KAPITEL 4

EIN UNGEWÖHNLICHER JUNGE

Vignette

Iolana – vor 50 Jahren

Drei Tage hatte die Reise in die Hauptstadt gedauert. Drei lange Tage. Ihre Kutsche war wegen des starken Regens kaum vorangekommen und die Städte, in denen sie Rast gemacht hatten, waren schwer über den morastigen Boden erreichbar gewesen. Die Bewohner hatten hartnäckig gegen das eintretende Wasser gekämpft, aber langsam waren ihre Kräfte am Ende. Da kam die Unterstützung einer Priesterin genau im rechten Moment.

Nach elendigen Strapazen und harter Arbeit waren sie also endlich in Solaris angekommen. Iolana eilte zielstrebig in das ihr zugewiesene Zimmer. In den Gängen des Palastes tummelten sich die Bediensteten, jeder nickte ihr respektvoll zu. Der Palast war in heller Aufruhr wegen des abendlich stattfindenden Balles für den neuen Auserwählten. Iolana hätte diesen jungen Mann nur zu gern bereits kennengelernt, aber leider hatte der Sonnengott Ilias keinen Sohn aus Samara berufen. Stattdessen war seine Wahl auf einen jungen Mann aus Sirena gefallen. So viel wusste die Priesterin bereits, obwohl sie die Hauptstadt erst vor wenigen Augenblicken betreten hatte.

Und nun plagte sie die Neugierde. Wie war der neue Auserwählte, der eines Tages Sirion als König regieren würde? War er stattlich, vielleicht ein junger Soldat? Oder klug und strebte den Werdegang eines Gelehrten an? Iolana hätte so gern Antworten auf diese Fragen, aber zuerst musste sie König Ravi und Königin Soley ihre Aufwartung machen. Auch auf die anderen Priesterinnen war sie gespannt. Noch nie war sie ihnen persönlich begegnet. Nur per Briefverkehr hatte Iolana Kontakt zu ihren göttlichen Schwestern gehabt. Es war an der Zeit, das zu ändern.

Iolana lief in Richtung Thronsaal, als ihr eine Hofdame der Königin entgegenkam und sie schüchtern anlächelte.

»Mylady, die Majestäten sowie die anderen Priesterinnen erwarten Euch im Rosengarten. Darf ich Euch den Weg zeigen?«, die Dienerin knickste tief und Iolana neigte dankbar den Kopf.

»Sehr gern, ich danke dir.«

Sie kannte sich in Solaris nicht aus, war sie doch bisher erst ein einziges Mal hier gewesen. Und selbst dieser Besuch lag Jahre zurück. König Ravi hielt es für unnötig, dass die Priesterinnen ihre Provinzen verließen, sollten sie doch ausschließlich für ihr eigenes Volk zuständig sein. Iolana teilte diese Meinung nicht, jedoch stand es nicht in ihrer Macht, dem König zu widersprechen. Sie hoffte nur, dass sein Nachfolger aufgeschlossener sein würde als Ravi, ein Mann, der behauptete, sein Volk zu kennen, obwohl er selbst ebenfalls nur höchst selten die Hauptstadt verließ.

Die Gänge des Palastes zogen an ihnen vorüber, ohne dass Iolana sie wirklich registrierte. Der ganze Prunk und das viele Gold entsprachen nicht ihrem Geschmack und so bereitete es ihr keine besondere Freude, die vielen Verzierungen zu betrachten. Der Weg hinaus in die Gärten war von hellen Pflastersteinen bedeckt. Links und rechts des Weges erstreckten sich satte Grünanlagen, dazwischen exotische Blumen und Sträucher. Hohe Bäume, wie Iolana sie noch nie zuvor gesehen hatte, spendeten vereinzelt Schatten. So viel Grün kannte sie nicht aus Samara. Sie war die Berge gewohnt, ihre schneebedeckten Gipfel und die eisigen Gletscher. Und das trübe Land, das um Samara lebte. Alle Pflanzen und Blumen hier waren ihr neu. Selbst vom Weg aus konnte sie die Düfte wahrnehmen. Es war himmlisch. Am liebsten hätte sie innegehalten, um an jeder einzelnen Blume zu riechen. Doch es schickte sich nicht, den König warten zu lassen.

Als sie eine Brücke überquerten, die über einen kleinen See hinüberführte, entdeckte Iolana eine Bewegung im Wasser. Bunte Fische schwammen unter ihnen hindurch und jagten durch das kühle Nass. Fasziniert beobachtete die Priesterin die Tiere. Solch schillernde Farben hatte sie noch nie gesehen. In Samara gab es so etwas nicht. Die einzigen Farben, die sie zur Genüge kannte, waren die, die die Sonne und der Himmel zusammen malten. Die Sonnenaufgänge und -untergänge in Samara galten seit jeher als die schönsten und intensivsten im ganzen Land. Und Iolana konnte diese Ansicht nur teilen.

Ein Plätschern und ein leiser Fluch rissen die Priesterin aus ihren Gedanken. Irritiert hielt sie nach der Quelle Ausschau und entdeckte einen jungen Mann. Er stand knietief in dem Teich, seine Hosenbeine waren hochgerempelt. Am Ufer lagen zwei Netze und ein Eimer. Mit schräggelegtem Kopf musterte die Priesterin den Mann. Es sah komisch aus, wie er dort im Wasser stand und versuchte, einen der Fische mit bloßen Händen zu fangen. Irritiert musterte die Priesterin die Netze, die der Mann offenbar nicht verwenden wollte. Wüsste Iolana nicht, dass der Palast nicht freizugänglich und sehr stark bewacht war, würde sie meinen, der Mann versuche, die Fische zu stehlen. Doch das war Irrsinn.

»Was tut Ihr da?«, Iolanas helle Stimme schallte zu dem jungen Mann hinüber, der gerade tatsächlich erfolgreich einen der bunten Fische mit den Händen gefangen hatte. Von ihrer Stimme aufgeschreckt, ließ er den Fisch zurück ins Wasser fallen. Er blickte zu ihr auf und Iolana schaute in graue Augen, die sie neugierig musterten.

»Ich beobachte das Verhalten der Fische, Mylady.« Seine Stimme war freundlich, doch bei seinen Worten zog Iolana eine Augenbraue hoch.

»Wenn Ihr sie nur beobachtet, warum versucht Ihr dann, einen von ihnen zu fangen?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Jungen misstrauisch. Eigentlich konnte man ihn gar nicht mehr als Jungen bezeichnen, denn ein Bartschatten zierte Kinn und Wangen. Doch in seinen grauen Augen lag noch die Unschuld eines Kindes. Er hatte dunkle Haare, die sich an den Enden leicht lockten. Seine Statur war groß und seine Schultern breiter als die jener Männer, die sonst in den Diensten des Königs arbeiteten.

Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus und entblößte strahlend weiße Zähne. Er sah amüsiert aus und er fuhr sich mit den nassen Händen durch das dunkle Haar.

»Da mögt Ihr recht haben, Priesterin, eigentlich gibt es für mich keinen Grund, knietief im Wasser zu stehen und diesen Fischen nachzujagen.«

Iolanas Mundwinkel zuckten bei seiner Antwort.

»Warum tut Ihr es dann?«, sie war neugierig, wie sie sich selbst eingestehen musste. Dieser Junge hatte irgendetwas an sich, das sie faszinierte. Vergessen waren der König und die Priesterinnen. Und auch die Hofdame, die mit etwas Abstand neben ihr stand, rückte in den Hintergrund.

Der junge Mann stieß ein nervöses Lachen aus.

»Ihr würdet mich für verrückt halten, wenn ich Euch den Grund verriete.«

Iolana schaute amüsiert zu Boden und benetzte ihre Lippen, dann hob sie ihren Blick und sah ihn scherzhaft an.

»Das tue ich bereits. Ihr habt also nichts zu verlieren.«

Die grauen Augen des Mannes leuchteten auf und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ihn schien diese Unterhaltung ebenso zu erfreuen wie Iolana. Sie hatte bisher nur selten und wenige Worte mit Hofangestellten gesprochen. Gerade in Solaris hatte sie dazu bisher kaum Gelegenheit gehabt. Aber auch in Samara kannte sie nicht alle Namen ihrer Bediensteten. Doch dieser Mann amüsierte sie zunehmend.

»Wenn das so ist, Mylady. Ich wollte mir diese Kois aus der Nähe ansehen. Solche Fische gibt es dort, wo ich herkomme, nicht.«

Irritiert sah Iolana ihn an.

»Kois?«

Der junge Mann lachte leise und deutete hinunter auf das Wasser.

»Ich spreche von den Karpfen. Seht ihr die großen Fische mit dem weiß-orangefarbenen Muster? Das sind Kois.«

Iolana folgte seiner Handbewegung und entdeckte fünf Fische, die langsam durchs Wasser glitten.

»Sind diese Fische denn so selten, dass Ihr extra ins Wasser steigt, um sie aus nächster Nähe zu sehen?«

Es ging hier immerhin nur um Fische. Iolana konnte seine Neugierde kaum nachvollziehen. Doch gerade das war es, was sie an dem Mann so faszinierte. Dieser nickte.

»Sie sind nicht nur selten, sondern auch sehr wertvoll.«

»Ach, wirklich?«, tat sie erstaunt, obwohl sie das eher weniger überraschte. Wenn es seltene und kostbare Fische gab, dann konnte man davon ausgehen, dass König Ravi sie besaß. Alles, was auch nur ansatzweise wertvoll war, musste der König in seinen Besitz bringen.

»Ihr dürft mir glauben. Daher mein Interesse.«

Er lächelte sie an und Iolana konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Ihre Mundwinkel hoben sich wie von selbst und sie schaute rasch verlegen zur Seite.

»Aber ich denke, ich sollte den Teich nun doch langsam verlassen.«

Iolana unterdrückte ein Lachen.

»Und ich denke, dass das auch den Fischen lieber wäre.«

Der Mann watete durchs Wasser, zurück zum Ufer. Als er gerade den Teich verlassen wollte, rutschte er jedoch aus und landete bäuchlings im Wasser. Iolana schrie erschrocken auf und rannte über die Brücke zu ihm ans Ufer.

»Braucht Ihr Hilfe?«, sie streckte ihm bereits ihre Hand entgegen, doch der Mann sah sie nur überrascht an. Sein Lächeln wurde breiter und er schüttelte den Kopf.

»Ihr würdet Euch nur schmutzig machen, Mylady. Und das schöne Kleid soll unter keinen Umständen unter meiner Tollpatschigkeit leiden.«

Iolana merkte, wie ihre Wangen heiß wurden. Er hatte ihr ein Kompliment gemacht. So etwas war sie nicht gewohnt. Die wenigsten Männer brachten in ihrer Gegenwart auch nur ansatzweise einen vollständigen Satz heraus. Und wenn sie es taten, ging es um politische Angelegenheiten.

»Es ist nur ein Kleid«, sie hielt ihre Hand weiter ausgestreckt, die der Jüngling schmunzelnd betrachtete, bevor er sie doch ergriff. Seine Hände waren kalt vom Teichwasser und Iolana konnte Schwielen an ihnen fühlen. Er musste wohl hart arbeiten, wenn seine Finger so rau waren. Mit einem Ruck half sie ihm aus dem Teich. Wasser schwappte dabei über ihr Kleid, doch es gab nichts, was Iolana gerade weniger wichtig war.

»Habt vielen Dank, Mylady.«

Die grauen Augen des jungen Mannes ruhten auf ihr und seine vollen Lippen hielten noch immer ein Lächeln. Iolana starrte ihn an. In seinem Gesicht lag eine Freundlichkeit, die sie magisch anzuziehen schien.

»Gern geschehen«, brachte sie gerade so über die Lippen, ihr Blick noch immer in seinem Grau versunken.

Ein Räuspern war hinter ihr zu hören und Iolana drehte sich ertappt um. Die Hofdame stand noch immer auf der Brücke und sah verlegen zu ihnen hinüber. Iolana biss sich auf die Lippe. Sie hatte das Treffen mit dem König vollkommen vergessen. Gerade wollte sie sich von dem jungen Mann verabschieden, um ihren Pflichten nachzukommen, als die Hofdame das Wort ergriff.

»Lady Iolana, darf ich Euch vorstellen? Miro, Sohn der Sonne und zukünftiger König von Sirion.«

Iolanas Augen weiteten sich vor Schreck und sie starrte in das Gesicht des Jünglings, über dessen Wangen sich nun eine leichte Röte zog. Er sah verlegen zur Seite. Dann aber hob er den Blick und sah Iolana in die Augen, verneigte sich vor ihr und griff nach ihrer Hand.

»Nennt mich Miro, Lady Iolana. Es ist mir eine Ehre, Euch kennenzulernen.« Seine Stimme jagte Iolana einen Schauer über den Rücken, doch der war nichts im Vergleich zu dem Gefühl seiner Lippen auf ihrem Handrücken, als er einen zaghaften Kuss darauf hauchte.