KAPITEL 16

EINSAME HERZEN

Vignette

Iolana – vor 50 Jahren

Mit schwerem Herzen ging Iolana die Treppe im Inneren des Sonnenpalastes hinunter. Ihre Zeit hier war vorbei. Das Land hatte eine neue Königin und die Priesterinnen würden wieder den Pflichten in ihren Provinzen nachkommen. Sie konnte endlich nach Hause zurückkehren. Zu ihren Bergen und Hügeln, weit ab von der Hektik und Heuchelei des Hofes. Bei diesem Gedanken sollte ihr eigentlich eine Last von den Schultern fallen. Stattdessen drückte ein zentnerschweres Gewicht auf ihre Brust und raubte ihr beinahe den Atem. Keine einzige Minute länger wollte Iolana an diesem Ort verbringen. Ein Ort, der ihr nichts als Schmerz bereitet hatte. Sie redete sich ein, dass Samara ihre Wunden heilen würde. Dass genügend Abstand zu ihm ausreichen würde, um ihr Herz genesen zu lassen. Doch tief in sich wusste Iolana, dass sie sich irrte. Keine Entfernung wäre groß genug, keine Zeit lang genug, um die Erinnerungen verblassen zu lassen. Die Sehnsucht. Den Schmerz.

Schnellen Schrittes durchquerte sie die Empfangshalle. Es war noch so früh am Morgen, dass sie keiner Menschenseele begegnete. Genauso, wie sie es erhofft hatte. Nach der gestrigen Feier lagen die Gäste noch in ihren Betten und die Bediensteten hatten alle Hände voll zu tun, den Festsaal wiederherzurichten. Iolana hatte bereits gestern Nacht die Anweisung gegeben, ihr Gepäck in ihre Kutsche bringen zu lassen. Nur so war ihre schnelle und unauffällige Abreise zu gewährleisten.

Als sie die schweren Eingangstüren erreichte, hielt sie inne. Es war vorbei. Wenn sie das nächste Mal in die Hauptstadt kommen sollte, dann nur in ihrem Amt als Priesterin, als Abgesandte ihrer Region. Es würde um Politik gehen, um Soziales. Aber nicht mehr um Liebe. Nie wieder würde sie ihm so begegnen wie jetzt. Sie ließ die Hand, die sie bereits erhoben hatte, um den Knauf zu drehen, wieder sinken.

Wenn man sich dem Ende nähert, erinnert man sich immer an den Anfang. Das Bild eines neugierigen jungen Mannes, der mit hochgekrempelten Hosenbeinen im Schlossteich stand, schoss ihr durch den Kopf. Sein atemberaubendes Lächeln, das ihr Herz zum Schmelzen brachte. Seine Arme, die ihren Körper fest umschlossen. Und seine Lippen, die so weich auf ihren lagen.

All das gehörte der Vergangenheit an oder war Teil einer Zukunft, die niemals eintreffen würde. Wenn sie aus dieser Tür gehen und in ihre Kutsche steigen würde, wären diese Erinnerungen für immer in ihrem Herzen eingeschlossen. Dieser eigentlich so kleine Schritt, die Endgültigkeit dahinter, schnürte Iolana die Kehle zu, ließ ihr Herz protestierend schneller schlagen und ihre Brust eng werden. Sie war nicht bereit, loszulassen. Aber sie musste es. Der Mann ihres Herzens gehörte nun einer anderen. Er war nicht mehr der ihre. Und diese Tatsache musste sie akzeptieren. Es war ihre Entscheidung gewesen, ihn von sich zu stoßen. Nun musste sie mit den Konsequenzen leben.

»Willst du wirklich gehen, ohne dich zu verabschieden?«, eine sanfte Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Eine Stimme, die sie unter tausenden wiedererkennen würde und die sie nachts in ihren Träumen verfolgen würde. Langsam drehte Iolana sich zu ihm um.

Miro stand am Treppenabsatz, gekleidet in ein einfaches, weißes Hemd und dunkelbraune Lederhosen. Die dunklen Haare standen ihm wild vom Kopf ab und sein Blick aus sturmgrauen Augen ruhte auf ihr. Trauer und Bedauern lagen in seinem Blick, das konnte Iolana selbst auf diese Distanz erkennen. Und es brach ihr das Herz. Niemals hatte sie ihm wehtun wollen, hatte niemals diesen Ausdruck in seinen Augen sehen wollen. Es war ihre Schuld. Sie hatte ihrer beiden Leben zerstört und ihnen nichts als Kummer gebracht. Niemals würde sie sich das verzeihen können.

»Ich hielt es für das Beste, wenn ich einfach gehe.«

Etwas anderes ertrug sie nicht. Ihn dort oben stehen zu sehen und zu wissen, dass er die Nacht in den Armen einer anderen verbracht hatte, zerriss ihr das Herz.

Miro fuhr sich mit der Hand über den Mund. Sein Blick glitt zu Boden. Er wusste nicht, was er sagen sollte und Iolana ging es genauso. Für diesen Abschied gab es keine Worte. Denn es war ein Abschied, den keiner von ihnen vorhergesehen hatte. Auf den sie nicht vorbereitet gewesen waren. Wie fand man die richtigen Worte, wenn das Herz die Trennung noch nicht verstanden hatte – und vielleicht auch niemals verstehen würde?

»Das Beste für mich oder das Beste für dich?« Traurige graue Augen blicken zu ihr hinab und Iolana vermutete, dass dieselbe Trauer auch in ihren Augen zu sehen war.

»Das Beste für uns beide. Es macht es für keinen von uns beiden leichter, wenn ich bleibe. Du hast eine Frau, um die du dich kümmern musst, und ich muss meine Pflichten in Samara wieder aufnehmen wie gewohnt. Es wird Zeit, dass ich gehe.«

Iolana konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Ertrug die Zerrissenheit darin nicht. Nur ein Blick in seine Augen und ihre Entschlossenheit würde ins Wanken geraten. Sie wollte tapfer sein, an ihrem Entschluss festhalten, doch in diesem Augenblick schoss der Zweifel durch ihre Adern wie Gift.

»Du hast uns das angetan. Wir hätten glücklich sein können. Seite an Seite dieses Land regieren können, aber du hast dich gegen mich entschieden.« Seine Stimme brach am Ende und Iolana sah nun doch zu ihm auf. Tränen schimmerten in seinen Augen und ihr stockte der Atem. Miro hatte recht. Es war ihre Schuld. Sie hatte ihnen die gemeinsame Zukunft verwehrt.

»Ich habe mich nicht gegen dich entschieden«, das hätte Iolana niemals gekonnt, »sondern für Sirion.« Sie war eine Priesterin dieses Landes und als solche dem Wohle des Volkes Untertan. Und ein Bündnis zwischen Miro und Nanami war das einzige richtige Zeichen in dieser so schwierigen Zeit. Sirion musste an erster Stelle stehen. Immer.

»War es das wert? Steht das Wohle aller immer gegen das Wohl des Einzelnen, das Wohl des Volkes gegen zwei Menschen, die sich lieben?«

Iolana sah ihn an, sie spürte die Tränen in ihren Augen und versuchte sie zurückzuhalten. Sie durfte nicht weinen. Nicht vor ihm. Tränen bedeuteten Schwäche und Schwäche war die eine Sache, die sie sich nicht erlauben durfte.

»Ja«, flüsterte sie. Denn sie hatte Recht behalten. Als Miro verkündet hatte, dass er Nanami zur Braut nehmen würde, hatte sich das sirenische Volk fast schlagartig beruhigt. Und kurz nach seiner Krönung, die noch vor der Hochzeit stattgefunden hatte, wurde auch das Versprechen, Vorräte aus Samara, Solaris und Silvina zu schicken, erfüllt. Die Krise in Sirena war vorüber, vielleicht ein Bürgerkrieg abgewendet worden und der Frieden in Sirion hatte wieder Bestand.

Bei ihrer Antwort zuckte Miro zusammen und Iolana wusste, dass sie ihn mit diesem einen Wort endgültig gebrochen hatte.

Sie hatte das Richtige getan. Zumindest versuchte ihr Verstand, ihr Herz davon zu überzeugen. Der Schmerz in ihrer Brust sprach eine andere Sprache.

Doch wenn sie Miro gegenüber jetzt zugab, dass sie ebenso zweifelte, würde er sie nicht gehen lassen. Er würde einen Funken Hoffnung verspüren, der nicht existieren durfte.

»Leb wohl, Miro.«

Iolana zwang sich zum Lächeln. Miro sah sie an, unsicher, was er tun oder sagen sollte. Er wollte sie aufhalten, wollte nicht, dass sie ihn verließ. Iolana konnte den Zwiespalt in seinen grauen Augen sehen. Aber er war schon verheiratet und gehörte einer anderen. Er hatte kein Recht und keine Möglichkeit mehr, sie hierzubehalten. Bevor er sich entscheiden konnte, drehte Iolana sich um. Sie ergriff den Türknauf und überschritt die Schwelle. Sie ließ Solaris hinter sich. Ließ Miro und das Leben, das sie mit ihm hätte führen können, hinter sich. Sie drehte sich nicht noch einmal nach dem Mann um, der ihr Herz besaß.

***

Iolana – Vor 18 Jahren

Die Nachricht verbreitete sich im Palast von Samara wie ein Lauffeuer. Iolana eilte zum Haupttor. Ihr Herz schlug in einem ungewöhnlich schnellen Takt. Sie raffte ihre Röcke, um die Stufen schneller hinabsteigen zu können. Sie war nicht mehr die Jüngste und kam leicht aus der Puste. Auf halber Stecke begegnete sie Wilma. Ihrer treuen Freundin und begabten Köchin. Wilma hatte die blonden Locken hochgebunden und rote Flecken auf den Wangen. Sie musste hierher gerannt sein.

»Hast du es gehört? Ist es wahr?«

Iolana zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden es bald erfahren.« Gemeinsam erreichten sie das Haupttor, wo sich bereits eine Menschenmasse versammelt hatte. Soldaten und Ordensschwestern tummelten sich in Gruppen. Als sie die Priesterin erblickten, teilte sich die Menge. Iolana lief durch die schmale Gasse von Menschen und fand sich zwei Soldaten gegenüber, die einen Weidenkorb zwischen sich hielten. Leises Quengeln war daraus zu hören.

»Mylady, wir haben Euch erwartet.«

Iolana nickte dem Mann zu. »Zeigt mir das Kind.«

Der Mann hielt den Korb vorsichtig vor seiner Brust. Darin lag in cremefarbene Leinen ein Neugeborenes gewickelt. Roter Flaum bedeckte das Köpfchen und die kleinen Fäuste waren erhoben, während das Kind leise weinte.

»Hat jemand gesehen, wer das Kind abgegeben hat? Lag ein Brief dabei?« Iolanas blaue Augen lagen bei ihren Worten noch immer auf dem weinenden Baby. Sie streckte die Hände aus und nahm das kleine Bündel in ihre Arme. Sofort hörte das Kind auf zu weinen und blickte sich mit neugierigen Augen um. Noch nie hatte Iolana ein Neugeborenes in den Armen gehalten und der Anblick dieses kleinen Menschen ließ Glück durch ihre Adern fließen.

»Bedaure, Priesterin. Das Kind wurde in der Nacht an einer der Brücken abgelegt und niemand hat etwas gesehen. Wir haben den Korb genauso zu Euch gebracht, wie wir ihn vorgefunden haben. Kein Brief oder Hinweis zum Verbleib der Mutter.«

Iolana nickte resigniert. Wer war imstande, ein solch liebliches Geschöpf auszusetzen? Welche Mutter trennte sich von ihrem Kind? Zärtlich strich Iolana über die Wange des Babys, das daraufhin ein Glucksen ausstieß. Iolana hielt das Kind höher und legte es sich gegen die Brust, sodass ihre Wange den Kopf des Neugeborenen berührte. Ein Raunen ging durch die Menge. Erstickte Schreie, gepaart mit entsetztem Keuchen.

»Priesterin! Seht doch, im Nacken des Kindes!«

Iolana sah den Soldaten verwirrt an, hielt das Baby etwas von sich weg und drehte es. Erstaunt riss sie die Augen auf. Den Nacken des Kindes zierte eine verschlungene Triskele. Ohne sich darüber bewusst zu sein, hielt Iolana ihre Nachfolgerin in den Armen.

Schon vor zwei Tagen hatte sie gespürt, dass ihre göttlichen Fähigkeiten verschwunden waren. Ein Zeichen dafür, dass ein neues Gotteskind erwählt worden war. Und genau das hielt sie gerade in den Armen. Ein Mädchen mit einer Haut wie Alabaster und Haaren so rot wie Kirschen. Die Augen der Kleinen waren noch blau, aber die Farbe konnte sich im Laufe der nächsten Wochen noch ändern. Es war ein schönes Kind. Eine würdige Nachfolgerin.

Nach dreißig langen Jahren, nach gebrochenen Herzen und verletztem Stolz, betrachtete Iolana das kleine Bündel in ihren Armen und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Im selben Moment, als die ersten Tränen über ihre Wange liefen. Ein kleines Mädchen, wunderschön, mit roten Locken auf dem Kopf, konnte mit einem einzigen Glucksen jene Wunde heilen, die seit Jahrzehnten in Iolanas Brust klaffte. Dieses kleine Wesen, dem eine so große Zukunft vorherbestimmt war, ließ die Trauer von ihr abfallen. Selig betrachtete Iolana die neue Priesterin. Sie hoffte, dass es diesem Mädchen besser ergehen würde als ihr. Dass sie die Liebe finden würde und in der Lage wäre, sie anzunehmen. Iolana wollte unter keinen Umständen, dass ihrer Nachfolgerin dasselbe Leid wie ihr widerfahren würde. Die neue Tochter des Himmels sollte glücklich werden und Freude in ihrem Leben kennen. Aber ganz besonders wünschte Iolana ihr Mut. Mut, um zu ihren Gefühlen zu stehen und Mut, um ihrem Herzen zu folgen. Egal, wohin es sie führen sollte.

Trotz des lauten Geredes der Palastangestellten, des Getuschels und der fragenden Rufe, nahm Iolana das Kind fester in ihre Arme und drehte der Menschenmenge den Rücken zu. Mit dem Neugeborenen auf dem Arm lief die Priesterin zurück in den Palast und ließ die Stimmen hinter sich.

»Priesterin, was soll mit dem Kind geschehen? Wer soll für es sorgen?», es war Wilma, die an Iolanas Seite eilte und das kleine Mädchen neugierig ansah. Iolana betrachtete die Köchin mit gütigen Augen. Diese Frage war leicht zu beantworten. Sie würden es gemeinsam tun. Aber als Vormund für das kleine Menschenwesen hatte Iolana eine ganz besondere Frau im Sinn. Eine junge Frau voller ungeteilter Liebe, Geduld und Stärke.

»Bring Simea zu mir«, verkündete die Priesterin.

Wilma sah sie erschrocken an.

»Simea? Aber sie ist gerade einmal achtzehn Jahre alt.«

Iolana nickte. Sie war sich dessen bewusst, aber in diesem Fall beeinflusste das junge Alter ihre Entscheidung nicht. Simea war eine recht stille Person, die auf den ersten Blick beinahe unscheinbar wirkte. Und doch beobachtete sie alles, was im Palast vor sich ging, ganz genau und bildete sich ihre eigene Meinung. Das hatte Iolana längst erkannt. In den wenigen längeren Gesprächen, die sie mit Simea geführt hatte, waren deren Äußerungen stets bedacht, umsichtig und intelligent gewesen. Sie hatte das große Ganze im Blick. Und sie besaß dabei die wundersame Mischung von Distanziertheit und Empathie, sie konnte sich in andere hineinversetzen, ohne rührselig zu werden.

Die junge Frau war schon früh dem Orden beigetreten und hatte ihr Leben den Göttern verschrieben. Iolana war sich sicher, dass sie eine große Zukunft vor sich hatte. Vielleicht sogar als nächste Septa von Samara. Darüber würde Iolana mit Skylar sprechen, die das Amt derzeit innehatte. Doch noch war Simea zu jung, um sich um das Volk von Samara und ein Kind zu kümmern. Irgendwann aber würde sie eine wichtige Rolle für das Land spielen. Ebenso wie das Neugeborene in ihren Armen, das gerade leise vor sich hin gluckste und blubberte. Sie würden sich in einigen Jahren auf gewisse Weise gut ergänzen und bis dahin wäre Simea der Kleinen eine kluge und unaufgeregte Lehrmeisterin.

»Ich bin mir sicher, dass sie diesem kleinen Mädchen der perfekte Vormund sein wird.«

Sie strich dem schlafenden Mädchen zärtlich über den Kopf und brachte es an den erstaunten Gesichtern der Wachen vorbei in den Palast. In ihr neues Zuhause.

***

Noch am selben Abend stand Iolana auf ihrem Balkon. Der süße Sommerwind wehte um ihr Gesicht, sodass die braunen Locken flogen, die mit den Jahren von weißen Strähnen durchzogen worden waren. Ihr Blick lag auf den Bergen mit ihren weißen Spitzen. Ihre Heimat war ihr der einzige Trost gewesen, den sie all die Jahre gehabt hatte. Bis heute. Bis sie in das Antlitz dieses kleinen Mädchens mit der Triskele im Nacken geblickt hatte. Dieses Kind verkörperte die Zukunft, Iolana selbst die Vergangenheit. Ihre Zeit war vorüber. Ihre Pflicht war erfüllt. Darum hatte auch nicht sie selbst die Vormundschaft über das Kind übernommen, auch wenn sie es noch so gern gewollt hätte. Sie spürte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

Iolana lächelte. In ihr breitete sich eine Ruhe aus, die sie seit Jahren nicht verspürt hatte. Sie ging zurück in ihr Zimmer und betrachtete das Pergament auf dem Tisch: die Ankündigung an den König, dass eine neue Tochter des Himmels geboren worden war. Iolana war die Letzte der Riege der alten Priesterinnen. Nanami und Lillian hatten ihr Amt bereits niedergelegt, nun war sie an der Reihe. Iolana las den Namen, den Simea, der stolze, neue Vormund des Kindes, ausgesucht hatte.

Celeste – himmelblau. Ein schöner Name für ein schönes Kind.

Ein Lächeln umspielte Iolanas Lippen, als sie an das überraschte Gesicht von Simea dachte, der sie die frohe Botschaft verkündet hatte. Simea hatte sie immer wieder gefragt, ob sie sich sicher sei. Doch an Iolanas Entscheidung gab es nichts zu rütteln. Und obwohl in Simeas hellblauen Augen Sorge und Zweifel deutlich zu sehen gewesen waren, saß sie kurz darauf in einem großen Lehnsessel im Roten Salon. Das kleine Mädchen hatte friedlich in ihren Armen geschlafen. Niemals hatte Iolana eine stolzere junge Frau gesehen als Simea in diesem Augenblick. Ihre Augen hatten geleuchtet. Vor Freude und vor Glück. Sie hatte dem kleinen Mädchen ein Wiegenlied vorgesungen und es sanft in den Armen gewiegt. Iolana hatte diesen Anblick befriedigt nickend zur Kenntnis genommen. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.

Sie nahm den Füller zur Hand und unterzeichnete das Papier. Daneben lag der Brief, den Iolana schon hunderte Male geschrieben, aber niemals abgeschickt hatte.

»Miro«, stand in einfachen Buchstaben darauf. Es war der letzte Brief, ihre letzten Worte an ihn. Ihr Ende war gekommen, das spürte Iolana deutlich in ihrem Inneren. Ihre Göttin rief nach ihr und Iolana wollte diesem Ruf folgen. Sie legte die Dokumente auf ihr Bett und setzte sich zurück auf den Balkon. Sie wickelte die hellgraue Decke um ihren Körper. Ihr Blick ruhte wieder auf den Bergen von Samara. Hier war sie aufgewachsen, hatte gelebt, gelacht und gelitten. Es war ihr Zuhause. Sie hoffte, dass auch ihre Nachfolgerin die Stadt so lieben würde, wie sie es tat. Schon sehr bald würde das Volk Samaras seine neue Priesterin feiern, würde das kleine Mädchen in der Welt willkommen heißen.

Mit dem Gedanken an einen jungen Mann, den sie in den Gärten von Solaris kennengelernt hatte, der ihr Herz geraubt und ihr Innerstes verzaubert hatte, schlief Iolana ein. Und erwachte in den Armen ihrer Göttin.