Celeste
Der Tag des Balls war gekommen. Im Handumdrehen hatte der Palast ein riesiges Fest zu Ehren der Mondgöttin und ihrer neuen Tochter organisiert. Der Spiegelsaal, der normalerweise im goldenen Glanz erstrahlte, war in weißes Licht getaucht. Silberne und weiße Banner zierten die Decken und Wände und die goldenen Kerzenleuchter waren durch silberne ersetzt worden. Ein großer Aufwand für ein großes Ereignis. Silberne Mondsicheln waren an den Wänden befestigt worden und hellblaue Wolken, beides aus Metall gefertigt, rundeten die verspielte Dekoration ab. Es war ein ungewohnter Anblick, den sonst so warmen Saal in kühlen Farben zu erleben, aber Celeste gefiel es.
Celeste fuhr über den hellgrauen Stoff ihres Kleides. Zarter Satin floss in Wellen ihren Körper hinab, an der Taille wurde das Kleid enger. Stickereien zierten das Oberteil sowie die weitgeschnittenen Trompetenärmel. Es war ein verhältnismäßig schlichtes Kleid, doch Celeste war auch nicht diejenige, der dieser Abend gewidmet war. Nicht sie stand heute im Mittelpunkt. Und doch hatte sie genau die Aufmerksamkeit, die sie haben wollte.
Nathaniel schritt durch die Menge auf sie zu. Ein Grinsen auf den vollen Lippen, das seine grünen Augen funkeln ließ. Er trug eine dunkelblaue Weste mit silbernen Verzierungen am Saum. Dass seine Kleidung auf die von Selena abgestimmt war, war kaum zu übersehen. Die Tochter des Mondes war in ein atemberaubendes, nachtblaues Kleid gehüllt. Durchzogen von silbernen Fäden und mit einem unverschämt tiefen Ausschnitt. Sie sah aus wie die Nacht persönlich. Geheimnisvoll und wunderschön. Obwohl Celeste diese Frau nicht kannte, begann sie, einen Groll gegen sie zu hegen.
»Darf ich um diesen Tanz bitten?« Nathaniel verneigte sich vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen.
»Solltest du den Eröffnungstanz nicht mit ihr tanzen? Das wäre dem Anlass entsprechender.« Sie wollte nicht anmaßend klingen, es war nur die Wahrheit.
»Eigentlich schon. Aber ich konnte Seine Majestät dazu überreden, dass ein Tanz mit dem König eine noch würdigere Art sei, den Ball zu eröffnen.«
Celeste schmunzelte. Nate war unverbesserlich. Und Miro offenbar auf ihrer Seite. Kopfschüttelnd nahm sie seine Hand und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche ziehen, wo König Miro und Selena bereits auf sie warteten. Die Einlassmusik verstummte und alle anwesenden Gäste waren um sie versammelt. Das Getuschel erstarb und jeder Blick war auf die Frau in dem mitternachtsblauen Kleid gerichtet.
»Meine Freunde, es ist schön, Euch alle wiederzusehen und das zu einem solch besonderen Anlass. Die Mondgöttin hat uns nach 250 Jahren endlich wieder eine Tochter geschickt. Die Göttin war in Vergessenheit geraten, die Insel Sohalia galt als verflucht. Doch diese Zeit ist nun vorbei.« Miro erhob seine Hand, als der Jubel im Saal losbrach. Er ergriff Selenas Hand, hauchte einen Kuss darauf und verneigte sich leicht vor ihr. Sie schenkte ihm ein schüchternes Lächeln.
»Darf ich Euch die neue Tochter des Mondes vorstellen? Priesterin von Sohalia, Auserwählte der Göttin Selinda und die neue Hoffnung unseres Landes: Selena.«
Der Beifall im Raum stieg an ins Unermessliche. Und auch Celeste lächelte und applaudierte. Es war ein großes Ereignis, mit dem niemand gerechnet hatte. Und das Land sowie alle Gotteskinder konnten dankbar sein, dass es wieder vier Priesterinnen gab und sich die Göttin des Mondes dazu entschieden hatte, sich den Menschen wieder zu öffnen. Je mehr Gotteskinder es gab, desto größer war ihre Macht und gleichzeitig die Verantwortung jedes einzelnen nicht mehr so erdrückend.
König Miro gab dem Orchester ein Zeichen und es stimmte die Melodie des Eröffnungstanzes an. Der König forderte Selena zum Tanzen auf. Nathaniel neben Celeste verneigte sich formell und sie tat es ihm gleich. Sie ergriff seine Hand und ließ sich von ihm in seine Arme ziehen. Etwas zu nah, als dass es für diesen Tanz vorgesehen war, aber Celeste störte es nicht. Ganz im Gegenteil.
»Ich nehme an, du hast einige Fragen.« Nates Lippen lagen über ihrem Ohr und sie spürte seinen Atem.
»Nur ungefähr ein Dutzend.« Und selbst das war noch untertrieben. Celeste lagen so viele Fragen auf der Zunge, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie flogen gemeinsam über das Parkett und so, wie es der Tanz wollte, drehte Nathaniel sie, sodass ihr Kleid sich aufbauschte. Es war ein schöner Tanz und ihr letzter war viel zu lange her. Als sie das letzte Mal so in seinen Armen gelegen hatte, waren nur Stunden später ihre schlimmsten Albträume wahrgeworden. Doch dieser Tag würde nicht so enden. Sie waren in Sicherheit, am Leben und die Atheos hatten sich zurückgezogen. Zumindest vorerst.
»Du darfst mir drei Fragen stellen.« Es war wieder dieses Spiel: drei Fragen. Nicht mehr und nicht weniger. Celeste schnaubte, was Nathaniel mit einem Lachen quittierte. Wie um Himmels Willen sollte sie sich auf drei Fragen beschränken? Ihr Blick wanderte zu Miro und Selena herüber, die neben ihnen tanzten. Der Blick der Priesterin lag auf Nathaniel und Celeste konnte nicht behaupten, dass ihr das gefiel.
»Zur Begrüßung sagte sie zu dir, es sei schön, dich wiederzusehen. Woher kennt ihr beide euch?« Sie würde wohl niemals Selenas Blick vergessen, als sie Nathaniel gegenübergestanden hatte. Dieses Leuchten in den eisblauen Augen und das strahlende Lächeln. Es war der Ausdruck einer verliebten Frau. Und da Celeste nicht an Liebe auf den ersten Blick glaubte, musste sich hinter diesem Lächeln eine Geschichte verbergen. Und sie brannte darauf, sie zu erfahren.
»Wir sind zusammen aufgewachsen. Unsere Mütter sind gemeinsam von Solaris nach Samara gezogen und wir haben nur wenige Häuser voneinander entfernt gelebt.«
Verdutzt schaute Celeste zu ihm auf. Sie hatte mit etwas weniger Unschuldigem gerechnet. Wenn sie ehrlich war, dann war sie vom Schlimmsten ausgegangen und die Erleichterung, dass Selena keine seiner Verflossenen war, konnte sie kaum verbergen.
»Dann ist sie keine von den Frauen, die deinem Charme erlagen?«
Sie konnte ein Grinsen nicht verbergen und Nathaniel warf ihr dafür einen tadelnden Blick zu.
»Du unterschätzt meine Wirkung auf Frauen noch immer. Schande über dich, Kätzchen. Aber wenn du wissen willst, ob wir etwas miteinander hatten, dann lautet die Antwort nein.«
Celeste war nicht dumm. Jeder Blinde konnte sehen, dass Selena etwas für Nathaniel empfand. Wenn sie ihn ansah, legte sich eine Röte auf ihre Wangen, ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und ihre Augen funkelten. Die typischen Anzeichen für Verliebtheit. Trotzdem fiel Celeste bei Nathaniels Worten ein Stein vom Herzen. Die Erleichterung, dass dieses Mädchen nicht mehr für ihn war als eine Bekanntschaft aus der Kindheit, beruhigte ihr pochendes Herz enorm.
»Ich werde jetzt so tun, als würde ich die Erleichterung auf deinem Gesicht nicht wahrnehmen.« Er schob sie in eine Drehung und zog sie anschließend wieder zu sich heran. Seine Mundwinkel waren nach oben gebogen. Celestes Wangen wurden heiß. Normalerweise hatte sie ihre Mimik perfekt unter Kontrolle, verborgen hinter hohen Mauern. Doch Nathaniel riss diese Mauern ein.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Ihre Stimme klang kratzig, was Nathaniel zum Lachen brachte.
»Rede dir das ruhig ein. Wir wissen beide, dass ich recht habe.«
Sie lächelte ihn schelmisch an. Es war so einfach mit ihm zu sprechen, mit ihm herumzualbern und die Welt zu vergessen. Wenn sie bei ihm war, existierten nur noch sie beide. Alles andere rückte in den Hintergrund.
»Du hast noch eine letzte Frage offen, Kätzchen. Wähle weise.« Nathaniels Lippen lagen wieder über ihrem Ohr. Ein Kribbeln breitete sich von der Stelle über ihren Körper aus und Celeste erschauderte. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf und sie musste ihre Lippen mit der Zunge benetzen, um sprechen zu können.
»Warum hast du nie von ihr erzählt?« Celeste war sich nicht sicher, ob das wirklich die Frage war, die sie ihm stellen wollte. In ihrem Kopf schwirrten bei weitem bessere herum. Aber es war die Frage, die ihren Mund zuerst verlassen hatte, ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätte, sie zurückzuhalten. Im Grunde wusste sie nicht einmal, warum sie ihn das fragte. Ausgerechnet das. Vielleicht beschäftigte es sie unbewusst, dass diese fremde Frau viel mehr in die Kindheitserinnerungen hineininterpretierte als Nathaniel. Oder aber sie befürchtete unterschwellig, dass Nathaniel ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Ein Teil ihres Herzens war ihm gegenüber noch immer misstrauisch. Und dieses Misstrauen konnte sie nicht von heute auf morgen abschalten. Er hatte ihr wehgetan. Sie angelogen. Und trotzdem hatte Celeste ihm eine zweite Chance gegeben. Und diese Entscheidung wollte sie unter keinen Umständen bereuen. Das würde ihr Herz nicht verkraften.
Obwohl sie tanzten, schaffte Nathaniel es, mit den Schultern zu zucken. Seine Mimik wirkte ehrlich, beinahe unbeschwert. »Habe es nicht für wichtig gehalten. Hör mal, Kätzchen, ich habe Selena seit acht Jahren oder länger nicht gesehen. Sie war mir wichtig, als wir noch Kinder waren, das stimmt und das werde ich auch nicht leugnen. Aber seien wir ehrlich: Ich kenne diese Frau doch gar nicht.«
Sie sah zu ihm auf und wartete auf eine Reaktion, die seine Worte Lügen strafte. Aber da war nichts. Erleichtert senkte Celeste den Blick und sah sich im Raum um. Bauschige Roben reihten sich aneinander. Kerzenlicht ließ den Saal erstrahlen. Es erinnerte sie an ihren allerersten Tanz mit Nathaniel. Und doch war seitdem so viel Zeit vergangen. Eine gefühlte Ewigkeit. Und so viel passiert.
Ihr Blick fing Simea ein, die neben Lord Adrian stand. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Celeste ihre Mentorin dabei, wie sie sich zu Adrian beugte und die Hand vor den Mund nahm. Sie waren zu weit von ihnen entfernt, um etwas zu verstehen, und doch bildete sich Celeste ein, das glockenhelle Lachen ihres Vormunds hören zu können. Genauso, wie sie meinte, die Röte auf Simeas Wangen und das Funkeln in ihren Augen sehen zu können. Erst da bemerkte sie, dass sie ihre Gabe benutzt hatte. Die Auren von Menschen lesen zu können, hatte seine Vorteile, ganz klar. Celeste konnte die unterschiedlichen Gefühle sehen, die um Simea und Adrian herumwirbelte. Gefühle des Glücks, der Freude und der Zuneigung.
»Ist dir auch aufgefallen, wie nah sich die beiden stehen?«
Überrascht sah Celeste zu Nathaniel auf. Der Blick aus seinen grünen Augen lag ebenfalls auf dem sich unterhaltenden Paar.
»Näher, als du vielleicht denkst.«
Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und Celeste spürte, wie ein Gefühl von Wärme sich in ihrer Brust ausbreitete. Die beiden Menschen, die ihr als Elternfiguren am nächsten standen, waren dabei, sich ineinander zu verlieben. Celeste konnte nicht mit Worten beschreiben, wie sehr sie sich darüber freute. Simea und Adrian hatten verdient, glücklich zu werden.
»Ich brauche deine Gabe nicht, um zu wissen, dass die beiden hoffnungslos ineinander verknallt sind«, stichelte Nate.
Obwohl sie es nicht wollte, fing Celeste doch an zu lachen. Es war unpassend, aber sie konnte nicht anders. Nathaniel stimmte in ihr Lachen mit ein. Sie spürte bereits neugierige Blicke im Rücken. Die Musik verstummte und der Saal applaudierte. Wie man es von ihr verlangte, verbeugte sich Celeste vor Nathaniel und sah unter ihren dunklen Wimpern zu ihm empor. Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht und er hob spielerisch eine Augenbraue, worauf Celeste lachend den Kopf schüttelte.
Ihr Lachen wurde im Keim erstickt, als jemand ihr auf die Schulter tippte. Celeste drehte sich irritiert um und fand sich Auge um Auge mit Selena wieder. Die eisblauen Augen musterten sie von oben bis unten. Doch nicht auf eine herablassende Art. Ihr Blick war vielmehr von Neugierde erfüllt.
»Darf ich ihn dir entführen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Selena auf Nathaniel zu. Dieser zog verblüfft eine Augenbraue nach oben und sah Celeste abwartend an. Etwas perplex stand diese mitten auf der Tanzfläche und sah in das Gesicht der fremden Frau. Sie schüttelte einmal ganz leicht den Kopf, um ihre Gedanken zu sortieren, und zwang sich dann ein Lächeln aufs Gesicht.
»Selbstverständlich.« Sie nickte Selena zu, warf noch einen letzten Blick zu Nathaniel, der seine neue Tanzpartnerin stirnrunzelnd betrachtete, bevor sie sich von der Tanzfläche entfernte.
Die Priesterin betrachtete das tanzende Paar und mit einem Kribbeln im Nacken versuchte sie, ihre göttliche Gabe zu benutzen. Verschiedene Farben schimmerten um die Gäste herum, fröhliche Farben, intensive Farben. Doch sowohl um Nathaniel als auch um Selena blieb es dunkel. Keine Aura war zu sehen und das Misstrauen in Celeste ließ etwas nach. Sie hatte bisher die Aura jedes Menschen sehen können, außer, es handelte sich um ein Gotteskind. Wenn Selenas Aura für sie verborgen blieb, musste das bedeuten, dass ihre Geschichte stimmte. Sie war die Tochter des Mondes. Keine Spionin der Atheos.
Celeste nickte zufrieden. Sie hatte ihre Fragen beantwortet bekommen und nun musste sie darauf vertrauen, dass Nathaniel die Wahrheit gesagt hatte. Celeste hoffte nur, dass auch Selena seine Ansicht teilte. Doch etwas in ihr bezweifelte das.
***
Nathaniel
»Gehst du ein Stück mit mir? Hier drinnen kann man sich so schlecht unterhalten«, sagte Selena leise. Nate war es nur recht, wenn er nicht zu einem weiteren Tanz gezwungen wurde. Er bot ihr seinen Arm an und führte sie durch die Menge hinaus auf die Terrasse. Die Blicke der Gäste verfolgten sie, bis sie den Saal hinter sich gelassen hatten.
Draußen empfing sie die warme Sommerluft. Obwohl es bereits später Abend war, waren am Horizont die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zu finden. Sie tauchte den Garten in ein warmes Orange. Nathaniel lehnte sich an die Brüstung der Terrasse und sah sich den Sonnenuntergang an. Manche hätten diesen Moment als romantisch empfunden. Ein Sonnenuntergang neben einer schönen Frau. Doch Nate war nicht romantisch und wenn es nach ihm ginge, stand die falsche Frau neben ihm.
»Was willst du?« Seine Stimme klang erschöpft. Seit ihrer Ankunft und dem Wiedersehen hatte Nate jedes Mal, wenn er ihren Blick auf sich gespürt hatte, Bedauern in ihren blauen gesehen. Er war es leid, diesen Ausdruck bei ihr zu sehen. Sie erwartete etwas von ihm, dass er ihr nicht geben konnte. Selena wartete auf den Jungen von damals. Einen Jungen, an den sich Nate kaum noch erinnern konnte.
Die gletscherblauen Augen wurden trüb. Selena fuhr sich über das glitzernde, dunkelblaue Kleid und sah betreten zu Boden. »Du scheinst dich nicht wirklich zu freuen, mich zu sehen.« Selbst in ihren Worten konnte er ein Bedauern hören und es lastete schwer auf seiner Brust. Er hasste es, die Menschen um sich herum zu enttäuschen und doch tat er nichts anderes.
»Und das wundert dich?«
Ihr Blick schoss zu ihm hoch. Die Augen vor Wut zusammengekniffen.
»Ja, wenn ich ehrlich bin, wundert mich das. Ich bin diejenige, die einen Grund hätte, dir aus dem Weg zu gehen. Nicht du. Ich.«
Und schon wieder hatte sie recht. Selena hatte allen Grund, sauer auf ihn zu sein. Er konnte das Ausmaß ihrer Enttäuschung über die Dinge, die er damals getan hatte, nicht einmal erahnen.
»Warum tust du es nicht?« Mit Wut konnte er umgehen, ebenso wie mit Ignoranz. Nur Enttäuschung und Mitleid bereiteten ihm Schwierigkeiten. Zorn war er seit seiner Zeit bei Mic gewöhnt, da hatte er nichts anderes gekannt. Mic hatte ihn gelehrt zu hassen und diesen Hass zu benutzen.
Verwirrung spiegelte sich in Selenas Augen. Sie trat einige Schritte von ihm weg und sah ihn verständnislos an.
»Warum sollte ich? Ich habe dir bereits vor Jahren verziehen. Vermutlich hätte ich an deiner Stelle sogar dasselbe getan.«
Nate schnaubte.
»Nein, hättest du nicht.« So war sie einfach nicht. Wenn Selena ein Versprechen gegeben hatte, dann hielt sie sich daran. Nicht so wie er. Er war feige gewesen – und verängstigt.
»Stimmt. Dann sag mir, warum du nicht gekommen bist. Warum bist du an diesem Tag nicht aufgetaucht? Ich hätte es verstanden, wenn du deine Meinung geändert hättest, aber du kamst nicht einmal, um dich zu verabschieden.«
Nate sah zu ihr hinab. Sie war größer als der Rotschopf und schlanker gebaut. Im Grunde hatte Selena sich nicht verändert. Er bemerkte das Schimmern in ihren Augen, die Tränen, die sich dahinter verbargen und er betete zu den Göttern, dass sie nicht anfangen würde zu weinen. Damit würde er nicht umgehen können.
»Ich war noch nie gut im Abschiednehmen. Und ich hatte in dieser Zeit weiß Gott genug davon.«
Er wollte nicht daran zurückdenken. Wollte sich nicht an den Tod seiner Mutter und die Trauer, die damit einherging, erinnern. Selena war damals ein Fels in der Brandung für ihn gewesen. Doch auch sie hatte ihn verlassen. Im Stich gelassen, weil Nate zu verängstigt gewesen war, sie zu begleiten.
»Du hättest all das hinter dir lassen können. Du hättest Ayla und mich begleiten können. Was hatte dir Samara nach alldem noch zu bieten?«
Als Selena und ihre Familie den Entschluss gefasst hatten, Samara zu verlassen, hatten sie ihm angeboten, sie zu begleiten. Nate hatte zugestimmt. Er hatte dieser Stadt den Rücken kehren wollen. Und doch hatte er in letzter Minute gekniffen. War zum vereinbarten Zeitpunkt nicht aufgetaucht und hatte Selena ohne ein Wort der Erklärung ziehen lassen. Wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, hätte er ihr das nie verziehen.
»Erinnerungen«, flüsterte Nate. Er hatte nicht riskieren wollen, seine Mutter zu vergessen. Alle seine Erinnerungen an sie waren mit Orten und Plätzen in Samara verknüpft. Ihr Duft, ihr Lächeln, selbst die Art und Weise, wie sie ihm liebevoll über den Kopf fuhr. Keine einzige Erinnerung davon hatte er vergessen wollen. Denn Vergessen war die schlimmste Art der Folter, sowohl für die Lebenden als auch für die Toten. Und das hatte er seiner Mutter, die so viel mehr verdient hatte, nicht antun wollen.
Selena nickte sacht. Sie schien sein Argument zu verstehen, auch wenn es in Nates Ohren wie eine Ausrede klang.
»Du scheinst dich an dein neues Leben gewöhnt zu haben. Hast sogar Freunde gefunden.«
Nathaniel folgte ihrem Blick, der auf den tanzenden Gästen im Saal ruhte. Er fand Celeste, die lachend mit Elio tanzte. Sie kreuzten den Weg mit Linnéa und Noah. Malia stand neben Kiah, sie tranken zusammen und diskutierten über irgendetwas. Ja, sie waren seine Freunde. Und nur zu gern würde er zu ihnen gehen, um den Abend mit ihnen zu verbringen. Mit ihnen konnte er für einen Moment seine dunkle Vergangenheit vergessen und das, was außerdem in ihm schlummerte. Er konnte sogar unbeschwert sein und mit ihnen lachen.
Sein Blick lag noch immer auf dem Treiben im Saal, ein Lächeln hatte sich auf seine Lippen gestohlen, als Selena seine Hand nahm. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen, so, wie sie es früher immer getan hatte. Nate sah auf ihre verschlungenen Hände hinab. Selenas Hände waren warm und vertraut, aber es waren nicht ihre Hände, die er halten wollte. Sein Blick huschte zurück zu Celeste, die sich kreisend auf der Tanzfläche bewegte. Ihr Lachen drang zu ihm nach draußen und Nate stimmte es froh, es endlich wieder zu hören.
Er wusste nicht, wo er mit Celeste stand. Sie brauchte Zeit, um die Begegnung mit ihrer Vergangenheit zu verarbeiten und diese Zeit wollte er ihr gewähren. Sie hatten nicht darüber gesprochen, was sie füreinander waren oder sein wollten, dennoch fühlte es sich für ihn bereits so an, als wäre sie die Seine. Wenn er die Augen schloss, war es Celestes Gesicht, dass er sah. Ihr Lächeln, die roten Locken und diese Augen, die ihn an flüssiges Karamell erinnerten.
»Sie versteht dich nicht so, wie ich es tue.«
Nate wusste sofort, dass Selena von Celeste sprach. Er hatte gesehen, mit welchen Blicken sie Celeste bedacht hatte. Sie waren voller Eifersucht. Selena drückte seine Hand und er schaute zu ihr hinunter. Ihre gletscherblauen Augen sahen erwartungsvoll zu ihm auf. Nate hatte sie so viele Jahre nicht gesehen, aber an ihre Augen würde er sich immer erinnern. Wenn er sie so ansah, dachte er an ihre gemeinsame Kindheit und all die Momente, die sie miteinander erlebt hatten. Doch diese Momente wurden durch die Erinnerung an den Tod seiner Mutter getrübt. Wenn er Selena ansah, sah er seine Mutter. Und sein Herz wurde mit Schmerz erfüllt. Die Zeiten der gemeinsamen und glücklichen Kindheit waren ein für alle Mal vorbei. Er hatte sich verändert, war erwachsen geworden. Den Nathaniel, den Selena kannte, gab es nicht mehr.
Als er keine Anstalten machte, auf sie zu reagieren, lächelte Selena traurig und wandte ihren Blick in die Ferne. »Jedes Mal, wenn ich mir den Sonnenuntergang ansehe, denke ich an dich. Erinnerst du dich an das Märchen, das du mir früher immer erzählt hast? Die Geschichte über die Sonne, die den Mond so sehr liebt, dass sie bereit ist, jede Nacht zu sterben, nur, um ihren Liebsten atmen zu lassen?«
Nate erstarrte. Er erinnerte sich an diese Legende. Eine Geschichte, die seine Mutter ihm erzählt hatte. Die Geschichte der Sonne und seiner Geliebten, des Mondes. Sie konnten nicht zeitgleich existierten, waren ihnen doch gegensätzliche Aufgaben vom Schicksal zugedacht worden. Es war eine romantische Legende, die nichts mit der Wahrheit zu tun hatte. Und nichts mit den Göttern. Diese kindliche Gutenachtgeschichte war nichts weiter als eine Geschichte.
Selenas melodische Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Doch ihre Worte ließen das Blut in seinen Adern zu Eis gefrieren.
»Inzwischen hege ich die Hoffnung, dass diese Geschichte doch wahr werden wird. Schließlich sind wir der Sohn der Sonne und die Tochter des Mondes.«