KAPITEL 11

DIE SONNE UND DER MOND

Vignette

Nathaniel

»Was stehst du hier so allein im Gang herum?«, Nate musterte die dunkelhaarige Schönheit vor sich misstrauisch.

»Ich habe auf dich gewartet.«

Sie befanden sich in den Gängen, die zu Celestes Gemächern führten.

Nates Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Das trifft sich gut, ich wollte ohnehin mit dir reden.« Er musste ihr endlich zu verstehen geben, dass sie sich aus seinem Leben rauszuhalten hatte.

»Ach ja, worüber?«, ihre gletscherblauen Augen betrachteten ihn neugierig. So, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst.

»Was hast du gestern zu Celeste gesagt? Ich habe gesehen, wie ihr miteinander gesprochen habt. Anschließend hat sie fluchtartig ihre eigene Feier verlassen. Und sag mir jetzt nicht, dass das Zufall war.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie herausfordernd an.

»Nein, es war kein Zufall«, Selena zuckte mit den Schultern. »Sie scheint das Gespräch nicht allzu gut aufgenommen zu haben, das stimmt.«

»Worüber habt ihr gesprochen?«

»Ich habe sie gefragt, was sie für dich empfindet.«

Nates Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen, doch unter keinen Umständen wollte er, dass Selena es bemerkte. Er atmete tief ein und trat einen Schritt näher an sie heran. Selena wich nicht zurück.

»Ich glaube dir nicht, dass das alles war.«

Auch wenn Celeste nicht gut darin war, ihre Gefühle zu zeigen, geschweige denn, darüber zu sprechen, würde sie sich vor Selena nicht die Blöße geben, deswegen die Flucht zu ergreifen.

»Auch wenn du in mir unbedingt die Böse sehen willst – ich habe nichts Falsches getan. Sie konnte mir gegenüber schlicht nicht zugeben, dass sie dich liebt«, ihre Stimme klang plötzlich bedrohlich.

»Wenn sie nicht zu ihren Gefühlen stehen kann, sind sie nicht echt.«

Nates Kiefer mahlten aufeinander. Dieses Gespräch ging in eine Richtung, die er nicht besonders mochte.

»Hör auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen, Selena. Was zwischen mir und Celeste passiert, geht dich nichts an.«

Es ging niemanden etwas an, außer ihn und den Rotschopf. Falls er den Drang verspüren sollte, über seine Gefühle zu reden – was er definitiv nicht wollte – würde er zu einem seiner Höflinge gehen. Oder zu Yanis. Sein Kammerdiener gab hilfreiche und diskrete Ratschläge.

»Natürlich geht es mich etwas an«, Selena streckte die Hand nach ihm aus, doch Nate wich zurück, was sie schnaubend zur Kenntnis nahm.

»Aber wenn es dir so zu schaffen macht, gehe ich ihr in Zukunft eben aus dem Weg.« Sie lenkte ein, Gott sei Dank.

Nate seufzte.

»Das wäre mir recht.« Sein Plan, dass Celeste sich Selenas annehmen sollte, funktionierte nicht. Er wollte nicht, dass Selena und Celeste mehr miteinander zu tun hatten als das Nötigste.

Selena nickte und Nate sah die Trauer in ihren blauen Augen.

»Ich gehe später zu ihr und entschuldige mich für mein Benehmen von gestern. Und danach lasse ich sie in Ruhe.« Sie lächelte schwach, doch Nate erkannte keine Lüge hinter ihren Worten. Sie war absolut ehrlich zu ihm.

»Danke«, sagte er nickend und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare. Wenigstens war das Gespräch so ausgegangen, wie er es erhofft hatte.

Da kam Makena den Gang entlang. Auf ihrer Hüfte balancierte sie einen gigantischen Wäschekorb, während sie in der anderen Hand zwei Pakete trug, auf denen einige Bücher gestapelt waren.

»Makena, wohin des Weges?«, Nate grinste die Blondine frech an. Er mochte Celestes Zofe sehr. Gerade, weil sie etwas schüchtern war.

»Zu Celeste.« Makena lächelte sie an und neigte respektvoll den Kopf vor Selena. Diese lächelte zurück.

»Soll ich dir etwas abnehmen?« Selena trat einen Schritt auf Makena zu und breitete die Arme aus. Doch die Zofe schüttelte den Kopf.

»Danke, aber das kann ich nicht von Euch verlangen, Priesterin«, sie lächelte verlegen, doch Nate schnalzte mit der Zunge.

»Makena, rede keinen Unsinn. Wir helfen dir tragen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er ihr den Wäschekorb ab, während Selena nach den Päckchen griff.

»Was ist das alles?«, fragte Nate neugierig.

Sie liefen über den Gang in Richtung Celestes Gemächern.

»Frisch gewaschene Bettwäsche, Wäsche und der Rest ist Privatangelegenheit, wenn Ihr erlaubt«, Makenas Wangen röteten sich vor Verlegenheit.

Selena und Nate sahen sie fragend an, nickten dann jedoch einvernehmlich und begleiteten sie weiter bis vor die Tür von Celestes Räumlichkeiten.

»Danke, dass Ihr mir geholfen habt.« Mit diesen Worten öffnete Makena die Tür.

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Selena, doch ihre Stimme klang dabei reserviert.

»Ich überreiche Lady Celeste rasch die Pakete und nehme Euch dann die Wäsche ab.«

Nate nickte Makena aufmunternd zu und beobachtete sie dabei, wie sie an die Badezimmertür klopfte.

»Celeste? Darf ich reinkommen?« Hinter der Tür blieb es still und Makena hob eine Augenbraue. Das sah Nate als seine Chance. Er trat an die Tür und klopfte.

»Kätzchen?«, fragte er leise und warf Selena dabei einen vorsichtigen Blick zu.

»Bist du eingeschlafen?« Noch immer keine Antwort von der anderen Seite der Tür. Nate tauschte einen unsicheren Blick mit Makena, während Selena im Raum stand und sich langsam umsah.

Makena klopfte erneut. Diesmal eindringlicher.

»Celeste?!«

Keine Reaktion.

Nate biss die Zähne zusammen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Aus dem Weg, Makena!«

Auch wenn sich das nicht gehörte, schob er Makena einfach zur Seite und öffnete die Tür. Er sah sofort die Wanne, doch nicht den Rotschopf. Nate trat zögernd einige Schritte näher – und keuchte auf. Celeste lag unter Wasser und rührte sich nicht.

»Celeste!«, Nate hechtete auf die Wanne zu, kniete nieder und griff mit beiden Händen nach ihr.

»Was ist mit ihr?«, Makenas panische Stimme drang an sein Ohr, doch Nate ignorierte sie.

»Um der Götter Willen, was ist hier los?« Jetzt trat auch Selena neben ihn. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie die bewusstlose Celeste erblickte.

Nate hing mit beiden Armen im Wasser und versuchte, Celeste zu greifen, um sie aus der Wanne zu hieven. Sie rutschte ihm immer wieder weg.

»Helft mir sofort, sie da rauszuholen!«

Makena stieß einen spitzen Schrei aus. Die dunkelhaarige Priesterin eilte an Nates Seite und griff nach Celestes Kopf, um ihn über Wasser zu halten. Celestes Augen waren geschlossen.

»Ist sie ohnmächtig?«, Makena trat zitternd neben sie.

»Ich weiß es nicht«, stieß Nate knurrend aus. Er griff Celeste unter die Arme und zog sie aus der Wanne. Selena stützte weiter den Kopf der Priesterin. Makena griff nach Celestes Beinen und mit vereinten Kräften schafften sie es, sie aus der Wanne zu heben.

Wasser schwappte über und bahnte sich seine kleinen Wege auf dem Badezimmerboden.

»Celeste? Celeste, wach auf!«, Nates Stimme war eine Mischung aus Flehen und Schreien. Celeste rührte sich nicht.

»Atmet sie noch?«, fragte Selena flüsternd, als sie sie sachte ablegten. Celestes Haut war leichenblass und Nate wusste nicht, ob sie atmete oder nicht.

Er versuchte, seine flatternde Atmung in den Griff zu bekommen, beugte sich dann ganz weit vor, legte sein Ohr an ihren Mund und überprüfte ihre. Sie war schwach, aber vorhanden! Celeste atmete!

Ihre Lippen waren blau, ihre Haut blass, aber an einigen Stellen gerötet. Ihr Körper war kalt, als hätte sie in Eiswasser gebadet. Nate griff nach Celestes Hand und betrachtete ihre Fingernägel. Sie waren dunkel verfärbt und an ihren Handgelenken hatten sich Blasen gebildet. Nate erstarrte. Symptome einer Vergiftung.

Während seiner Zeit bei Mic hatte Nate einige Gifte in Aktion erlebt. Und diesen Stoff, der über die Haut übertragen wurde, kannte er: »Mitternachtsfluch«, die Essenz einer seltenen Art der Tollkirsche.

Nates Atmung ging wieder schneller, er kannte die Auswirkungen dieses Giftes. Und Celestes geringe Körpertemperatur machte ihm Angst. An diesem Punkt ging es um Leben und Tod. In nur kurzer Zeit würde die Vergiftete an Atemlähmung sterben.

Nate geriet in Panik. Sie brauchten Hilfe. Und zwar sofort. Ein kurzer Blick zu Makena verriet ihm, dass sie unter einem Schock litt. Tränen rannen ihr unaufhörlich über die Wange. Sie fiel also aus.

»Selena, hol Malia! Beeil dich«, schrie Nate Selena zu. Nur die Meerestochter war imstande, Vergiftungserscheinungen dieser Art zu heilen.

Selena erhob sich augenblicklich und stürmte aus dem Zimmer.

Celeste atmete schwächer. Ihre Brust hob und senkte sich kaum sichtbar. Der Herzschlag war unregelmäßig. Ohne darüber nachzudenken, beugte sich Nate über Celeste und presste seine Lippen auf ihre. Er blies Luft in ihren Mund. Zweimal. Dann legte er seine Hände auf ihre Brust und drückte sie hinunter. Celestes Lungen wurden durch das Gift an ihrer Arbeit gehindert. Dazu kam das viele Wasser, das sie geschluckt hatte. Doch Nate würde nicht zulassen, dass sie aufhörte, zu atmen.

Er wiederholte das Prozedere noch, als er hastige Schritte auf dem Gang hörte. Als er gerade wieder Celestes Brust hinunterdrückte, hustete sie mit einem Mal und ein Schwall Wasser schoss ihr aus dem Mund. Ihre Lider flatterten, doch sie kam nicht zu sich.

Makena stieß einen Schrei aus und setzte sich neben sie, doch Nate hinderte sie daran, nach Celestes Hand zu greifen.

»Berühre sie so wenig wie möglich, Makena! Das Wasser wurde vergiftet.« Es war schlimm genug, dass sie alle bereits kurz mit dem vergifteten Wasser auf Celestes Haut in Berührung gekommen waren. Doch sie sollten es nicht ausreizen. Nur er würde nicht von Celestes Seite weichen, das war Nate klar.

Makenas tränenverschleierte Augen weiteten sich und sie sah ihn ungläubig an.

»Das ist unmöglich! Ich habe das Wasser selbst eingelassen.« Sie blickte panisch zu der Wanne hinüber.

Er beugte sich wieder hinab und überprüfte erneut Celestes Atmung. Sie normalisierte sich, doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie über den Berg war. Das Gift von »Mitternachtsfluch« breitete sich weiter in ihrem Körper aus und würde für einen Herzstillstand sorgen, wenn sie keine Hilfe bekam.

»O mein Gott, es ist meine Schuld!«, flüsterte Makena. Nate warf ihr einen verwirrten Blick zu.

»So ein Unsinn. Du kannst nichts dafür.« Makena war die Letzte, die Celestes etwas antun würde.

»Wie geht es ihr?«, fragte die Zofe erstickt.

Nate wünschte von Herzen, er könnte Makena ein gutes Gefühl geben. Doch er wusste es einfach nicht.

»Sie atmet. Aber es ist ein tückisches Gift.«

In diesem Moment stürmte Malia ins Badezimmer, gefolgt von Selena, Marco und Lord Emir. Die beiden Männer wandten hastig ihre Blicke ab, als sie die nackte Celeste auf dem Boden liegen sahen. Makena besaß die Geistesgegenwart und bedeckte ihre Herrin mit einem Badetuch.

»Was ist hier passiert?«, fragte Malia herrisch, drängte Makena zur Seite, kniete sich neben Celeste und tastete nach ihrem Puls.

»Celeste wurde vergiftet, wir brauchen deine Hilfe.«

Marco und Lord Emir zogen bei diesen Worten scharf die Luft ein. Malia blickte auf und sah Nate erstaunt an. Nate konnte regelrecht sehen, wie es hinter ihrer schönen Stirn ratterte. Dann nickte sie.

»Na dann: Aus dem Weg, mein Hübscher!« Sie schob Nate zur Seite. Zumindest ein Stück weit. Nate würde Celeste nicht allein lassen. Er hielt ihre Hand, während Malia ihre Hände auf Celestes Schultern legte. Er spürte die Magie, die durch die Finger der Meerestochter floss und auf Celeste überging.

»Was spürst du?«, Nate ließ Malia nicht aus den Augen. Ihre gebräunte Haut wurde mit jeder Sekunde blasser und Schweiß trat auf ihre Stirn. Es kam Nate wie eine Ewigkeit vor, bis Malia endlich antwortete.

»Das Gift ist stark. Aber das bin ich auch«, presste Malia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit löste sie ihre vor Schweiß schimmernden und sehr blassen Hände, auf denen deutlich die blauen Adern hervortraten, von Celeste, deren Lider flackerten. Ihre Brust hob und senkte sich in einem regelmäßigen Rhythmus. Der Herzschlag wurde stärker.

»Wird sie sich erholen?«, fragte Nate ungeduldig und mit zitternder Stimme. Malia lächelte ihn schwach an.

»Ja, das wird sie.«

Lord Emir hatte schweigend danebengestanden, als Malia ihre Kräfte eingesetzt hatte. Nun trat der Admiral der königlichen Armee an ihre Seite.

»Wie konnte das geschehen, Makena?«, seine braunen Augen taxierten die Zofe, die still weinend neben Celeste kauerte.

Makena schluchzte auf:

»Eine Dienerin hatte verschiedene Badeöle bereitgestellt. Celeste wählte eines mit Lavendel, obwohl sie doch immer in Mandelöl badet.« Sie umklammerte ihren zierlichen Körper mit beiden Händen, wippte dabei vor und zurück. Nate hatte Mitleid mit ihr.

Emir ging auf die Kommode zu. Er hob einen Korb an, der mit einer Schleife verziert war. Es klackerte, als die Flakons leicht aneinanderstießen.

»Sind das die Substanzen?«

Makena nickte schwach.

Die Ader an Emirs Hals pochte gefährlich und Nate konnte seinen Zorn nur zu gut verstehen. Er hatte Celeste auf seinen Schoß gezogen, während seine Hand auf Malias Schulter lag.

Selena hatte sich zu Makena hinuntergebeugt und sie behutsam in den Arm genommen. Ihre Hand fuhr beruhigend über den Rücken der Zofe.

»Marco, lass den Inhalt der Flaschen untersuchen.« Lord Emirs Gesicht war jetzt ausdruckslos. Man hatte unter seiner Aufsicht einem Gotteskind Schaden zugefügt. Man könnte ihn dafür verantwortlich machen.

»Sofort.« Marcos Stimme war geschwängert von Wut.

»Wie gehen wir weiter vor?«, Nates Stimme klang gepresst, er blickte mit grimmig-entschlossenem Blick zum Admiral auf.

»Wir werden die Dienerin befragen, die die Öle gebracht hat. Malia, wisst Ihr, ob auch die anderen Priesterinnen dieses Präsent erhalten haben?«

Die Meerestochter nickte. Ihre Haut war noch immer blass, aber ihre Wangen nahmen langsam wieder eine frische Farbe. »Es war das Willkommensgeschenk meiner Mutter an die Priesterinnen. Sie hat sie selbst zubereitet.«

Ein schwerwiegendes Schweigen breitete sich im Raum aus. Nates Augen wurden bei Malias Worten schmal. Hatte Loreley versucht, die Konkurrentinnen ihrer Tochter zu beseitigen, damit einzig und allein Malia Königin werden würde?

»Ich werde sowohl die Dienerin als auch Eure Mutter dazu befragen müssen. Marco, stelle zu allererst die Flakons in den Zimmern von Linnéa und Selena sicher. Wir müssen ausräumen, dass diese womöglich auch mit dem Gift versehen worden sind.«

Marco nickte und verließ zügig den Raum.

Nate war kurz davor, aus der Haut zu fahren. Unbändiger Zorn pulsierte durch seine Adern und er wollte auf jemanden einprügeln. Doch dann spürte er Malias Finger auf seiner Wange.

»Auch du bist mit dem Gift in Berührung gekommen, ich kann es deutlich spüren. Und zwar deutlich intensiver und länger als Selena und Makena. Ich werde mich zuerst um dich kümmern müssen.« Nate sah sie an, während er spürte, wie seine Haut zu prickeln begann.

Da begann Celeste wild zu husten und schlug tatsächlich die Augen auf! Sie waren blutunterlaufen, viele Äderchen darin waren geplatzt. Das deutliche Zeichen einer Vergiftung. Panisch griff sie nach Nates Hemd, der sie sofort in seine Arme zog. Ihre karamellfarbenen Augen glitten unstet umher, als wäre sie noch nicht vollends bei sich.

»Celeste, wie geht es dir?«, Nate umfing ihr Gesicht mit seinen Händen und sah sie eindringlich an.

Celeste keuchte. Sie öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte heraus. Sie räusperte sich ein paarmal und begann wieder zu husten.

Malia trat an ihre Seite, kniete nieder und strich ihr liebevoll über die Wange.

»Schhh, nicht sprechen. Deine Kehle ist noch geschwollen. Du hast viel Wasser geschluckt.«

Dass auch Gift in dem Wasser gewesen war, verschwieg Malia für den Moment. Es war vermutlich besser so, um den Rotschopf nicht zusätzlich in Aufregung zu versetzen. Celeste musste vorerst nicht wissen, dass jemand sie hatte töten wollen.

»Sie sollte sich ausruhen. Ich lasse nach Simea schicken«, sagte Lord Emir. Bestimmt sah der Admiral die Anwesenden an und wies mit dem Kinn in Richtung Tür. Selena und Malia erhoben sich gehorsam und verließen das Badezimmer.

Nate schob seine Arme unter Celestes zierlichen Körper und nahm sie hoch. Sie war noch immer nackt, doch das Badetuch verbarg ihre Blöße. Er hob sie behutsam auf ihr Bett.

»Emir, lasst Wachen vor der Tür jedes Gotteskindes aufstellen.«

Der Lord sah ihn stirnrunzelnd an.

»Nathaniel, mit Verlaub, würde es nicht vorerst ausreichen, Lady Loreley zu verhören?«

Nates Kiefer knirschten aufeinander.

»Das war das Werk der Atheos, auch wenn ich noch nicht weiß, ob oder inwieweit Malias Mutter mit ihnen unter einer Decke steckt. Ich werde nicht zulassen, dass sie einem von uns erneut Schaden zufügen.« Er war sich sicher, dass diese Dreckskerle hier ihre Finger im Spiel hatten.

»Nate?«, Celestes Stimme glich einem Krächzen und Nate drehte sich sofort zu ihr um.

Sie streckte die Hand nach ihm aus und er setzte sich zu ihr aufs Bett. Er beugte sich weit zu ihr hinunter, zog sie an sich und presste ihr Gesicht an seine Brust.

»Ich bin hier, Kätzchen, und ich bleibe. Aber sag jetzt nichts mehr, du musst dich schonen.«

Sie nickte gegen seine Brust und krallte ihre Finger in seinen Rücken. Er strich ihr beruhigend über den Kopf. Er würde den Täter finden und wenn es das Letzte war, was er tat.

Es wurde höchste Zeit, endlich gegen die Atheos vorzugehen. Sie hatten es auf Celeste abgesehen. Das würden sie noch bitter bereuen.

***

Celeste

Zwei Tage waren seit dem Anschlag auf Celeste vergangen. Ihre Lunge schmerzte noch, doch ansonsten hatte Malia ganze Arbeit geleistet. Sie erholte sich schnell und das Gift war gänzlich aus ihrem Körper verschwunden. Nur die Angst war geblieben, seitdem sie den wahren Grund für ihr Beinahe-Ertrinken erfahren hatte.

»Sag, wie geht es dir?« Kiah lehnte sich auf dem Sessel neben ihrem Bett nach vorn und musterte sie besorgt. Seit dem Anschlag auf sie war Kiah mehrmals täglich zu Besuch gewesen, wenn auch immer nur für eine kurze Zeitspanne, um ihr ausreichend Erholung zu gönnen. Er hatte sich bemüht, sie abzulenken von ihren düsteren Gedanken und bisher war ihm das gelungen.

Celeste legte den Brief von Iolana zur Seite. Seitdem man sie zur Bettruhe verdonnert hatte, hatte sie immerhin endlich die Zeit gefunden, in den Schriftstücken ihrer Vorgängerin zu lesen.

»Besser«, sagte sie schwach lächelnd.

Es war die Wahrheit. Ihr Körper heilte schnell und sie würde nicht zulassen, dass dieser Vorfall ihren Verstand beeinflussen würde.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast. Vermutlich möchtest du nicht darüber reden. Falls du aber doch das Bedürfnis verspüren solltest, bin ich für dich da.«

Sie nickte zögernd. Man hatte sie vergiftet. Sie. Ein Gotteskind. Und das in einem Palast, der eigentlich absolut sicher sein sollte. Sie zwang sich zu einem Lächeln:

»Das sind Worte, die ich dir niemals zugetraut hätte, Kiah.«

Von allen Menschen, die um sie waren, hatte Celeste am wenigsten erwartet, dass ausgerechnet Kiah ihr sein offenes Ohr anbieten würde.

»Was soll ich sagen, ich bin vielfältig.«

Das war er offenbar, nur zeigte er es selten so offen. Vielleicht durchlebte Kiah gerade eine Entwicklung seines Seins. Nur wusste Celeste nicht, was sie angestoßen haben könnte. Aber sie war gespannt, wohin es ihn führen würde. Celestes Blick ruhte auf Kiah, sie sagte aber nichts.

Nach diesem kurzen Moment der Stille räusperte Kiah sich. »Glaubst du an Nates Theorie?«, seine Stimme hatte einen dunklen Klang angenommen. Celeste sah erstaunt auf.

»Was ist seine Theorie?«

Sie wollte es nicht zugeben, doch Nate war in den letzten Tagen kaum bei ihr gewesen. Er hatte sie direkt nach dem Attentat im Arm gehalten. Doch danach war er wie vom Erdboden verschluckt worden. Und Celeste machte sich Sorgen um ihn.

»Dass die Atheos diesen Anschlag geplant haben.«

Celeste nickte. Sie hätte es sich denken können: Er gab die Schuld den Atheos. Sie war sich nicht so sicher.

»Ich weiß es nicht. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es Loreley gewesen ist.«

Auch Admiral Emirs Befragung und Untersuchung hatte das ergeben. Es waren keine giftigen Substanze in Loreleys Mischküche gefunden worden und sie war mindestens so erschrocken wie Emir selbst über den fast tödlichen Anschlag auf Celeste. Im Übrigen hatte er herausgefunden, dass nur die Öle in Celestes Korb präpariert worden waren, die der anderen Priesterinnen enthielten nichts als wohltuende Zutaten.

Kiah gab ein Schnauben von sich.

»Diese Frau ist zwar ein Miststück, aber soweit würde sie nun doch nicht gehen.«

»Willst du meine Vermutung hören?« Kiah zog die Stiefel aus und legte die Füße auf Celestes Bett ab.

Celeste musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen.

»Du glaubst nicht, dass es die Atheos waren?«

Kiah gehörte zu den cleversten Menschen, die Celeste kannte. Gleichermaßen klug und gerissen. Eine gefährliche Kombination.

»Ich würde diese Theorie unterstützen, wenn der Anschlag allen Gotteskindern gegolten hätte. Aber nur du warst das Ziel.«

Ihr war bewusst, dass dieser Anschlag ihr gegolten hatte. Nur sie war vergiftet worden. Und in ihrem Kopf hatte sich Celeste bereits eine einleuchtende Theorie zurechtgelegt. »Die Atheos wollen mich für den Verrat meiner Eltern bestrafen.«

»Möglich, aber immerhin waren deine Eltern Mitglieder dieser Bande. Würden die Atheos ihre Energie darauf verwenden, Rache zu üben? Zumal die Verräter es nicht mehr miterleben würden.«

Kiah zählte nur die Fakten auf, ohne zu urteilen.

Celeste biss die Zähne zusammen. Darüber nachzudenken tat noch immer weh und ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie darüber hinweg war. Falls sie es jemals sein würde.

»Glaubst du denn wirklich, dass dein Vater die Atheos verraten hat?«, Kiah sah sie herausfordernd an. Celeste zuckte unsicher mit den Schultern.

»Das behauptete der Spion der Atheos, den die Legion, der auch Emirs Neffe zugeteilt war, gefasst hat.«

Kiah sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.

»Und du glaubst so mir nichts, dir nichts einem Kriminellen, der sich kurz darauf selbst richtet?«

Wenn Kiah es so ausdrückte, klang es plötzlich auch in Celestes Ohren fragwürdig. Die Atheos würden jeden verraten, um ihre eigene Haut zu retten.

»Eigentlich müsste ich ihn mit meinen eigenen Augen gesehen haben«, gab sie zögerlich zu. Mithilfe ihrer Gabe hätte sie wissen können, ob dieser Mann die Wahrheit gesagt hatte oder nicht.

»Das hätte einiges erleichtert«, seufzte Kiah.

Celeste nickte und spielte mit dem Saum ihrer Bettdecke. »Sag schon, was ist deine Vermutung?«

Kiah sah sie direkt an und fuhr sich mit beiden Händen durch die blonden Haare.

»›Mitternachtsfluch‹ lässt sich leicht auf dem Schwarzmarkt erwerben, es benötigt also keinen großen Aufwand. Ich glaube, dass es jemand aus unserem Kreis gewesen ist.«

Celestes Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Kiah, du glaubst doch nicht wirklich … – Wer?«

»Selena.«

Celeste blinzelte schnell ein paarmal hintereinander.

»Was?«

Kiah hob abwehrend die Hände.

»Ich weiß, dass sie selbst ein Gotteskind ist. Doch jedes Mal, wenn du in Nates Nähe bist, erdolcht sie dich allein mit ihren Blicken.«

Celeste schluckte schwer. Sie wusste genau, wovon Kiah sprach. Nicht nur ihm waren diese Blicke aufgefallen. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, wie sehr Selena an Nathaniel hing und wie eifersüchtig sie war, sobald er mit einer anderen sprach. Insbesondere mir ihr. Celestes dachte über Kiahs Worte nach, schüttelte aber dann den Kopf.

»Ich mag sie auch nicht besonders, aber das glaube ich einfach nicht. Sie war dabei, als Nathaniel mich gefunden hat. Sie hat ihm geholfen. Warum hätte sie das tun sollen, wenn sie mich selbst vergiftet hat?«

Außerdem war Selena eher von der schüchternen Art. Celeste konnte sich nicht vorstellen, dass sie zu einem Mord fähig war.

»Ich meine auch nicht, dass sie es selbst war. Übrigens hat auch Nate Selena bereits zur Rede gestellt. Und er meint, dass sie die Wahrheit sagt.«

Celeste hob überrascht die Augenbrauen.

»Er hat sie darauf angesprochen?« Das hatte sie nicht erwartet. Kiah nickte.

»Hat er. Ihm geht es ziemlich schlecht, musst du wissen.«

Celeste nickte sacht. Das wusste sie bereits. Daher hatte sie Vorkehrungen getroffen. Da Nate offenbar mit ihr nicht über den Vorfall sprechen wollte und auch sonst niemanden an sich heranlassen würde. Es gab nur zwei Personen, die ihm in dieser Situation helfen konnten. Eine von ihnen war Miro, doch der König hatte keine Zeit, nach Sirena zu kommen, um dem Prinzen die Hand zu halten. Der anderen Person hatte Celeste geschrieben. Nathaniel brauchte Hilfe, ob er sie annehmen wollte oder nicht.

»Ihm scheint die Sache mehr zu schaffen zu machen als dir.«

Wieder nickte Celeste. Sie konnte sich denken, warum Nate sie mied. Dennoch schmerzte sie seine Ablehnung.

»Weil er glaubt, versagt zu haben.«

Celeste hatte es in seinen Augen sehen können. Er war enttäuscht von sich selbst. Und wütend. Und diese Wut richtete sich gegen ihn selbst. Celeste hatte es nicht geschafft, ihm das auszureden.

»Er sieht mittlerweile überall den Feind. Er glaubt, dass die Atheos bereits ihre Mitglieder an den Hof geschmuggelt haben«, sagte Kiah mit dunkler Stimme. Celeste nickte.

»Er hat Wachen vor meiner Tür positioniert«, fügte Celeste zwischen zusammengebissenen Zähnen hinzu. Ihr missfiel es, dass Nathaniel so über sie bestimmte und sie hatte ihm deutlich gesagt, dass sie Wachen vor ihrer Tür nicht duldete. Doch er hatte nicht auf sie gehört. Wenn es um ihre Sicherheit ging, ließ er nicht mit sich verhandeln. Also hatte Celeste gelernt, mit den Wachen auszukommen.

»Ist mir aufgefallen«, brummte Kiah sarkastisch, dann legte er eine Hand über die von Celeste. Erstaunt sah sie ihn an. »Ich werde herausfinden, wer dir das angetan hat.« Pure Entschlossenheit lag in seinen blauen Augen.

»Wieso?«, fragte Celeste irritiert.

Kiah seufzte.

»Weil ich dich mag. Deine kratzbürstige Art gefällt mir. Und ich bin überzeugt davon, dass du die Priesterin bist, die am besten zu Nate passt.«

Celeste schluckte. Es sollte ein Kompliment sein und das ausgerechnet aus Kiahs Mund.

»Ich fühle mich geschmeichelt, Kiah.«

Er grinste sie an.

»Das solltest du auch, denn die meisten Menschen hasse ich.«

Celeste lachte.

»Deine Frauengeschichten sagen etwas anderes.« Sie grinste ihn wissend an und Kiah wandte den Blick ab.

»Wer, wenn nicht du, weiß, warum ich all diese Affären habe?«, erwiderte er mit leiser Stimme.

Ja, das wusste sie. Seit ihrem Geburtstag kannte sie die Wahrheit über Kiah. Und vermutlich war sie die Einzige.

»Warum tust du dir das an, Kiah?« Celeste konnte sein Verhalten nicht verstehen. Er bestrafte sich selbst. Und tat sich immer wieder aufs Neue weh.

»Weil mein Vater mich andernfalls niemals akzeptieren würde«, Kiahs Worte waren nicht mehr als ein Flüstern.

»Wen interessiert dein Vater? So kannst du doch nicht dein Leben führen wollen.«

»Ich bin abhängig von der Gunst meines Vaters. Ich bin nur ein Höfling, weil ich mich Nate förmlich aufgezwungen habe. Mein Vater ist ein Lord.«

Celeste sah Kiahs Zwiespalt ein.

»Aber du bist einer der besten Freunde des zukünftigen Königs.« Kiah und Nathaniel verstanden sich gut. Das würde sich auch nicht ändern, wenn Nate die Wahrheit über Kiah wüsste.

»Wer ist es, den du magst?«

Kiahs Wangen färbten sich rot und er sah verlegen zur Seite. »Es gibt da einen.«

Celeste lächelte.

»Und hat derjenige nicht verdient, dass du ehrlich zu ihm bist?« Sie würde von Kiah nicht verlangen, preiszugeben, um wen es sich handelte. Doch wie sollte dieser junge Mann erfahren, dass Kiah ihn so sehr mochte?

»Ich werde es ihm nicht sagen, geschweige denn, öffentlich machen. Damit würde ich den Zorn meines Vaters auf ihn lenken und er wäre nicht mehr sicher.«

Celeste sah ihn kopfschüttelnd an. Kiahs Anblick brach ihr das Herz. Sein Verhalten war ehrenhaft. Aber gleichzeitig konnte sie deutlich sehen, welche Qualen er litt. Er hatte etwas Besseres verdient, als ein Leben im Schatten.

»Die Liebe, die wir nicht leben können, kann trotzdem die wahrhaftigste sein. Und wenn sie es ist, währt sie am längsten und schmerzt am meisten.«

Kiah hob eine Augenbraue.

»Woher kommt diese Weisheit?«

Celeste lachte leise und hob das Tagebuch von Iolana auf, indem sie gelesen hatte, bevor Kiah ins Zimmer getreten war. »Ich habe sie selbst eben erst gelernt.« Der Satz entstammte einem Brief, den Iolana an Miro geschrieben hatte.

»Wie wahr«, nickte Kiah dann und atmete einmal stoßweise durch die Nase aus.

»Ich muss jetzt leider los«, sagte er, zog seine Füße von Celestes Bett, streifte seine Schuhe über und erhob sich von seinem Platz. Ein aufrichtiges Lächeln lag auf seinen Lippen.

»Mein Neffe kommt heute an.«

Überrascht sah Celeste auf.

»Nikes Sohn?«

Kiah nickte voller Enthusiasmus. Er wirkte wie ein kleiner Junge zur Wintersonnenwende.

»Nate hat alles organisiert, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hat.«

Celeste ging das Herz auf bei diesem Gedanken. Nathaniel zeigte Güte und Mitgefühl. Vereinte einen Sohn mit seiner Mutter.

»Du musst noch im Bett bleiben, um dich zu schonen, aber vielleicht kannst du ihn bald kennenlernen.« Lächelnd nickte Celeste. Sie wollte den kleinen Theo gern kennenlernen. Aber vorerst ging es um die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn, die sie mit ihrer Anwesenheit gar nicht stören wollte.

Kiah verließ ihr Zimmer und Celeste erhob sich langsam aus ihrem Bett und stellte sich ans Fenster, das auf den Innenhof gerichtet war. Dort kletterte in diesem Moment ein kleiner Junge mit Marcos Hilfe aus einer Kutsche.

Celeste freute sich wie ein kleines Kind, als sie Nike entdeckte, die freudestrahlend auf ihren Sohn zugelaufen kam, eine Hand ungläubig vor den Mund gehalten, den Kopf schüttelnd. Die sonst so stolze Soldatin, die nichts aus der Ruhe bringen konnte, stand nun zitternd da.

Das Gesicht des Jungen strahlte. Er sah seiner Mutter kaum ähnlich. Mit seinen dunklen Haaren und den dunklen Augen sah Theo aus wie ein typisch sirenisches Kind. Celeste musste also nicht lange darüber nachgrübeln, aus welcher Region der Vater stammte.

Nike breitete ihre Arme aus und ihr Sohn warf sich hinein. Celeste entdeckte nun auch Kiah, der sich eben zu Marco gesellte. Die beiden Männer lachten beide übers ganze Gesicht und Celeste glaubte zu sehen, wie eine Träne Kiahs Wange hinablief. Nike drückte ihr Kind an sich, als wollte sie es nie wieder loslassen.

Doch je länger Celeste dieser Szene zusah, desto schwerer wurde ihr Herz. Ein Stich fuhr in ihre Brust und ihre Lungen verkrampften sich. Obwohl Celestes Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen waren, spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Doch waren es keine Freudentränen.

Das Ziehen in ihrer Brust nahm zu. Mit jedem Lachen, das die Mutter ihrem Sohn schenkte, mit jedem Kuss, den Nike auf Theos Wangen hauchte, blutete Celestes Herz ein wenig mehr. Sie hätte das auch haben können, dachte sie traurig. Eine Mutter, die sie über alles auf der Welt liebte. Die ihre harte Schale ablegte, um ihrem einzigen Kind all die Liebe zu schenken, die sie zu geben hatte.

Doch Estelle hatte sich gegen sie entschieden. Andere Mütter brauchten wenige Sekunden, um sich Hals über Kopf in ihr Neugeborenes zu verlieben. Ihre Mutter hingegen hatte die gleiche Zeit gebraucht, um sich dafür zu entscheiden, ein Leben ohne sie zu führen und sie weggegeben.

Celeste hatte sich damit abgefunden. Sie kannte es nicht anders. Simea hatte sich um sie gekümmert, seit sie ein Baby war. Doch Celeste hatte sie niemals »Mutter« oder »Mama« genannt, weil Simea das eben nicht für sie war, obwohl sie sich wie eine um sie gekümmert hatte. Sie war ihr Vormund und ihre Mentorin. Manchmal eine große Schwester und Seelentrösterin. Aber sie war immer Simea für sie gewesen. Egal, wie viel Mühe sich Simea auch gegeben hatte, Celeste war immer dem Schatten ihrer wahren Mutter hinterhergejagt.

Nike zu sehen, die trotz ihrer harten Schale eine liebende Mutter war, brach Celeste das Herz. Sie hatte nur wenige Minuten mit Estelle gehabt. Doch sie hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass sie diese Frau hätte lieben können. Es war ihr nur nicht vergönnt gewesen.

Celeste wandte sich von der glücklichen Szene vor ihrem Fenster ab und verkroch sich zurück in ihr Bett. Sie zog die Bettdecke über den Kopf und ein Schluchzen entrann ihrer Kehle. Ihr Herz hatte sich in einen kalten Stein verwandelt, der schmerzhaft gegen ihren Brustkorb schlug. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Und sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.

Sie hätte sich gern bei Nathaniel ausgeweint, sich in seine Arme geschmiegt, doch er war nicht da. Er hatte sie nach allem, was ihr passiert war, in den letzten Tagen einfach allein gelassen. Und diese Tatsache tat weh. Sehr weh sogar. Celeste war allein. Und sie hasste dieses Gefühl. Es war ihr so vertraut. Einsamkeit war schon immer ihr schlimmster Feind gewesen. Einsamkeit und Misstrauen. Und gerade in diesem Moment fühlte Celeste nichts anderes.

***

Nathaniel

Am Abend hatte sich Nate auf die Terrasse zurückgezogen. Der frische Meereswind schlug ihm ins Gesicht. Er brauchte einfach etwas Ruhe. Den ganzen Tag hatte er Menschen um sich gehabt, hatte mit Emir und Nike geplant, wie sie gegen die Atheos vorgehen wollten, hatte Miro geschrieben und seine Wut an einem Sandsack ausgelassen. Die Weite des Meeres tat ihm gut. Schritte hinter ihm kündigten allerdings an, dass es mit der verhofften Ruhe bald vorbei sein würde.

»Das waren aufregende Tage, was?«

Nate drehte sich um und sah Selena. Sie stand etwas abseits und lehnte sich an das Geländer. Ihre schwarzen Haare wehten im Wind und die Dunkelheit ließ sie noch blasser wirken.

»Das kannst du laut sagen.« Nate war nicht zu einem Gespräch aufgelegt. Er antwortete kurz angebunden. Vielleicht würde er Celeste einen Besuch abstatten. Er hatte sie seit dem Anschlag kaum besucht, zu sehr schämte er sich für das, was passiert war. Weil er es nicht hatte verhindern können.

»Wie geht es dir?«, flüsterte Selena jetzt. Ihre gletscherblauen Augen sahen ihn besorgt an.

»Es geht schon«, brummte er. Doch in Wahrheit war Nate sowohl körperlich als auch geistig ausgelaugt. Er hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen. Celestes fast toter Körper in seinen Armen spukte ihm im Kopf herum und er fürchtete sich vor Albträumen.

»Nate, ich bin es. Du kannst mit mir reden«, drang Selenas leise Stimme an sein Ohr. Nate zog eine Augenbraue nach oben.

»Kann ich das? Wenn ich ehrlich bin, bin ich mir da nicht so sicher.« Er kannte die Frau, die vor ihm stand, kaum. Er hatte das Mädchen gekannt, das sie einst gewesen war.

»Vertraust du mir noch immer nicht? Immerhin habe ich dabei geholfen, Celeste zu retten.« Zorn schwang in ihrer Stimme mit. Nate zuckte nur mit den Schultern.

»Wie sollte ich?« Es waren schwierige Zeiten. Er würde sein Vertrauen nicht leichtfertig verschenken. Es könnte jemanden, der ihm wichtig war, den Kopf kosten.

Selena stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn böse an.

»Du glaubst doch nicht immer noch, dass ich Celeste vergiftet habe, oder? Ich habe mit diesem Anschlag nichts zu tun.«

Nate wartete auf das Prickeln auf der Haut, das Ziehen in der Brust. Das bekannte Gefühl, das ihn ergriff, wenn ihm jemand eine Lüge erzählte. Doch es setzte nicht ein.

»Nein, das glaube ich nicht. Aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich dir vertrauen kann.«

»Was kann ich tun, um dir das Gegenteil zu beweisen?«

»Du könntest mit der Wahrheit beginnen.«

Selena runzelte fragend die Stirn.

»Die Wahrheit worüber?«

»Was sagen dir die Atheos?« Diese Frage lag ihm schon lange auf der Zunge.

»Diese rücksichtslosen, fanatischen Rebellen?«, Verwirrung zeigte sich auf Selenas Gesicht.

»Ich habe von ihnen gehört.«

»Kennst du sie?« Er musste seine Fragen mit Bedacht wählen. Stellte er sie falsch, bekam er eine Antwort, bei der ihm seine Gabe nicht weiterhelfen würde.

Selena riss erstaunt die Augen auf.

»Nein! Woher sollte ich sie kennen?«

»Du kannst mich nicht anlügen, wenn ich dir eine direkte Frage stelle. Ilias’ Gabe verrät mir alles, was ich wissen will.« Seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig.

»Und du dachtest, dass ich mit diesen Rebellen unter einer Decke stecke?« Die Enttäuschung war deutlich in ihrer Stimme zu hören. Selenas Schultern hingen schlaff herab, als sie ihn kopfschüttelnd ansah.

»Ich musste sichergehen, dass du nicht lügst und die Krone hintergehst.« Er hätte jedem Fremden diese Frage gestellt. Und Selena war für ihn eine Fremde. Aber er ging noch weiter: Aus seiner Sicht könnte jeder verantwortlich für den Anschlag sein. Nate hatte ursprünglich sogar vorgehabt, alle Bewohner des Palastes diese Frage zu stellen, um so jeden von ihnen dazu zu zwingen, sich ihm und seiner Gabe zu stellen. Doch Emir war dagegen gewesen, weil es ihre eigenen Reihen schwächen und das Vertrauen in das Königshaus mindern würde.

»Dann haben wir das jetzt geklärt.« Ein harter Zug lag um ihren Mund, Selena wandte sich ab und starrte hinaus aufs Meer.

Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen ein Wort, dann brach Nate die Stille.

»Ich will sie brennen sehen für das, was sie getan haben.« Seine Stimme war geschwängert vom Durst nach Rache und Vergeltung. Selena begegnete diesen abscheulichen Empfindungen mit Verständnis.

»Ich verstehe dich. Sie haben jemanden verletzt, der dir wichtig ist.«

Nate stieß ein hartes Lachen aus.

»Tu nicht so, als würdest du sie mögen. Du warst bisher nicht auf ihrer Seite.«

Selena schüttelte den Kopf.

»Ich bin auf deiner Seite.«

Nate sah sie erstaunt an und raufte sich dann die blonden Haare.

»Warum?« Er konnte nicht verstehen, warum Selena noch immer so sehr an ihm festhielt.

»Ich verstehe dich einfach nicht. Dir muss doch klar sein, dass du rein gar nichts über mich weißt. Ich bin nicht mehr derselbe wie früher, Selena.«

Ihre hellblauen Augen taxierten ihn und ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen.

»Das ist mir bewusst, glaub mir. Das ändert aber nichts daran, dass ich auch Gefühle für dein jetziges Ich habe.«

Nate schwieg. Ihm war Selenas Offenheit unangenehm. Er wollte nichts über ihre Gefühle wissen. Nicht, wenn sie ihm galten.

Selena verstand sein Schweigen offenbar richtig und wechselte das Thema.

»Du wirst bald König sein und als solcher ist es deine Aufgabe, das Volk zu beschützen. Wie willst du das machen, wenn du diese Rebellen nicht zu fassen bekommst?«

Nate wusste, dass es nicht als Vorwurf gemeint war. Aber mit einem Mal spürte er die Last der Verantwortung auf seinen Schultern noch deutlicher. Und das Gefühl der Schuld.

»Ich weiß einfach nicht, wie ich sie aufspüren soll.« Es war ein Eingeständnis seines eigenen Versagens.

Selena trat einen Schritt auf ihn zu. Es trennten sie nur noch wenige Zentimeter. Sie legte ihre Hand über seine, die das Gelände umklammert hielt.

»Das Volk muss wissen, dass es sicher ist. Vielleicht würde es helfen, wenn die Ordensanhänger in ihren Regionen durch die Dörfer reisen. Sie könnten zu den Menschen nach Hause gehen, ihnen Unterstützung anbieten und mit ihnen über ihre Sorgen und Ängste sprechen. Das brächte dem Volk das Wirken der Götter und ihrer Vertreter, der Gotteskinder, wieder näher, bestärkte es in seinem Glauben und in dem Wissen, dass es Teil einer großen, starken Gemeinschaft ist, die füreinander da ist.«

Nate sah sie erstaunt an. Selena war noch nicht lange Teil dieser Welt. Sie wusste kaum etwas über Politik und Strategie.

»Die Idee ist gar nicht schlecht. Würde ich das Militär aufstocken, stiftete das nur Unsicherheit und Angst. Friedvolle Ordensanhänger, die das Gespräch mit den Menschen suchen, sorgen für das Gegenteil.«

Bei seinen Worten begann Selenas Gesicht zu strahlen und das Blau ihrer Augen wurde noch heller. Sie nickte begeistert.

»Genau dieser Meinung waren auch Ayla und ich, als wir uns über die Lage im Land ausgetauscht haben. Es wäre eine Wanderung im Namen des Prinzen. Und wenn die Ordensanhänger uns anschließend von ihrer Reise Bericht erstatten, bekommen wir vielleicht sogar das ein oder andere aus dem Volk über die Atheos zu hören«

Nate nickte. Warum war er nicht selbst auf diese Idee gekommen? Das hätte ihm einige schlaflose Nächte erspart.

»Ich werde das gleich morgen früh mit Lord Adrian besprechen. Und danke, dass du mir geholfen hast, Celeste zu retten.«

Selena tat seine Worte kopfschüttelnd ab. Das Lächeln verließ dabei ihre Lippen nicht.

»Das war selbstverständlich.«

»Trotzdem bedeutet es mir viel.«

»Für dich würde ich alles tun, Nate.« Sie drückte seine Hand fester. Nate zog seine sanft aus ihrem Griff.

»Sag so etwas nicht.«

Sie nahm seine Hand wieder in ihre und sah ihm in die Augen. Das Lächeln lag noch immer auf ihren Lippen, doch in ihren Augen spiegelte sich jetzt Entschlossenheit wider.

»Noch hast du dich nicht endgültig entschieden. Noch habe ich Zeit, dich für mich zu gewinnen.«

Nate sah sie sprachlos an. Es war ihr Ernst. Sie glaubte wirklich, dass er sich noch umentscheiden würde. Dass er sie wählen würde.

»Selena, ich …«, Nate wusste nicht, was er sagen sollte. Also brach er den bereits begonnenen Satz ab und biss sich nur auf die Unterlippe.

Selena legte ihre Hand an seine Wange und Nate sah sie stumm an. Der Blick aus ihren blauen Augen bohrte sich in ihn.

»Ich will das Mädchen sein, in das du dich verliebst, während alle anderen sich in dich verlieben.«