Nathaniel
Nate stapfte wütend hinunter auf das Trainingsgelände im Innenhof. Er musste ein Ventil für seinen Zorn finden, sonst würde er noch jemandem an die Kehle gehen.
Er hatte Celeste nicht anschnauzen wollen. Und ganz besonders wollte er nicht diesen Ausdruck in ihren karamellfarbenen Augen sehen. Enttäuschung. Er war es leid, jeden um sich herum zu enttäuschen. Ganz besonders sie.
»Du siehst wütend aus. Gibt es Probleme mit deinem Vater?« Nike stand in ihrer ledernen Rüstung vor einer der Trainingspuppen und polierte ihre Messer. Ihr rechter Mundwinkel zuckte.
Nate stieß ein frustriertes Seufzen aus.
»Du weißt es also auch schon?« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Sein Wunsch, die Sache unter den Teppich zu kehren, würde wohl nicht in Erfüllung gehen.
»Ich fürchte, jeder weiß es. Du warst nicht gerade diskret.« Nike lachte leise und verstaute die Messer an den Vorrichtungen an ihrem Gürtel.
Nate betrachtete seine Leibwächterin. Auch wenn er sie anfänglich nicht sonderlich gemocht hatte und noch immer der Meinung war, dass er keinen zusätzlichen Schutz benötigte, war ihm Nike mit der Zeit ans Herz gewachsen. Sie war eine starke Frau, die sich in einer männerbestimmten Welt behauptet hatte. Das mochte er an ihr. Und er musste mit jemandem über das Geschehene sprechen. Warum also nicht mit Nike, die ihm treu zur Seite stand?
»Ich hätte nicht auf ihn losgehen sollen.«
»Das wäre vernünftiger gewesen.«
Nate beobachtete sie mit gerunzelter Stirn.
»Ihr als meine Leibwächterin hättet mich davon abhalten sollen.«
Die blonde Nike zuckte nur mit den Schultern.
»Das hätte ich tun können, aber seien wir ehrlich: Karim hatte den Schlag verdient. Jetzt seid ihr quitt.«
Ein Kopfschütteln war die Antwort.
»Ich brauche keinen Vater«, flüsterte Nate. Jetzt nicht mehr.
»Wem sagst du das?«, lachte Nike verbittert. »Ich könnte auf meinen ebenso verzichten.« Nate musste zugeben: Nike und Kiah hatte mit ihrem Vater wohl das schlechteste Los ereilt.
»Wie gehst du damit um, dass Lamont hier ist?« Der Lord war nicht einfach. Wenn Nate ehrlich war, war Lamont sogar ein riesengroßer Mistkerl. Dass gerade seine zwei Kinder zu Nates engsten Vertrauten zählten, war irgendwie paradox.
Nike schnaubte.
»Abgesehen von einigen mörderischen Blicken, gehen wir uns aus dem Weg. Wenn es nach meinem Vater ginge, existierte ich gar nicht.« Auch wenn Nike immer die Starke gab, sah Nate das Bedauern und den Schmerz in ihren blauen Augen. Es musste hart sein, unter einem Vater wie Lamont aufzuwachsen.
»Das tut mir leid, Nike.« Ein weiterer Grund, warum Nathaniel kein Bedürfnis danach verspürte, plötzlich einen Vater zu haben. Kein Vater war immerhin besser als ein herzloser wie Lamont. Oder ein ehrenloser wie Karim. Kein Vater konnte einen weder enttäuschen noch verletzen.
»Muss es nicht. Ich hatte einen fabelhaften Ersatz.« Ein zurückhaltendes Lächeln umspielte Nikes Mundwinkel.
Nate hob nur eine Augenbraue. »Wen meinst du?«
»König Miro. Er war zu mir eher wie ein Vater als mein eigener. Er hat mich immer verstanden und unterstützt.«
Nate lächelte.
»Das ist wohl seine Art.« Auch wenn der König keine eigenen Kinder hatte, war er das perfekte Vorbild. Und ehrbarer Vaterersatz.
»Miro ist auch für dich eine Vaterfigur, stimmts? Allerdings hast du mit Karim mehr Glück als ich mit Lamont«, sagte seine Leibwächterin mit sanfter Stimme.
Nate biss die Zähne zusammen.
»Ansichtssache.« Karim war kein guter Vater. Das hatte er bereits von Noah erfahren. Und Nathaniel wagte zu bezweifeln, dass sich das ändern würde.
»Ich habe mich mit Celeste gestritten«, gestand er nach einem kurzen Moment des Schweigens. »Wir haben unterschiedliche Ansichten, was die Sache mit Karim betrifft.«
Nike nickte.
»Sie will, dass du ihm eine Chance gibst?«
Er nickte.
»Ja. Aber das kann ich nicht.«
»Wieso nicht?«
Dieselbe Frage hatte ihm auch Celeste gestellt. Eine zufriedenstellende Antwort hatte Nate ihr nicht geben können. Und auch Nike würde er sie schuldig bleiben.
»Meine Mutter ist tot und kommt nicht zurück. Er hat mich und sie einer wichtigen Zeit unseres Lebens beraubt – sie mit ihm als Mann, mich mit ihm als Vater. Ich kann ihm das nicht verzeihen. Celeste hält um jeden Preis am Konzept der heilen Familie fest. Aber die ist für mich auf immer zerstört. Und das versteht sie einfach nicht.« Celeste war von ihren eigenen Gefühlen zu sehr eingenommen, um seine Sicht der Dinge zu akzeptieren.
»Kannst du ihr das wirklich verübeln?«, Nike hatte die Hände in die Hüften gestemmt und funkelte ihn etwas herablassend an.
»Hör gefälligst auf, Partei für sie zu ergreifen!« Es hatte ihm gerade noch gefehlt, dass er sich nun auch noch von Nike eine Standpauke anhören musste.
»Aber hast du mal daran gedacht, wie es ihr damit geht?« Seine Leibwächterin schüttelte verärgert den Kopf. Wenn Nate ehrlich war, dann hatte er das nicht. Ihn hatten nur seine eigenen Probleme interessiert.
»Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Nach dem Anschlag auf sie war nichts mehr wie es war. Ich bin ständig wütend und das lasse ich an allen um mich herum aus.« Er starrte auf seine Hände, die leicht zitterten. Warum ihn ständig diese Wut packte, wusste Nate selbst nicht genau zu sagen. Jeder Grund schien ihm ein willkommener zu sein, um seinen Zorn wieder aufleben zu lassen.
»Ist mir schon aufgefallen«, gab Nike trocken zu.
Nate sah sie an und wandte den Blick direkt wieder ab. Erneut ein enttäuschter Gesichtsausdruck. Er war es so leid. Er war sich selbst so leid.
»Das bin doch nicht mehr ich. Ich habe gelernt, mit meiner Wut umzugehen, dank ihr. Aber jetzt … sie treibt mich in den Wahnsinn mit ihrem Gerede von zweiten Chancen.«
Warum konnte Celeste nicht einfach auf seiner Seite sein? Er war noch nicht so weit, um vernünftig über die Sache mit Karim nachzudenken. Ihre Logik half ihm nicht weiter.
»Der Mensch, der das Beste in dir zum Vorschein bringt, bringt auch gleichzeitig das Schlechteste hervor.«
Er ließ sich Nikes Worte durch den Kopf gehen. Ihm wäre es lieber, wenn Celeste nur das Beste in ihm hervorbrächte. So wie in den letzten Wochen und Monaten. So wie vor dem Anschlag auf sie.
»Du magst sie, kann das sein?«, fragte er Nike mit hochgezogener Augenbraue.
Nike gehörte nicht zu den Menschen, die offen über ihre Gefühle sprachen. Daher verstand sich Nate auch so gut mit ihr. Seine Leibwächterin zuckte mit den Schultern.
»Sie ist in Ordnung. Nicht auf den Mund gefallen und sie hat etwas im Kopf. Wenn ich ganz ehrlich sein darf: Sie ist zu gut für dich.« Sie grinste ihn an und Nate konnte nicht anders, als ebenfalls zu grinsen.
»Solltest du nicht eigentlich auf meiner Seite sein?«
Die Blondine stieß ein Stöhnen aus.
»Ich werde dafür bezahlt, dich zu beschützen. Niemand verlangt, dass ich dir in den Hintern kriechen muss.«
***
Nathaniel
Nach dem Gespräch mit Nike hatte Yanis ihm verkündet, dass Besuch auf ihn wartete. Nate hatte keine Ahnung, wer auf ihn wartete. Sämtliche seiner Höflinge grollten ihm, weil er Noah ohne Vorwarnung verstoßen hatte, ebenso wie Celeste. Und Karim wusste, dass Nate ihm aus dem Weg gehen wollte. Er nahm gerade die letzte Stufe, als er ein helles Lachen hörte.
»Wenn das nicht der schönste Prinz des Landes ist.«
Erstaunt sah Nate die Frau an, zu der diese Stimme gehörte, und seine Augen weiteten sich.
»Lilian. Was tust du hier?«
Die ehemalige Priesterin von Silvina stand in ihrer vollen Pracht vor ihm. Edle Stoffe umhüllten ihren Körper und sie wirkte noch immer wie eine Frau von Hofe.
»Vor einigen Wochen hat mir eine sehr besorgte Priesterin geschrieben, dass du Hilfe brauchen könntest. Und hier bin ich.« Sie schenkte ihm ein seliges Lächeln, das Nate erwiderte. Er hatte die alte Dame vermisst. Auch wenn sich Lilian für ihr Alter sehr gut gehalten hatte. Sie umgab eine Aura voller Eleganz und Anmut. »Ich danke dir.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Nate nicht gewusst, wie sehr er sich Unterstützung gewünscht hatte. Miro war nicht hier. Ihm fehlte ein Vertrauter, der Erfahrung hatte. Jemand wie Lilian. Und er konnte sich nur zu gut vorstellen, wer nach der ehemaligen Priesterin geschickt hatte. Das schlechte Gewissen machte sich wieder in ihm bemerkbar und Nate biss die Zähne zusammen.
»Das musst du nicht.« Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam wanderten sie durch den Palast. Einige der Bediensteten, die das Gotteskind erkannten, neigten demutsvoll die Köpfe. Lilian lächelte unentwegt.
»Ich bin so froh, dass du hier bist«, flüsterte Nate ihr zu.
Lilian hielt im Gehen inne, sah ihn an und ein Schatten legte sich über ihre blauen Augen.
»Ich habe gehört, was mit Celeste passiert ist. Wie geht es ihr?«
Nate knirschte mit den Zähnen. Er hatte diese Frage schon unzählige Male gestellt bekommen.
»Sie hat den Anschlag besser verkraftet als ich, vermutlich.«
Lilian nickte.
»Celeste ist sehr stark. Sie wird darüber hinwegkommen. Und wie geht es also dir?«
Ihre blauen Augen musterten ihn besorgt und Nate wandte den Blick ab. Doch er überspielte sein Unbehagen mit einem Lachen.
»Soll das etwa heißen, dass ich nicht stark bin?«
Lilian stieg nicht auf seinen Scherz ein. »Das habe ich nicht gesagt. Es macht nur einen großen Unterschied, ob du selbst verletzt wirst oder jemand, den du liebst. Bei Letzterem zeigen wir unser wahres Ich.«
Sie sah bei ihren Worten geradeaus und Nate musterte ihr Profil. In jungen Jahren musste Lilian eine wunderschöne Frau gewesen sein, daran zweifelte Nate nicht eine Sekunde lang. Ihre blonden Haare wurden von einzelnen grauen Strähnen durchzogen, doch das schmälerte ihre Schönheit auch heute noch nicht.
Nate biss sich auf die Unterlippe.
»Ich bin mir nicht sicher, was mein Wahres Ich ist.« Er hatte in seinem Leben schon zu viele Rollen gespielt. Ein glückliches Kind, eine Waise, einen Dieb, einen Verbrecher, einen Schmied. Und nun ein Gotteskind. Nate wusste nicht, wer er wirklich war.
»Dann lass mich dir dabei helfen, es herauszufinden«, Lilian drückte sacht seinen Arm. »Ich kann dir zumindest versichern, dass du auf dem richtigen Weg bist.« Ein Grinsen umspielte ihre Mundwinkel.
»Komm, ich habe gehört, mein liebreizender Enkel Yanis hat Gebäck und Tee für uns vorbereitet.«
Als sie einen der unzähligen Salons des samarischen Palastes erreicht hatten, setzte sich Lilian auf ein hellblaues Sofa und schenkte ihnen beiden Tee ein. Die Fenster gaben den Blick auf die verschneiten Berge frei.
»So, mein Hübscher, nun erzähl mir: Was gibt es Neues am Hof?« Sie nippte an ihrer Tasse und sah erwartungsvoll zu ihm auf. Nathaniels Miene wurde ausdruckslos. Es war viel in letzter Zeit passiert und er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Schamgefühle durchfluteten ihn. Er hatte Fehler begangen, die er Lilian gegenüber nicht zugeben wollte. Also schwieg er.
In Lilians hellblauen Augen spiegelte sich Sorge wider und sie griff nach seiner Hand.
»Ich weiß es bereits. Ein solches Geheimnis verbreitet sich schnell. Möchtest du darüber reden?«
Nate schluckte, nickte dann aber.
»Karim ist mein Vater.« Sein Mund war bei diesen Worten wie ausgetrocknet und es fühlte sich seltsam an, diese Erkenntnis laut auszusprechen. »Wir hatten beide keine Ahnung, doch jetzt wissen wir es. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zusagen.«
»Das klingt aber anders. Wie mir scheint, hast du eine ganze Menge dazu zu sagen, mein Lieber.« Sie lächelte ihn aufmunternd an.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich bin so wütend auf ihn. Einmal, weil er meiner Mutter das angetan und nicht zu ihr gestanden hat. Aber vor allem, weil ich jetzt auch auf meine Mutter wütend bin. Denn ich muss ständig daran denken, dass sie mich all die Jahre belogen hat. Wenn sie mir und auch ihm die Wahrheit gesagt hätte, wäre sie heute vielleicht noch am Leben. Diese Unsicherheit nagt an mir«, flüsterte er, während sich seine Hände zu Fäusten ballten. Karim war immer schon ein wohlhabender Lord gewesen. Und Cara hatte schließlich sterben müssen, weil sie sich die dringend benötigte Medizin nicht hatten leisten können. Auch wenn Karim in Nates Ansehen gerade nicht besonders hoch im Kurs stand, zweifelte er keine Sekunde daran, dass der Lord seiner Mutter sofort geholfen hätte. Immerhin hatte er sie geliebt.
Lilian seufzte und beugte sich zu ihm vor.
»Ich glaube, du solltest versuchen, dir nicht über das ›Was wäre, wenn‹ den Kopf zu zerbrechen. Es ist geschehen und es gibt nichts, was du daran noch ändern könntest.«
Er ließ die Worte der ehemaligen Priesterin auf sich wirken. Das sagte sich so leicht. Seitdem er die Wahrheit kannte, wurde er abwechselnd von Zorn und Trauer erfüllt. Als könnte er sich selbst nicht entscheiden, was er fühlen sollte.
»Nathaniel, deine Mutter ist gestorben und es war ihre Entscheidung, dir nicht zu sagen, wer dein Vater ist«, ein ganz leises Lächeln umspielte Lilians Mundwinkel. »Nun ist es deine Entscheidung, wie du mit diesem Wissen umgehst.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, wisperte er.
Lilian nickte.
»Was hätte deine Mutter gewollt, was du tust? Wenn jemals herausgekommen wäre, wer dein Vater ist und die Möglichkeit bestanden hätte, ihn kennenzulernen, was hätte sie die geraten?«
Über diese Frage musste Nate nachdenken. Cara war eine gütige Frau gewesen, die keinesfalls nachtragend war. In ihrem Herzen war kein Platz für Groll gewesen. Doch Cara hatte sich auch dazu entschlossen, ihm die Identität von Karim zu verheimlichen. Allerdings, weil Karim verheiratet und ein Leben mit ihm aussichtslos gewesen war.
»Ich glaube, sie hätte gewollt, dass wir uns kennenlernen«, gab Nate nach einer Weile zu. Cara hätte gewollt, dass die beiden Menschen, die sie auf der Welt am meisten liebte, miteinander auskamen.
»Ist es auch das, was du willst?«, fragte Lilian sanft. In ihren Augen lag so viel Verständnis, dass Nate schlucken musste. Hinter seinen Augen begann es verräterisch zu brennen.
»Ich bin noch nicht so weit, mich Karim zu stellen.«
Lilian nickte. »Das ist in Ordnung und Lord Karim wird diese Entscheidung verstehen. Du darfst die neue Erkenntnis erst mit dir selbst ausmachen. Und wenn du dann irgendwann soweit bist, kannst du versuchen, auf ihn zuzugehen.«
Bei diesen Worten verschwand plötzlich das Gewicht auf Nates Brust. Lilian hatte ihm seine Entscheidungsfreiheit zurückgegeben. Er musste jetzt keine Wahl treffen. Wenn er soweit war, würde er mit Karim sprechen, doch dieser Tag war nicht heute. Und vermutlich auch nicht morgen. Aber irgendwann.
»Danke, Lilian.«
Er lächelte sie an, doch Lilian machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Nicht dafür. Aber nun bin ich neugierig. Was macht die Wahl? Du hast nun eine Kandidatin mehr zur Auswahl, wie mir zu Ohren kam. Hat sie denn eine Chance?«
Nate schüttelte den Kopf, sein Mundwinkel zuckte verräterisch, ob des prompten Themenwechsels. Lilian war unverbesserlich. Wie eine Großmutter, die ihren Enkel aushorchte.
»Ich kenne sie von früher«, Nate zuckte mit den Schultern. Wie viel sollte er Lilian erzählen? Doch wenn er ehrlich war, kannte Nate die Antwort bereits. Er musste sich jemandem anvertrauen. Jemandem, der ihn nicht verurteilen würde. »Sie hat mir gesagt, dass sie mich liebt.«
Lilians Augen weiteten sich und sie nickte.
»Empfindest du etwas für sie?«
Nate sah zur Seite. Es war seltsam, mit Lilian darüber zu sprechen oder überhaupt jemandem seine Gefühle anzuvertrauen.
»Nicht so wie sie für mich.«
»Das hört sich nach einem Aber an.«
Ein frustriertes Seufzen verließ seine Kehle.
»Mit ihr ist es einfach. Ich weiß immer, woran ich bei ihr bin.« Selena war in ihren Gefühlen von Anfang an ehrlich zu ihm gewesen. Sie hielt nicht mit dem hinter dem Berg, was sie wirklich im Leben wollte und was ihr wichtig war. Und das war eine Eigenschaft, die Nate zu schätzen wusste.
»Und bei Celeste ist es anders?« Lilian bettete ihren Kopf auf ihre Hände und nahm einen weiteren Schluck Tee.
»Wir sind beide verschlossener. Wir reden nicht über Gefühle. Aber wenn ich bei ihr bin, bin ich glücklich.«
Es war nicht nötig, dass sie über ihre Gefühle füreinander sprachen. Wenn er sie küsste oder sie nur lächeln sah, dann wusste Nate, dass sie ihm wichtig war. Dafür brauchte er keine Worte.
»Das geht doch in die richtige Richtung.« Lilian lächelte ihn aufmunternd an.
»Aber ist das Liebe?«, fragte Nate leise. Er wagte nicht, den Blick zu heben.
»Das kannst nur du allein wissen.« Lilian sah ihn mitfühlend an. Nate wusste, dass sie ihn nicht beeinflussen würde. Und er selbst wusste leider keine eindeutige Antwort auf seine Frage. »Ich weiß es aber nicht. Und ich glaube, Celeste ist sich auch nicht sicher.«
Sie beide waren auf eine Art und Weise gebrochen, die es ihnen schwer machte, zu vertrauen. Oder gar bedingungslos zu lieben. Nate hatte den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Und Celeste war von den Menschen verlassen worden, die sie eigentlich mit ihrem Leben hätten beschützen müssen.
»Ihr könntet es gemeinsam herausfinden.«
Lilians Vorschlag klang wie eine schöne Idee, doch die Realität sah anders aus. Frustriert raufte sich Nate die Haare.
»Alles ist so kompliziert. Wir haben kaum Zeit für uns. Ständig steht man unter Beobachtung – und dann dieser Anschlag. Die Atheos sitzen uns im Nacken. Es wächst mir alles über den Kopf.«
Er war doch gerade erst berufen worden. Vom Entscheidungentreffen zum Wohle eines ganzen Landes hatte er noch keine Ahnung, keine Erfahrung im Umgang mit dieserart Herausforderungen. Und er war absolut auf sich gestellt. Zumindest fühlte es sich in letzter Zeit so an.
»Du brauchst einen Fels in der Brandung. Das wird dir helfen, einen klaren Kopf zu bewahren.« Lilian griff nach seiner Hand und Nate konnte die Wärme spüren, die von ihr ausging. Doch ihre Worte bewirkten das Gegenteil. Nates Brust wurde eng und er spürte die Panik, die von ihm Besitz ergriff.
»Ich habe mich aber noch nicht entschieden.«
Er war noch nicht dazu bereit. Er mochte Celeste, mehr als jede andere vor ihr, aber er wollte sich absolut sicher sein, dass sie die Eine war.
Lilians Augen wurden traurig und sie wandte den Blick ab. »Es ist eine komplizierte Welt. Wenn man endlich den Richtigen gefunden hat, ist man meist zu verängstigt, das Risiko einzugehen.«
»Du glaubst, dass sie die Richtige ist?«
Lilian schüttelte den Kopf.
»Was ich glaube, spielt keine Rolle, Nathaniel. Es ist einzig wichtig, was du willst.«
Sie drehten sich im Kreis. Nate wusste nicht, was er wollte. Er wollte Celeste. Wollte ihr nahe sein, aber er war noch nicht bereit, sich gänzlich an sie zu binden. Nate fragte sich, warum das so war.
»Aber du wirst es nicht herausfinden, wenn du nicht auf sie zugehst.« Ein tadelnder Unterton schwang nun in Lilians Stimme mit.
»Sie hat nach dir geschickt, nicht wahr?«
Lilian nickte. »Sie schrieb mir kurz nach dem Giftanschlag.«
Dankbarkeit breitete sich in Nate aus. Schon da hatte Celeste gewusst, dass er Hilfe brauchte. Und sie hatte dafür gesorgt, dass Lilian kam. Wenn er daran dachte, was Celeste für ihn getan hatte, wurde seine Brust eng. Bei ihrem letzten Gespräch hatte er sie angeschrien. Ihr hässliche Dinge an den Kopf geworfen.
»Geh endlich zu ihr und entschuldige dich bei ihr, du sturer Esel eines Prinzen.« Lilian hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn auffordernd an.
Nates Mundwinkel hoben sich.
»Wie Ihr wünscht, Mylady.«
***
Celeste
Gedankenverloren streifte Celeste durch die Gänge des Palastes. Sie hatte gemeinsam mit Simea Vorbereitungen für die Hochzeit und das Fest zur Wintersonnenwende getroffen, anschließend ihre Pflichten als Priesterin erfüllt. Doch nun hatte sie nichts mehr zu tun. Und immer, wenn sie nichts zu tun hatte, schweiften ihre Gedanken unaufhörlich zu Nathaniel. Und zu den Worten, die er zu ihr gesagt hatte.
Als könnte sie den Teufel heraufbeschwören, stand Nathaniel vor ihr, als sie um die nächste Ecke bog. Ihr Herz setzte für eine Sekunde aus, dann schlug es doppelt so schnell weiter.
»Können wir reden?« Er wirkte verlegen, schien aber so, als hätte er auf sie gewartet. Kurz überlegte Celeste, ob sie sich einfach umdrehen und ihn stehen lassen sollte, aber sie wollte nicht feige sein.
»Was willst du?«, fragte sie etwas harsch. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Er sollte nicht glauben, dass er einfach so wieder auf sie zugehen könnte und alles vergeben und vergessen wäre. Nicht, nachdem er sie so verletzt hatte.
»Ich möchte mich entschuldigen.« Er sagte es ganz ruhig, sodass Celeste nur die Augen verdrehte. Er klang alles andere als resigniert. Etwas nervös, mehr auch nicht.
»Wofür genau?« Celeste würde es ihm nicht leicht machen. Er hatte sie verletzt und das sollte er zu spüren bekommen. In dieser Hinsicht war sie leider nachtragend.
»Dafür, dass ich dich angeschrien habe. Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe. Mir fällt die ganze Sache nicht leicht und du wolltest mir nur helfen.«
Celeste mied seinen Blick und starrte stattdessen auf seine Brust. Würde sie in seine grünen Augen schauen, würde sie vielleicht nachgeben.
»Wie kamst du zu der Erkenntnis?«, fragte sie trotzig.
»Kätzchen, sei nicht so«, seufzte er. »Du weißt, dass ich manchmal ein wahrer Idiot bin und es tut mir wirklich leid. Besonders, weil diese Entschuldigung viel zu spät kommt.«
Celeste hob wider besseren Wissens den Kopf und sah Nathaniel an. In seinen Augen spiegelte sich eine Unsicherheit wider, die Celeste verwirrte.
»Du hast Mist gebaut. Sehr großen Mist sogar«, sagte sie leise. Und sie meinte es auch so. Er hatte mal wieder mit Worten um sich geschlagen und Menschen in seinem Umfeld verletzt.
»Ja, das habe ich mir schon häufiger sagen lassen.« Seine Stimme klang tonlos und belegt, als würde das schlechte Gewissen aus ihm sprechen.
Celeste sah auf ihre Hände, als sie weitersprach.
»Ich habe eine Frage an dich. Entschuldigst du dich, weil du deine Entscheidung bereust oder weil du es leid bist, zu streiten?« Sie sah ihn wieder an und entdeckte deutlich die Zerrissenheit in Nathaniels Augen.
»Ein bisschen von beidem. Falls es dich tröstet: Du stehst mit deiner Meinung nicht allein da. Lilian und Nike sind auf deiner Seite.«
Celeste hob eine Augenbraue. Natürlich waren diese beiden Frauen auf ihrer Seite. Ihre Seite war die richtige. Nate war nur zu verbohrt, um das einzusehen. Aber sie war froh, dass Lilian endlich hier war. Nur Miro oder sie waren in der Lage, Nate in dieser Situation wieder zu Verstand zu bringen.
Er fuhr sich durch die blonden Haare und sein Kiefer war deutlich angespannt. »Es tut mir aufrichtig leid. Menschen unternehmen seltsame Dinge, wenn sie wütend sind. Oder verletzt.« Den letzten Satz murmelte er nur, doch Celeste schnaubte bloß.
Sie sah ihn fassungslos an. Ihr Herz tat weh. Eigentlich sogar ihr ganzer Körper. Sie biss die Zähne zusammen. Das war nicht fair. Als wäre seine Verletztheit eine Ausrede für alles. Auch sie hatte man verletzt, sehr sogar, doch sie hatte diesen Schmerz nicht an ihm oder ihren Freunden ausgelassen.
»Das ist keine Entschuldigung.« Ihre Worte waren leise, doch dahinter verbarg sich eine unbändige Wut. Hinter ihren Augen begann es zu brennen, doch Celeste hielt die Tränen des Zorns zurück.
»Das weiß ich, aber versuch doch, mich zu verstehen. Es war in dem Moment einfach zu viel für mich. Ich konnte nicht klar denken.« Nathaniel ballte die Hände zu Fäusten.
Ein trockenes Lachen erklang aus Celestes Kehle.
»Nicht nur du hast in den vergangenen Wochen eine Menge durchgestanden.« Auch sie hatte viel mitgemacht. Mehr, als sie jemals glaubte, durchstehen zu müssen. Doch sie hatte es überstanden. »Und weißt du, wer mir dabei keine Hilfe war? Du. Vielen Dank dafür«, zischte sie ihm entgegen. Nach dem Anschlag auf sie hatte er sie im Stich gelassen. Sie hatten füreinander da sein wollen. Doch sie waren gescheitert. Und das mit wehenden Fahnen.
Nathaniel fuhr sich wieder mit beiden Händen durch die Haare. Seine Augen blickten verzweifelt.
»Celeste, verzeih mir, bitte. Momentan weiß ich einfach nicht weiter, die Sache mit Karim und meiner Mutter hat mich völlig aus der Bahn geworfen.«
Sie wandte den Blick ab. Die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme machte ihr zu schaffen. Doch Celeste blieb hart. Natürlich konnte sie ihn verstehen. Auch sie hätte es mitgenommen, so eine Wahrheit zu erfahren. Doch das änderte nichts daran, dass er sie schlecht behandelt hatte. Und es noch immer tat.
»Benutz das nicht als Entschuldigung für dein Verhalten. Schon bevor die Wahrheit darüber ans Licht kam, bist du mir aus dem Weg gegangen. Seit dem Anschlag, um genau zu sein.«
Dieser Anschlag war ein Schock gewesen. Er hatte so viel kaputt gemacht. Er hatte nicht nur Celestes Selbstbewusstsein und ihr Gefühl von Sicherheit zerstört, sondern auch den unbekümmerten und oft verspielten Umgang zwischen ihr und Nathaniel. Wenn er nach einer solchen Situation nicht für sie da war, würde er es dann in einem ganzen gemeinsamen Leben sein?
Nathaniel machte einen Schritt auf sie zu. Seine Hände umschlossen fest ihre Oberarme und er zog sie näher an sich heran. In seinen grünen Augen loderten so viele verschiedene Emotionen, dass Celeste nicht eine von ihnen benennen konnte. Er erhob deutlich seine Stimme:
»Weil der Gedanke, dich zu verlieren, mir wahnsinnige Angst macht.«
Celeste zuckte bei seiner lauten Stimme zusammen. Sie riss sich von ihm los und stieß Nathaniel vor die Brust.
»Glaubst du etwa, ich hatte keine Angst? Jemand hat versucht, mich zu töten!« Sie hatte Angst gehabt. Furchtbare Angst, um ehrlich zu sein. Doch das hatte Nathaniel nicht gekümmert. Er hatte sie im Stich gelassen.
Aussichtslosigkeit spiegelte sich auf seinem gesamten Gesicht wider und seine Schultern hingen schlaff herab.
»Das weiß ich«, sagte Nathaniel leise. Doch seine Zustimmung stachelte Celestes Wut nur noch mehr an. Endlich konnte sie ihrem Ärger Luft machen.
Erneut schlug sie ihm gegen die Brust. Es tat nicht weh, Nathaniel kam nicht einmal ins Straucheln.
»Du hättest für mich da sein müssen, stattdessen hast du dich von mir abgewandt und bist in Selbstmitleid versunken.« Noch immer tat diese Erkenntnis weh. Und die Tränen, die sie eben noch hatte zurückhalten können, liefen ihr nun über die Wangen. Celeste machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen. Es war ihr egal, dass sie wie eine Furie aussehen musste.
Nathaniels Hände umfingen die ihren und hielten sie fest. Celeste wollte sich aus seinem Griff befreien, doch es gelang ihr nicht.
»Das musst du mir nicht sagen, die Standpauke musste ich mir schon von Lilian anhören«, gab Nathaniel zu.
»Und trotzdem wirst du nichts an deinem Verhalten ändern«, ihre Stimme klang wieder einigermaßen gefasst. Doch ihre Enttäuschung konnte sie offenbar nicht verbergen, denn als sie erneut versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, hinderte er sie nicht dran.
Celeste ging einige Schritte zurück und sah ihn kopfschüttelnd an.
»Du stößt jeden von dir, dem du wichtig bist. Wundere dich nicht, wenn du irgendwann allein dastehst.« Ihre Worte klangen hart, das wusste Celeste genau. Nathaniel zuckte merklich zusammen. Doch Celeste konnte sie nicht wieder zurücknehmen. Und sie wollte es auch nicht.
Ein leidender Ausdruck trat auf Nathaniels Gesicht. »Celeste, bitte, ich brauche dich.« Er streckte die Hand nach ihr aus. Celeste wollte danach greifen, doch sie tat es nicht.
»Und ich habe dich gebraucht.« Die Kraft hatte Celestes Körper verlassen. Sie stand mit ausdrucksloser Miene vor ihm und mied Nathaniels Blick.
»Wie kann ich es wiedergutmachen?« Nathaniel trat auf sie zu, doch Celeste wich weiter zurück. Sie schloss die Arme um ihren Körper, um sich selbst daran zu hindern, nach ihm zu greifen.
Sie sah ihn lange an. Und je länger sie mit ihrer Antwort wartete, desto deutlicher sah sie die Panik in Nathaniels Blick aufsteigen. Celeste sprang über ihren Schatten.
»Eine Entschuldigung allein wird nicht reichen. Fang bei denen an, denen du Unrecht getan hast. Vorzugsweise bei Noah, der kann nämlich nichts dafür, dass sein Vater ein Verhältnis mit deiner Mutter hatte. Und dein Benehmen hat er nicht verdient.«
Nathaniels Augen wurden schmal und die Hände, die schlaff neben seinem Körper hingen, ballten sich zu Fäusten.
»Warum ist dir Noah so wichtig? Wen kümmert es, dass ich ihn aus meinem Dienst entlassen habe?«, brummte er. »Geht es dir wirklich nur darum, dass ich einen Bruder habe, von dem ich mich nicht abwenden sollte?«, fragte er misstrauisch.
Celeste seufzte. Vermutlich würden sie hier niemals einer Meinung sein.
»Ich wäre froh, wenn ich noch Familie hätte und du trittst deine mit Füßen. Aber darum geht es nicht nur. Mir ist Noah egal, aber jemandem, der uns beiden sehr wichtig ist, nicht.«
Nathaniel hob eine Augenbraue.
»Von wem sprichst du?«
»Linnéa«, sagte Celeste leise. »Sie möchte nicht, dass Noah nach Solaris zurückgeht. Wenn du also weder um deinetwillen noch meinetwegen oder um Noahs selbst Willen deine Entscheidung überdenken willst, dann tu es wenigstens für Linnéa. Sie sollte dir nicht egal sein.«
Nathaniel sah sie eine Zeit lang an, dann senkte er den Blick. Celeste sah, wie er mit sich haderte. Dann schüttelte er seufzend den Kopf.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Vergebung gehörte noch nie zu meinen Stärken.«
Celeste schnaubte.
»Nicht du sollst ihm vergeben, Nathaniel. Bete dafür, dass Noah dir vergeben wird.« Immerhin hatte sein Freund nichts falsch gemacht. Nathaniel war derjenige, der einen Fehler gemacht hatte. Und diesen Fehler musste er wieder ausbügeln.
Nathaniel nickte abgehackt. Dann hob er den Blick und sah sie an. Unsicherheit lag in seinen Augen.
»Was ist mit dir? Wirst du mir vergeben?«
Celeste schluckte schwer. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Und wenn sie ehrlich war, wusste sie die Antwort nicht mit Sicherheit. Sie wollte ihm vergeben, doch von jetzt auf gleich war ihr das nicht möglich.
»Ich werde zumindest nicht hier herumsitzen und dir dabei zusehen, wie du dich selbst zerstörst, indem du dich von allen abwendest, denen du wichtig bist.«
***
Nathaniel
Nathaniel vergrub das Gesicht in seinen Händen. Die Unterhaltung mit Celeste war nicht ansatzweise in die Richtung gegangen, die er sich gewünscht hatte. Er hatte die Hoffnung gehabt, dass sie ihm verzeihen und sich in seine Arme werfen würde. Es war ein naiver Wunsch gewesen, so viel war Nathaniel inzwischen klar geworden. Der Rotschopf war nicht der Typ, der einfach so vergab. Und bisher hatte er ihr auch keinen Grund geliefert, mit dem er ihre Vergebung verdient hätte.
Die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete sich und ein pfeifender Kiah betrat den Raum. Sein blondes Haar sah aus, als wäre er in einen Wirbelsturm geraten, doch sein rotes Hemd saß tadellos. Er grinste Nate an, bevor er vor ihm knickste.
»Mein Prinz hat nach mir gerufen.«
Kiahs Fröhlichkeit sprang nicht auf Nate über. Stattdessen sah er weiter betrübt auf seine ineinander verschränkten Hände, die er auf den Knien abgestützt hatte.
»Kannst du mir einen Gefallen tun, Kiah?«, kam er stattdessen direkt auf den Punkt.
Kiah lehnte sich an den Tisch, direkt gegenüber vom Bett. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah Nate neugierig an.
»Natürlich, was brauchst du?«
Die nächste Frage verlangte weiß Gott mehr von ihm, als Nate zugeben wollte. Doch er wollte seine Fehler wiedergutmachen. Er wollte Celeste nicht verlieren.
»Kannst du Noah herbringen?«
Kiah hob überrascht seine Augenbrauen und sein Mund öffnete sich leicht, bevor er sich räusperte.
»Noah? Deinen Halbbruder Noah, den du aus deinem Dienst entlassen hast?«
Nate hob den Blick und sah seinen blonden Höfling finster an.
»Du musst mich nicht daran erinnern.« Er vergrub sein Gesicht wieder in den Händen.
Kiah grinste bis über beide Ohren.
»Ich kann ihn herbringen, aber wieso?«, die Neugierde war deutlich in seiner Stimme zu hören.
Nate seufzte resigniert.
»Ich muss Widergutmachung leisten«, sagte er leise. Mehr zu sich selbst als zu Kiah.
Kiah lachte leise und stieß sich vom Tisch ab.
»O ja, das musst du in der Tat. Und nicht nur bei ihm.« Sein Höfling taxierte ihn und Nate ließ die Augen sinken. Wenn selbst Kiah seine Entscheidung für falsch hielt, hatte Nate wirklich Mist gebaut.
»Das weiß ich, aber irgendwo muss ich anfangen.«
Kiah ging auf die Tür zu, drehte sich aber noch einmal zu Nate um.
»Ich hole Noah. Währenddessen solltest du dir am besten schon mal überlegen, was du sagen willst.«
Nate unterdrückte ein Stöhnen, während Kiah den Raum verließ.
Nate wartete ungeduldig in seinem Zimmer. Mit jeder Minute, die verstrich, wurden seine Hände schwitziger.
Doch dann wurde die Tür wieder geöffnet und Kiah trat ein. Ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Ihm folgte Noah. Doch dieser sah wenig begeistert aus. Um Noahs Mund lag ein harter Zug und seine Augen waren schmal.
Nates Mund wurde trocken und er stand etwas unbeholfen vom Bett auf.
»Ich bin überrascht, dass du gekommen bist.« Das war er wirklich. Er hatte angenommen, dass Noah zu wütend auf ihn war, um überhaupt mit ihm sprechen zu wollen. Und Nate hätte es ihm nicht verübeln können.
Noah sah ihn zähneknirschend an.
»Ich bin genauso schockiert wie du.« Er warf Kiah einen bösen Blick zu, doch der blonde Schönling ignorierte ihn. Nate war sich sicher, dass Kiah Noah mit irgendetwas erpresst hatte, damit er sich erbarmte, überhaupt noch mit Nate zu sprechen.
Schweigen breitete sich im Raum aus und Nate trat nervös von einem Bein aufs andere. Er vermied es, Noah anzusehen. Stattdessen blickte er zu Kiah. Der sah ihn abwartend an. Und deutete dann mit einem Kopfnicken in Noahs Richtung. Nate hatte keine Ahnung, wie er auf Noah zugehen sollte. Oder ob er das überhaupt wollte. Wenn es nach ihm ginge, würde er jegliche Verbindung zwischen ihnen kappen. Er wollte Noah und seinen Vater nie wiedersehen. Sie würden ihn für immer an seine verstorbene Mutter erinnern und das Leben in Armut, das sie geführt hatten, während der Lord und seine Familie in Reichtum schwelgten.
Doch auf der anderen Seite war da Celestes Forderung. Die Chance, dass, wenn Nate die Sache mit seinem Halbbruder klären würde, auch sie ihm vergeben könnte. An diese Hoffnung musste Nate sich klammern. Und dann war da noch Linnéa. Die sanfte und gutherzige Linnéa, die offenbar Gefühle für Noah hegte. Diese Frau hatte einen furchtbaren Männergeschmack, aber darüber würde Nate mit ihr zu einem anderen Zeitpunkt sprechen.
Er blickte zu Noah. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen war ihm nie aufgefallen. Doch jetzt sah er sie. Den Zorn in Noahs Augen kannte Nate nur zu gut. Er spiegelte sich auch in seinen wider.
»Ich weiß, um ehrlich zu sein, nicht, was ich sagen soll«, Nate versuchte es mit der Wahrheit. Etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig. »Ich hatte eigentlich nicht vor, meine Meinung zu ändern. Doch offenbar bist du einer engen Freundin und Vertrauten sehr wichtig und ich will sie nicht unglücklich sehen.«
Noah erwiderte seinen Blick mit einer Härte, die Nate nicht erwartet hatte. Sein ehemaliger Höfling fragte nicht einmal, von wem er gesprochen hatte. Wusste Noah von Linnéas Gefühlen oder war es ihm schlichtweg egal, dass jemand ein Auge auf ihn geworfen hatte?
»Das heißt, du würdest mich nach wie vor am liebsten zum Teufel jagen?«, zischte Noah.
Ja, das würde Nate nur zu gern. Doch er konnte es sich nicht leisten. Noah zum Teufel zu jagen würde bedeuten, die Beziehung zu Celeste endgültig zu begraben. Und dazu war Nathaniel nicht bereit.
Er strich sich durch die blonden Haare. Ein harter Zug lag um seinen Mund.
»Mir fällt es nicht leicht, zu akzeptieren, dass dein Vater eine Affäre mit meiner Mutter gehabt hat«, allein es auszusprechen, riss die Wunde wieder auf. »Oder die Tatsache, dass du mein Halbbruder bist.« Für Nathaniel war es noch immer unwirklich. Er sah die Ähnlichkeit, kannte die Wahrheit und doch hatte weder sein Verstand noch sein Herz es wirklich akzeptiert.
»Das geht mir doch genauso. Glaubst du, ich wollte die Gerüchte bestätigt wissen, dass mein Vater meiner Mutter untreu gewesen ist? Garantiert nicht«, schrie Noah ihm entgegen.
Nate stutzte. Aus diesem Blickwinkel hatte Nathaniel die Angelegenheit noch nicht betrachtet. Aber natürlich hatte auch Noah etwas erfahren, was ihm das Leben schwer machte.
»Tut mir leid, das war bestimmt auch nicht leicht für dich«, gab Nate darum zerknirscht zu. »Aber ich werde einfach noch Zeit brauchen, um alles zu verarbeiten und mich zu entscheiden, wie ich mich dir gegenüber in Zukunft verhalten werde. Ich hoffe, du kannst das verstehen.«
Noah sah ihn lange an und sein Starren machte Nathaniel nervös. Dann fuhr er sich mit der Hand über den Mund und schüttelte langsam den Kopf.
»Du bist mein Prinz, Nate. Das warst du immer und wirst es immer sein. In dieser Rolle kann ich dich respektieren. Aber als Bruder habe ich dich genauso wenig akzeptiert wie du mich. Vielleicht wird sich das irgendwann ändern, vielleicht auch nicht«, Noah zuckte mit den Schultern und fügte etwas versöhnlich hinzu:
»Das werden wir beide abwarten müssen.«
Keiner von ihnen wusste, was die Zukunft für sie bereithielt. Oder ob einer von ihnen seine Meinung jemals ändern würde. Doch damit kam Nate klar.
»Ja«, Nate nickte entschieden und lächelte ein wenig. »Falls ich mich also irgendwann dazu entschließe, meinen großen Bruder auch als solchen kennenlernen zu wollen, hoffe ich, dass wir aufeinander zugehen können.« Es war ein ganzes Stück mehr, als Nate vorgehabt hatte, Noah entgegenzukommen. Ein Angebot, das vielleicht keiner von ihnen jemals annehmen würde, aber es war eine Chance für sie beide.
Noah nickte.
»Wir brauchen beide Zeit.«
Mit kalten Fingern strich sich Nate über den Nacken. »Bis dahin hoffe ich, dass du weiterhin als mein Höfling und Freund bei uns bleiben wirst.« Seine Stimme war leise, doch Nate kam es vor, als würde sie im Raum widerhallen.
Er streckte Noah seine Hand entgegen. Ein Friedensangebot, das Nate sehr viel abverlangte. Noah blickte auf seine ausgestreckte Hand, dann in Nates Gesicht und ergriff sie.
»Das werde ich.«
Hinter ihnen ertönte Applaus. Kiah trug ein breites Grinsen auf dem Gesicht und klatschte begeistert in die Hände.
Nate verdrehte genervt die Augen und ließ sich auf sein Bett fallen. Noah gesellte sich zu ihm.
»Hat Linnéa dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?«, fragte er leise.
Mit einem belustigten Ausdruck auf dem Gesicht sah Nate seinen Höfling an. Doch er schüttelte den Kopf.
»Es war Celeste.« Keine andere Person hätte seine Meinung ändern können. Nur der Rotschopf konnte ihm derart ins Gewissen reden.
»Du hast mit ihr gesprochen?«, kam es überrascht von Kiah.
»Nicht so wirklich«, gab Nate zu.
Kiah lachte kehlig.
»Aber es hat gereicht, um dir den Kopf zu waschen?« Seine Augen funkelten belustigt und Nate verdrehte die Augen.
Dann wurde er ernst und sah auf seine Hände.
»Ich bin nicht bereit, sie zu verlieren.«
Kiah nickte. Doch in seinen Augen lag nun ein dunkler Glanz.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
Nate sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Der Ausdruck auf Kiahs Gesicht versprach nichts Gutes.
»Nur zu.«
»Was ist zwischen dir und Selena?«, fragte Kiah mit kalter Stimme.
Nate stieß ein Seufzen aus.
»Wir sind uns wieder nähergekommen.« Es klang wie ein Schuldeingeständnis, dabei hatte Nate nichts Verwerfliches getan. Er hatte nur mit Selena gesprochen, zwischen ihnen war nichts passiert.
»Empfindest du etwas für sie?«, fragte nun Noah.
Nate biss die Zähne zusammen und raufte sich die Haare.
»Müssen wir wirklich darüber reden?« Ein Gespräch über Gefühle war keines, das er gern tätigte.
»Ja, wir sind deine Freunde und deine Höflinge. Wir sollten wissen, wo du derzeit stehst«, sagte Kiah entschieden. Nate sah ihn kopfschüttelnd an. Kiah kümmerte es nicht, wie es um Nates Herz stand. Der blonde Höfling wurde nur von seiner eigenen Neugierde getrieben.
Aber Nate dachte über die Frage nach. Empfand er etwas für Selena?
»Sie ist mir irgendwie wichtig. Selena ist eine Brücke zu meiner Vergangenheit, die ich eingerissen hatte. Sie weiß so viel über mich und ihr gegenüber muss ich mich nicht rechtfertigen oder verstellen.«
So wie er es manchmal bei Celeste tun musste. Ihm war bewusst, dass der Rotschopf nur das Beste für ihn wollte. Celeste wollte, dass er über sich hinauswuchs. Doch damit bürdete sie ihm eine Last auf, die Nate manchmal zu viel wurde.
»Und das heißt?«, fragte Kiah mit hochgezogener Augenbraue. In seinen Worten schwang Ungeduld mit, während er sich aus einer Karaffe, die auf einem kleinen Tisch am Fenster stand, ein Glas Wein einschenkte.
»Ich liebe sie nicht, wenn du das fragen wolltest. Aber ganz loslassen kann ich sie auch nicht.« Es war egoistisch. Soviel war Nate bewusst. Doch noch wollte er seine Vergangenheit nicht vollends hinter sich lassen und seiner Zukunft entgegensehen.
»Weil sie eine Verbindung zu deiner Mutter ist?«, fragte Noah mit leiser Stimme. In seinen braunen Augen lag Mitgefühl.
»Ja«, erwiderte Nate ebenso leise. »Sie ist die Einzige, die meine Mutter gekannt hat. Und es tut gut, über sie reden zu können.« Das war ihm erst bewusst geworden, als er Selena wiedergetroffen hatte. Ihm fehlte es, über seine Mutter reden zu können. Es machte den Schmerz erträglicher.
»Das ist nicht wahr, sie ist nicht die einzige Person, die deine Mutter gekannt hat.« Kiah hatte den Kopf schiefgelegt und sein Blick wanderte zu Noah.
Nate zischte.
»Ich werde mit Karim bestimmt nicht über meine Mutter sprechen, Kiah.«
Der blonde Höfling hob abwehrend die Hände.
»Er kannte sie besser als irgendjemand sonst. Und wenn ich ehrlich bin, sehe ich dich lieber mit Lord Karim zusammen als mit Selena.« Kiah zuckte mit den Schultern und schwenkte das Glas Wein in seiner Hand langsam hin und her.
Nate lachte leise.
»Ja, weil du auf Celestes Seite stehst.«
Ein Grinsen breitete sich auf Kiahs Gesicht aus und er hob das Glas.
»Voll und ganz.«
Nate runzelte die Stirn.
»Wie ist das eigentlich hinter meinem Rücken zustande gekommen? Habt ihr euch nicht mal gehasst?« Was war bloß zwischen den beiden geschehen, dass sie plötzlich an einem Strang zogen? Nate konnte es sich nicht erklären.
Kiah zwinkerte ihm zu.
»Sagen wir einfach: Wir sind Seelenverwandte.« Bei diesen Worten drang ein Grollen aus Nates Brust. Kiah riss die Augen auf und schüttelte den Kopf.
»Also, nicht auf körperlicher Ebene, da musst du dir keine Sorgen machen. Aber ich mag ihre kratzbürstige Art.«
Nate taxierte Kiah mit einem wütenden Blick, schüttelte aber dann den Kopf.
»Ich frag lieber nicht weiter nach.«
»Ist vermutlich besser so«, gab Kiah lachend zu.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ihn Noah. Die Blicke seiner Höflinge ruhten auf Nate. Er sah sie beide nacheinander an und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
»Ich habe einiges vor mir, wenn ich Celeste zurückgewinnen will.« Nate zuckte zusammen, als Noah ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ein aufbauendes Lächeln lag auf den Lippen seines Halbbruders.
»Dann solltest du besser bald damit anfangen.«