Nathaniel
»Du siehst müde aus.«
Nate hob den Blick und schaute in das belustigte Gesicht des Königs. Miro hatte ihn schon früh zu sich gerufen, da war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen. Eindeutig keine Zeit, zu der Nate normalerweise auf den Beinen war. Und nun musste er sich zusammenreißen, um nicht im Sitzen einzuschlafen, während der König einige Unterlagen durchging.
»Es war eine lange Nacht.«
Mit der Hand fuhr er sich über die müden Augen. Er hatte sich nicht einmal die Haare gemacht. Die dunkelblonden Strähnen standen wild von seinem Kopf ab.
Miro nickte wissend:
»Ich habe deine lange Unterhaltung mit der Mondtochter mitbekommen. Ebenso wie dein plötzliches Verschwinden im Anschluss.«
Nate unterdrückte ein Stöhnen. Natürlich hatte man ihn und Selena beobachtet. Nach ihrem Geständnis am vergangenen Abend hatte er zugesehen, dass er Land gewann. Sie hatte ihm deutlich gesagt, was sie von ihm wollte, und Nate damit vollkommen überrumpelt. Niemals hatte er damit gerechnet, dass ihre Gefühle von damals noch immer präsent sein könnten. Immerhin war das Jahre her – sie waren noch Kinder gewesen.
»Ich wollte den Ball nicht verlassen, aber ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
»Worüber? Was hat dir unser unerwarteter Gast erzählt, dass du die Flucht ergreifen musstest?« Miro bettete sein Gesicht auf den Händen und schaute Nate mit seinen grauen Augen abwartend an. Doch Nate sah das verräterische Funkeln darin. Sein Dilemma bereitete dem König gute Laune.
»Ich kenne sie von früher.«
Ein kehliges Lachen erfüllte den Raum und Miro lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Darauf wäre niemand gekommen.« Mit einer Handbewegung gab er Nate zu verstehen, weiterzusprechen.
Nate seufzte.
»Wir sind zusammen aufgewachsen, bis sie Samara verlassen hat. Und gestern beichtet sie mir aus heiterem Himmel, dass sie hoffe, dass ich mich für sie entscheiden würde.«
König Miro legte den Kopf schief, doch um seine Mundwinkel zuckte es.
»Da weiß jemand, was er will. Eine Eigenschaft, die ich durchaus zu schätzen weiß.«
Nate zog eine Augenbraue nach oben.
»Sie kennt mich doch gar nicht mehr. Warum will sie so unbedingt, dass ich mich für sie entscheide? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Der König nickte verständnisvoll.
»Wahrscheinlich hofft sie, dass du noch immer der Junge von damals bist.«
Grübelnd schaute Nate zur Seite. Genau da lag das Problem. Selena glaubte wirklich, dass sich nichts zwischen ihnen geändert hatte. Aber alles hatte sich verändert.
»Das bin ich aber nicht mehr.«
»Ich weiß das und du weißt das. Gib ihr Zeit, es ebenfalls herauszufinden und den Mann kennenzulernen, der du geworden bist. Vielleicht hat sich auch gar nicht so viel zwischen euch geändert, wie du derzeit glaubst.«
Nate blickte in das Gesicht des alten Mannes. Tiefe Falten umspielten seine Augen. Das graue Haar war zurückgekämmt, keine Krone saß darauf. Nur die grauen Augen des Königs verrieten, dass sich hinter dem Gesicht eines alten Mannes ein junger Geist versteckte. Ein junger, aber sehr weiser Geist, wie Nate zugeben musste.
»Mag sein, aber …«, Nate biss sich auf die Unterlippe. Was aber? Wenn er nur daran dachte, sich Selena zu nähern, die Verbindung von damals wiederherzustellen, sträubte sich alles in ihm.
»Du hast kein Interesse, dich ihr gegenüber erneut zu öffnen. Habe ich recht?«, vermutete der König.
Nate nickte. Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und Selena war Teil dieser Vergangenheit. Ihr Auftreten am Hof missfiel ihm ungemein. Und dazu noch ihre gestrige Aussage. Sie brachte ihn vollkommen aus dem Konzept. Gerade, als er geglaubt hatte, endlich seinen Platz gefunden zu haben.
»Liegt es daran, dass du mit deiner Vergangenheit, von der sie ein wichtiger Teil war, abgeschlossen hast oder daran, dass du dich für jemand anderen interessierst? Eine schöne Rothaarige zum Beispiel?« König Miro grinste und Nate schüttelte lachend den Kopf. Dieser Mann besaß einen solchen Überblick, dass es Nate manchmal ängstigte. Miro sah viel mehr, als er zugab.
»Ein bisschen von beidem, würde ich sagen.«
»Verstehe. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist noch nicht gekommen und auch Selena gehört zu deinen potenziellen Bräuten. Gib ihr eine Chance.«
Nate kniff die Augen zusammen.
»Ich war davon ausgegangen, dass Ihr insgeheim Celeste favorisiert.« Und vermutlich hinter verschlossenen Türen eine Menge Geld auf sie gesetzt habt, fügte Nate in Gedanken hinzu. Ihm war bewusst, dass bereits Wetten liefen, für welche der Priesterinnen er sich entscheiden würde.
Miros Augen weiteten sich, dann stieß er ein herzhaftes Lachen aus.
»Da magst du recht haben, aber du solltest alle Optionen genauestens prüfen. Vergeude keine vorschnell.«
»Sprecht Ihr aus eigener Erfahrung?« Aufmerksam beobachte Nate den König. Er wollte mehr über diese mysteriöse Frau erfahren, die seinerzeit das Herz des Königs gewonnen hatte. Miro sprach nie von ihr und Nate nahm darum an, dass die Erinnerungen an sie zu schmerzhaft für den König waren.
»So ist es.« Miros Stimme nahm einen Klang an, den Nate nicht eindeutig bestimmen konnte. Melancholie vielleicht?
»Findet Ihr nicht, es ist höchste Zeit, dass Ihr mir die Geschichte erzählt?«
Der König sah auf und betrachtete Nate einen Augenblick lang stumm, bevor er langsam nickte.
»Zwei Menschen können dafür bestimmt sein, sich zu finden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie dafür bestimmt sind, zusammen zu sein.«
Nate hörte deutlich die Erinnerungen aus Miros Worten sprechen. Erinnerungen an eine Frau, die er aufrichtig geliebt hatte und die doch nie die Seine wurde.
»Hat sie Eure Liebe nicht erwidert?«
Miro schaute auf, in seinen Augen lag ein trauriges Lächeln. »Doch, das hat sie. Mit vollem Herzen. Doch die Pflicht kam uns in den Weg. Du musst wissen, die Pflicht ist der Tod der Liebe.«
Verunsichert rutschte Nate auf seinem Stuhl hin und her. Er konnte den Worten des Königs nicht folgen. Hatte er sich in eine Frau verliebt, die er nicht lieben durfte? Oder was meinte er mit »Pflicht«?
»Wer war sie?«, Nate wollte endlich den Namen dieser Frau erfahren, die so viel Leid in das Leben eines Mannes gebracht hatte, der für ihn zum Vorbild geworden war.
Doch Miro schüttelte den Kopf.
»Das spielt keine Rolle. Wenn die Zeit reif ist, wirst du es erfahren. Celeste kann dir dabei helfen. Sie hält den Schlüssel dazu in ihren Händen, auch wenn sie es noch nicht weiß.«
Nate fühlte sich noch ahnungsloser als vorher. Er musste mit Celeste reden, so sehr quälte ihn die Neugier, was in Miros jungen Jahren geschehen war. Welche Frau sein Herz berührt und es dann so achtlos gebrochen hatte.
»Was genau war es, dass Euch daran gehindert hat, diese Liebe auszuleben?«
Miro seufzte schwer. Sein Blick wanderte unruhig durch den Raum.
»Sie hat immer geglaubt zu wissen, was das Beste für mich ist. Aber sie hat nie verstanden, dass sie das Beste für mich war. Die Einzige, die ich jemals wollte.«
Nate lehnte sich wieder zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Noch nie hatte er Miro so gesehen, auf eine bestimmte Art gebrochen. Die Liebe schien ihm plötzlich als die stärkste Macht auf Erden, denn nur sie war in der Lage, Menschen wahrhaftig zu brechen. Kein Wunder, dass Nate bisher kein Interesse an ihr gehabt hatte. Liebe war gefährlich. Auch für ihn.
»Wieso habt Ihr es ihr nicht gesagt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Um es kurz zu machen: Den richtigen Moment dafür habe ich verpasst.«
Nate nickte und sein Blick glitt zum Fenster, wo die Sonne gerade über den Dächern der Stadt aufging.
»Wird es nun immer so sein? Ich verlasse die Stadt und zuvor gebt Ihr mir weise Ratschläge mit auf den Weg?«
In wenigen Stunden würde Nate in einer Kutsche nach Sirena sitzen. Die Reise musste weitergehen, denn ihr Plan, die Atheos aus ihren Löchern zu locken, wollte in die Tat umgesetzt werden.
König Miro lächelte.
»Ob diese Ratschläge so weise sind, weiß ich nicht, aber ich gebe mein Bestes.«
Auf Nates Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
»Ja, wir werden sehen.«
»Sei vorsichtig, Nathaniel. Die Atheos sind noch nicht besiegt und wir wissen bisher nicht genau, wer Freund und wer alles Feind ist. Doch du hast in Sirena eine Aufgabe zu erfüllen, die weit entfernt von Krieg und Strategie liegt, vergiss das nicht.«
Nate schnaubte.
»Als Prinz dieses Landes ist es meine Aufgabe, das Volk zu beschützen und jene zur Rechenschaft zu ziehen, die diesem Schutz im Weg stehen.«
Der König schüttelte langsam den Kopf.
»Das ist die Aufgabe des Königs, überlass das also mir. Deine Aufgabe beinhaltet vier wunderschöne Frauen und die Entscheidung deines Lebens. Konzentriere dich darauf.«
Wenn Nate ehrlich war, würde er sich lieber mit den Atheos herumschlagen, als dieser Aufgabe nachzukommen. Vier Frauen gleichzeitig zu unterhalten, klang in den Ohren anderer Männer vielleicht nach einer Menge Spaß, aber die hatten keine Ahnung, was für eine Bürde auf einem lastete, wenn es bei allem am Ende darum ging, eine zukünftige Königin auszuwählen. Zudem hatten diese vier Priesterinnen alle ihren eigenen Kopf und ließen sich von nichts und niemandem etwas sagen. Die Zeit in Sirena versprach wirklich außerordentlich unterhaltsam zu werden. Nate vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte.
***
Malia
Knapp drei Monate war es her, dass sie ihre Heimat das letzte Mal gesehen hatte. Dementsprechend schnell schlug Malias Herz, als sie den steinernen Pfad hinauf zum sirenischen Palast fuhren. An einer Landspitze ragte das Gebäude über den Klippen auf. Hellgrüne Ziegel, marmorne Säulen und Rundbögen. Der schönste Platz auf Erden, wenn man Malia fragte. Aus ihrem Zimmer hatte sie direkten Blick aufs Meer, konnte den Wellen des Ozeans lauschen und erlebte jeden Sturm, als stünde sie in seiner Mitte. Ihre Haut kribbelte, wenn sie daran dachte, das Salz des Meeres bald wieder auf den Lippen zu schmecken, vom Wasser umgeben zu sein, während sie in seine Tiefen hinabtauchte. Über den Dächern des Palastes kreisten die Möwen und schon von weitem konnte sie ihre Schreie hören. Sie klangen nach Heimat.
Nach einer zweitägigen Reise hatte das Gefolge heute früh endlich die Grenze zu Sirena erreicht und die Bevölkerung den Prinzen und die Priesterinnen herzlich empfangen.
Nun war die Zeit gekommen, nach Hause zu gehen. Bei dem Gedanken schluckte Malia. Sie hatte ihre Mutter wochenlang nicht gesehen und wenn sie ehrlich war, hatte sie sie nicht gerade vermisst. Es hatte ihr gutgetan, den strengen Blicken und hohen Anforderungen ihrer Mutter für eine geraume Zeit entkommen zu sein. Eine Kostprobe von Freiheit zu genießen, bevor sie sich nun wieder dem strengen Reglement fügen musste.
Neben ihr in der Kutsche saß Nami. Ihr liebe Nami, die noch immer von den Ereignissen in Silvina zerrüttet war. Doch als sie heute die Grenze überschritten hatten, hatte Nami zum ersten Mal seit Wochen wieder gelächelt. Zwar ein zurückhaltendes Lächeln, doch war es echt. Namis Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und Malia konnte nur ahnen, wie erleichternd es für sie sein musste, nach Hause zu kommen. Heimat konnte Nami mehr Trost spenden als alle Worte dieser Welt zusammen. Und Malia wünschte sich, dass ihre Freundin und Zofe hier die Heilung finden würde, die sie in Solaris nicht erfahren hatte.
Doch all diese Freude verblasste auf einen Schlag, als Malia die Soldaten sah, die im Innenhof des Palastes auf sie warteten. Sie hatte nicht gedacht, dass sie so viele Soldaten hier erwarten würden. Und schon gar nicht er. Hatte er doch das Leben als Soldat gewählt, um ihr aus dem Weg zu gehen. Malia schluckte bei seinem Anblick schwer. Je mehr Abstand zwischen ihr und ihrer Vergangenheit lag, desto besser für alle Beteiligten.
Als Malia aus der Kutsche stieg, sah sie ihre Mutter. Loreley stand auf den Stufen des Palastes und beobachtete alle Neuankömmlinge mit Argusaugen. Der Blick ihrer dunklen Augen lag auf Nathaniel und um ihre Mundwinkel zuckte es.
Malia sah dabei zu, wie sowohl Celestes als auch Linnéas Kutsche ankam und gesellte sich dann zu Mara und Lord Emir, mit denen sie sich eine Kutsche geteilt hatte und die nun am Treppenansatz auf sie warteten. Mara taxierte ihre Mutter mit abschätzigem Blick. Die Beziehung zwischen der obersten Septa von Sirena und gleichzeitig Malias Mentorin und ihrer Mutter war nie einfach gewesen. Die beiden Frauen waren zu verschieden und hatten darum unterschiedliche Auffassungen davon, wie Malias Zukunft auszusehen hatte.
Loreley war in dunkelblaue Seide gehüllt und ihre langen, schwarzen Haare waren hochgesteckt. Die schmale Nase sowie das spitze Kinn zeigten nach oben. Sie wirkte beinahe aristokratisch, doch Malia wusste es besser. Ihre Mutter tat gern so, als sei sie die alleinige Herrscherin von Sirena, dabei hatte sie all ihren Wohlstand und ihr Geld Malia und ihrem Vater zu verdanken. Der damals das Pech hatte, sich in die falsche Frau zu verlieben. Denn ihre Liebe galt allein seinem Titel als Kapitän und seinem Geldbeutel.
»Schön, wieder zu Hause zu sein. Doch auf das Begrüßungskomitee hätte ich verzichten können«, Mara rümpfte die Nase, als Loreley anmutig die Treppen hinabschritt.
»Sei nett, wir sind noch keine fünf Minuten hier und ich will nicht, dass ihr euch jetzt schon in die Haare bekommt«, flüsterte Malia.
Mara nickte und setzte ein freundliches Lächeln auf. Sie würde niemals etwas tun, was Malia schaden oder ihre Gefühle verletzen könnte. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter. Loreley waren die Gefühle von anderen Menschen egal. Selbst die ihrer eigenen Tochter.
»Mutter, es ist schön, dich wiederzusehen.« Malia schritt ihrer Mutter ein Stück entgegen, ergriff ihre Unterarme und küsste die Luft rechts und links ihrer Wangen. Von außen mochte es wie eine herzliche Begrüßung aussehen, doch das war es nicht. Es war nicht einmal eine richtige Umarmung. So etwas kannte Loreley nicht. Mütterliche Nähe war für sie ein Fremdwort.
»Ich dachte, ihr würdet früher kommen.«
Nur mit Mühe konnte Malia das Lächeln auf ihren Lippen aufrechterhalten.
»Wir wurden aufgehalten. Die Sirener wollten den Prinzen gebührend empfangen. Und wir hatten es nicht eilig.«
Loreley rümpfte die schmale Nase und ihr Blick glitt über das königliche Gefolge hinweg.
»Möchtest du mich nicht vorstellen?«
Malia nickte.
»Natürlich, Mutter.« Während ihrer Zeit in Solaris und Silvina hatte Malia das Glück gehabt, den Fängen ihrer Mutter entkommen zu sein. Doch nun war sie wieder ganz zu Hause. Und es gab kein Entkommen vor Loreley.
Die Priesterin führte ihre Mutter auf den Vorplatz, wo sich Nathaniel und die Priesterinnen versammelt hatten. Die Tochter des Mondes stand etwas abseits und wirkte wie eine Außenseiterin. Wenn Malia ehrlich war, war ihr diese Frau suspekt. Bereits bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihr Misstrauen geweckt und bisher war Malia nicht imstande gewesen, dieses Misstrauen zu mindern.
»Mutter, darf ich dir die Priesterinnen unseres Landes vorstellen?« Malia deutete mit der Hand auf die Gotteskinder und stellte sie der Reihe nach vor.
Loreley setzte ein Lächeln auf und knickste galant vor den Priesterinnen. So, wie man es von einer gottesfürchtigen Frau erwartete.
»Priesterinnen, die Ehre liegt ganz auf meiner Seite. Ich hoffe, die Reise war angenehm und Ihr werdet Euch in Sirena wie zu Hause fühlen.«
»Da bin ich mir sicher. Die Bewohner haben uns bisher nur Freundlichkeit entgegengebracht«, Linnéa sah sich freudestrahlend um und bemerkte somit nicht das Stirnrunzeln von Loreley. Malia schluckte und schüttelte den Kopf. Dass ihre Mutter nicht viel mit Linnéa würde anfangen können, war ihr bewusst gewesen. Linnéa war eine Frau, die mit dem Herzen dachte. Loreley hingegen war vollkommen rational. Wer kein Herz besaß, konnte es auch nicht benutzen.
»Und zum guten Schluss natürlich unser Prinz. Der Sohn der Sonne und zukünftiger König von Sirion: Nathaniel.«
Nathaniel, ganz Gentleman, verneigte sich vor Loreley, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. Malia bemerkte das Funkeln in den Augen ihrer Mutter sofort. Ein Funkeln, das nichts Gutes verhieß. Nur einen weiteren Plan, den Malia auszuführen hatte.
»Hoheit, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Euch persönlich zu begegnen. Ich habe bisher nur Gutes von Euch gehört.«
Bei ihren Worten biss sich Malia auf die Lippen. Sie hatte ihrer Mutter in all der Zeit nur ein einziges Mal geschrieben. Kurz nach ihrer ersten Begegnung mit Nathaniel. Ihre Mutter musste ihre Informationen über ihn also aus einer anderen Quelle beziehen. Und Malia war sich sicher, dass sie sich später noch würde rechtfertigen müssen, warum sie ihrer Mutter nicht mehr mitgeteilt hatte.
»Das hoffe ich. Aber die Ehre liegt auf meiner Seite.« Wenn er wollte, konnte Nathaniel wirklich ein Charmeur sein. Malia grinste bei dem Gedanken. Er lernte wirklich schnell, wickelte jeden um den Finger, dem er begegnete. Und trotzdem schlug ihr Herz bei seinem Anblick nicht schneller. Keine Schmetterlinge schwirrten ihr im Magen herum. Nate war ein Freund. Vielleicht der beste, den sie jemals hatte. Aber nicht mehr. So sehr sie es auch versucht und gewollt hatte.
»Hoheit, wenn ich Euch und Euer Gefolge bitten dürfte: Die Zimmer wurden bereits hergerichtet und ich bin mir sicher, dass alle müde sind von der langen Reise.« Loreley machte eine einladende Handbewegung und aus den Augenwinkeln sah Malia, wie Mara die Augen verdrehte. Ihre Mutter spielte sich auf und tat so, als gehörte der Palast ihr allein. Obwohl es ihr lediglich gestattet war, hier zu wohnen.
Die Bediensteten des Palastes führten die Gotteskinder und ihr Gefolge die Stufen hinauf. Die Eingangstür wurde eingerahmt von zwei steinernen Seepferdchen, die Böden dahinter waren blau gefliest und die Decken in allen erdenklichen Blau- und Grünaquarellfarben bemalt.
»Es wirkt wie eine Unterwasserwelt«, voller Faszination betrachtete Linnéa die Decken.
»Und habt Ihr die Details der Skulpturen gesehen?« Die Augen von Yanis, Kammerdiener von Nathaniel, leuchteten, während er noch die steinernen Seepferde am Eingang betrachtete. Malia ging das Herz auf. Sie freute sich, dass ihre Gäste ihr Zuhause ebenso zu schätzen wussten, wie sie es tat.
»Wartet ab, hier gibt es noch so viel mehr zu entdecken!« Und Malia freute sich schon darauf, ihren Freunden ihre liebsten Plätze in Sirena zu zeigen. Sie geleitete ihre Gäste zu ihren Zimmern – bevor sie sich ihrer Mutter stellen würde.
Eine Dienerin lief auf Malia zu, als sie gerade aus dem Korridor trat, in dem die Zimmer der Gäste lagen, und überreichte ihr einen cremefarbenen Umschlag.
»Der wurde für Euch abgegeben, Priesterin.« Die junge Frau knickste vor ihr und ging dann wieder davon. Malia musterte den Umschlag, auf dem nichts weiter als ihr Name stand, in einer schnörkellosen und etwas unleserlichen Handschrift, die sie nicht kannte. Sie wollte den Brief öffnen, als sie ein Räuspern hinter sich hörte.
Loreley wartete bereits in dem Gang, der zu ihren eigenen Räumlichkeiten führte, auf sie, ein kühles Lächeln auf den Lippen.
»Auf ein Wort, Tochter.«
Malia schluckte und ihr Herz setzte einen Augenblick lang aus. Es war wie damals, als sie klein war. Vor nichts hatte sie mehr Angst als vor dem enttäuschten Blick ihrer Mutter und den scharfen Worten, die auf diesen Blick folgten. Diese Angst war mit den Jahren nicht weniger geworden.
Malia folgte ihrer Mutter zurück in die Haupthalle. Währenddessen ließ Malia den Brief unauffällig in die Tasche ihrer weiten Seidenhose gleiten. Offenbar hatte Loreley nicht die Absicht, dieses Gespräch hinter verschlossenen Türen zu führen. Ihre schneidende Stimme ließ Malia zusammenzucken.
»Wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet? Du solltest mir doch Bericht erstatten.«
Malia blickte zu Boden. Vor ihrer Mutter war sie nie die starke Priesterin, die sie sonst war. In Anwesenheit von Loreley war sie wieder das kleine Mädchen, das nichts richtig machte.
»Es war viel los, Mutter. Und ich wollte nicht, dass manche Informationen in die falschen Hände geraten.« Es war eine Ausrede, aber Malia wollte ihrer Mutter noch nicht mitteilen, dass sie versagt hatte. Und zwar auf ganzer Linie.
Loreley musterte sie abschätzig, bevor sie nickte. Nur knapp konnte Malia ein Aufseufzen unterdrücken. So erleichtert war sie darüber, dass ihre Mutter nicht weiter nachfragte.
»Und wie läuft es?« Sie musste ihre Frage nicht erklären. Malia wusste genau, was ihre Mutter meinte. Immerhin hatte sie ihr nur eine einzige Aufgabe mit auf den Weg gegeben.
»Ich tat mein Bestes.«
Die Augen ihrer Mutter wurden schmal und ein harter Zug legte sich um ihren Mund.
»Ist es so schwer für dich, diesen Jungen zu betören?«, Loreleys Stimme wurde nicht laut. Das tat sie nie. Sie wurde lediglich schneidender. Wie ein Messer, das durch Fleisch schnitt. Und mindestens genauso schmerzhaft.
Malia blickte auf und es fiel ihr schwer, dem wütenden Blick ihrer Mutter standzuhalten.
»Er hat Gefühle für eine andere …«
»Du wurdest berufen, um Königin zu werden, Malia! Und mit nichts anderem wirst du dich zufriedengeben, hast du mich verstanden? Nur als Königin wird man dich respektieren und nur als Königin hast du Macht. Du willst doch nicht, dass man in dir nur das hübsche Ding sieht, das zufällig das Zeichen der Götter am Knöchel trägt, oder?«
Malia schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war nicht die Antwort auf Loreleys Frage, vielmehr die einzige Möglichkeit, dieser Unterhaltung zu entkommen. Doch ihre Mutter nickte zufrieden.
»Du weißt, was du zu tun hast. Und komm mir bloß nie wieder mit Gefühlen!«, donnerte ihre Mutter.
Malia schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und bemühte sich, keine Regung in ihrem Gesicht zu zeigen. Doch ihre Mutter war noch nicht fertig mit ihr.
»Und was tut dieser Junge hier? Ich dachte, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt, als ich sagte, ich wolle ihn nie wiedersehen.«
Malia wusste sofort, von wem Loreley sprach. Ihr Herz zog sich zusammen.
»Er ist auf Befehl des Königs hier und begleitet unser Gefolge. Er hat vor Ort Aufträge zu erledigen, du wirst also gar nicht bemerken, dass er da ist.«
Loreley schnaubte verächtlich und strich sich eine Haarsträhne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, hinters Ohr.
»Das will ich auch stark hoffen, sonst nehme ich das selbst in die Hand.« Mit diesen Worten drehte sich Loreley um und rauschte in Richtung ihrer Gemächer davon. Ihr blaues Kleid ergoss sich wie eine Welle über den Fußboden und riss ihre Erscheinung mit sich fort.
»Wie lange stehst du schon dort?« Malia hatte seine Präsenz längst wahrgenommen, doch sie hatte dem Redefluss ihrer Mutter leider keinen Einhalt gebieten können. Nur langsam drehte sie sich zu ihrem Zuhörer um. Ihre Stimme klang so erschöpft, wie sie sich fühlte. Und ihre Schultern hingen schlaff herab.
Nathaniel lehnte mit verschränkten Armen an einer Säule oben am Treppenabsatz, die zu dem Flügel hinaufführten, in dem man ihn untergebracht hatte. Seine Miene war ausdruckslos und doch konnte Malia an seiner Körpersprache erkennen, dass ihm das, was er gehört hat, nicht gefiel.
Er lief die Stufen zu ihr hinunter und schüttelte den Kopf. »Lange genug, um zu wissen, dass deine Mutter keine nette Frau ist.«
Malia nickte traurig.
»Sie ist ehrgeizig.«
Nathaniel stieß ein hartes Lachen aus.
»Wohl eher egoistisch und anmaßend. Wie hältst du es bloß mit ihr aus?«
Darauf wusste Malia keine Antwort, daher zuckte sie bloß mit den Schultern.
»Sie ist meine Mutter, ich hatte kein Mitspracherecht.«
»Aber du hast ein Mitspracherecht, was deine Zukunft anbelangt. Willst du wirklich, dass sie sich einmischt?«
Malia seufzte.
»Nate, sie mischt sich bereits mein ganzes Leben lang ein. Ich bin es gewohnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass es mir gefällt.«
Nates Augen verfinsterten sich. Sein Kiefer spannte sich an, doch er schien zu verstehen, dass eine Diskussion nichts brachte.
»Wen meinte sie?«
Sie hatte gehofft, dass er nicht nachfragen würde. Dass er die Worte ihrer Mutter nicht gehört hatte oder zumindest nicht diesen Teil der Unterhaltung. Doch ihre Hoffnungen waren vergebens, das merkte sie jetzt. Malia biss sich auf die Lippe, wollte die Worte zurückhalten. Doch was brachte es ihr? Gar nichts. Und wenn sie sich jemandem anvertrauen konnte, dann Nate.
»Du hast ihn bereits kennengelernt.«
Nate beobachtete sie ganz genau, bevor Erkenntnis in seinen Augen aufblitze.
»Es ist der Soldat, nicht wahr? Emirs Neffe.«
Malia hob den Blick und sah in seine grünen Augen.
»Sein Name ist Marco.« Es war ein seltsames Gefühl, nach all der Zeit seinen Namen wieder auf den Lippen zu haben.
»Und was ist mit ihm? Warum will deine Mutter nicht, dass er hier ist?«
Allein seinen Namen auszusprechen, ließ Malias Herz höherschlagen und brachte Erinnerungen zurück, die sie fest im Herzen verschlossen hatte.
»Weil ich ihn geliebt habe. Und diese Liebe stand den Plänen meiner Mutter im Weg. Ich bin eine Priesterin und als solche steht es mir nicht zu, frei zu lieben.«