich und sie schaute zum König auf. Sein Blick jedoch war in die Ferne gerichtet und Celeste vermutete, dass er sich nicht geografisch von ihr entfernt hatte, sondern zeitlich.

»Es ist nicht fair, dass Ihr nicht die Chance hattet, Iolana kennenzulernen. Von ihr zu lernen und sie als Mentorin zu haben. Den anderen Priesterinnen war dieses Glück vergönnt, nur Euch nicht. Ihr musstet alle Pflichten und Herausforderungen immer allein meistern.« Er drehte sich zu ihr um und fuhr sich über den grauen Bart. Ein Schimmern lag in seinen Augen und Celeste war sich nicht sicher, ob es von Freude oder unvergossenen Tränen herrührte.

»Das sind alle Briefe, die Iolana mir jemals geschrieben hat, und ich möchte, dass Ihr sie bekommt. Versprecht mir nur, dass Ihr sie allein lest. Sie bedeuten mir viel und sind nicht für andere Augen bestimmt.«

Celeste sah verständnislos auf die Briefe in ihrer Hand und wieder zurück zum König.

»Aber warum? Was soll ich mit ihnen tun?«

Ein Lächeln breitete sich auf dem faltigen Gesicht aus. »Lest sie und lernt aus ihnen. Wir haben in der Vergangenheit Fehler gemacht, die nicht mehr zu ändern sind. Aber Ihr habt die Möglichkeit, aus unseren Fehlern zu lernen. Ihr beide.« Miro wandte sich von ihr ab und Celeste folgte seinem Blick zu der Stelle, an der Nathaniel und Selena standen.

Der König hatte ihr diese Briefe gegeben, weil er wusste, dass Nathaniel ihr etwas bedeutete. Die Frage war nur, ob Miro diese Gefühle befürwortete oder eben gerade nicht. Die Antwort hielt Celeste in diesem Moment in ihren Händen. Geschrieben auf vergilbtem Papier. Mit Tinte, die nach all den Jahren verblasst war. Worte, die geprägt waren von Liebe, Hoffnung und Schmerz. Und die nur darauf warteten, gelesen zu werden.