Nathaniel
»Er ist also verschwunden«, stellte eine raue Stimme fest, die Nathaniel sehr lange nicht gehört hatte. Dass der König ausgerechnet jetzt auftauchte, wo er auf ganzer Linie versagte, gefiel Nate überhaupt nicht.
Zögernd nickte er.
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Marco muss Hilfe gehabt haben.« Anders konnte der Prinz sich einfach nicht erklären, wie ein eingesperrter und bewachter Gefangener ungesehen aus dem Palast entkommen konnte.
König Miro sah Nathaniel an. Sie saßen zusammen in der Bibliothek – bewacht von Espen und Nike, die sich irgendwo zwischen den Regalen aufhielten. Im Palast herrschte Unruhe wegen Marcos Verschwinden. Emir war außer sich. Nur konnte Nate nicht sagen, ob vor Erleichterung oder Zorn. Doch der Admiral hatte sofort einen Suchtrupp bereitgestellt, um nach dem Gefangenen zu suchen.
»Und du glaubst wirklich, dass Marco der Schuldige ist?«, der König kratzte sich am Bart. Inzwischen war sein Haar ganz weiß geworden, aber immer noch sorgfältig gekämmt. Wissbegier flammte in den grauen Augen auf und Nate musste den Blick abwenden.
Er würde es sich niemals verzeihen, Miro anzulügen. Denn die Wahrheit war, dass Nate sich bei gar nichts mehr sicher war. Er fühlte sich hilflos und von seinem Gott verlassen. Aber das konnte er doch nicht zugeben.
»Alle Beweise sprechen gegen ihn«, erwiderte er stattdessen.
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich wollte wissen, was du denkst. Oder was Lady Celeste denkt. Eure Gaben können Licht ins Dunkel bringen.«
Nate spürte deutlich, wie seine Handflächen feucht wurden. »Wir hatten einen Verräter in den eigenen Reihen und bei Marco wurde das Gift gefunden, das beinahe Celeste getötet hätte.« Er ging immer noch nicht auf den König ein und ballte stattdessen die Hand zur Faust, um sein Zittern zu verbergen.
Der König nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mir scheint, du hast dich von deinen Gefühlen leiten lassen. Häufig sogar in der letzten Zeit.« Die Worte klangen nicht wie ein Vorwurf, sondern vielmehr nach einer Möglichkeit für Nathaniel, von sich aus über die vergangenen Ereignisse zu sprechen.
Resigniert seufzte dieser und lehnte sich in den Sessel zurück. Müde fuhr er sich übers Gesicht.
»In den letzten Wochen ist viel passiert«, gab er zu.
»Davon habe ich gehört. Ich bin mir sicher, Lord Karim hat sich von dem blauen Auge gut erholt.« Belustigung schwang in der Stimme des Königs mit und Nate sah auf, eine Augenbraune überrascht hochgezogen.
»Ihr wirkt überhaupt nicht besorgt. Wieso?«, wollte Nate wissen. Er selbst war kurz davor, nur noch wild um sich zu schlagen.
Miro sah ihn verständnislos an.
»Wieso sollte mich die Tatsache beunruhigen, dass Lord Karim dein leiblicher Vater ist?«
Nate schnaubte.
»Das meinte ich doch gar nicht. Wir haben einen Flüchtigen und erst vorgestern wurde Aurora von den Atheos angegriffen. Und Ihr sitzt hier und macht Scherze«, frustriert raufte sich Nate die Haare.
Ein leises Lachen drang an sein Ohr.
»Mein lieber Junge, ich bin ruhig und besonnen, weil das meine Art ist. Es gibt derzeit nichts, was ich tun kann, um an Marcos Verschwinden oder an dem Angriff des Atheos etwas zu ändern. Beides ist geschehen und kann nicht rückgängig gemacht werden.«
»Aber …»
Der Prinz kam nicht dazu, Einspruch zu erheben.
»Nathaniel, ich weiß, dass du sehr leidenschaftlich sein kannst. Diese Eigenschaft gehört zu dir, wie zu mir meine Gelassenheit. Sieh es mir nach, wenn ich nicht vor Tatendrang strotze. Trotzdem denke ich nach und bespreche mich mit meinen Vertrauten über das weitere Vorgehen. Die Atheos haben sich zurückgezogen und keiner unserer Späher konnte sie finden. Der gestrige Schneesturm hat ihre Spuren verwischt. Ebenso die von Marco. Ich werde meine Soldaten nicht in Gefahr bringen, um nach ihnen zu suchen. Die Berge sind zu dieser Jahreszeit mehr als gefährlich.«
Enttäuschung breitete sich in Nate aus. Er hasste das Gefühl, nichts tun zu können. Wenn ihm die Hände gebunden waren, fühlte er sich in die Enge getrieben und das hasste er. Hinzu kam, dass es so klang, als hätte Miro in jeder Situation anders gehandelt als er es getan hatte. Das riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Miro war sein einziges Vorbild.
»Was sollen wir dann machen?«, wollte Nate leise wissen.
»Ich habe mit Lady Celeste gesprochen und mir ihre Sicht der Dinge angehört«, berichtete der König.
Bei den Worten zuckte Nate zusammen.
»Warum das?«
Miros sturmgraue Augen ruhten auf ihm.
»Weil sie eine Gabe besitzt, die ihresgleichen sucht. Und im Gegensatz zu dir hat sie sich unter Kontrolle.«
Nate wich Miros Blick aus. Wütend biss er sich auf die Unterlippe.
»Nathaniel, ich mache dir keinen Vorwurf. Du handelst nach deinem Herzen, Celeste nach ihrem Verstand. Du musstest dabei zusehen, wie sie verletzt wurde und das hat dich tief erschüttert. Das ist in Ordnung, nur lass dich nicht von deinem Hass und deiner Wut leiten. Denke rational, das erwartet man von einem König.«
Am liebsten hätte Nathaniel laut gelacht. Seit wann ließ er sich von seinem Herzen leiten? Als er das letzte Mal in Samara gewesen war, war er noch ein völlig anderer Mensch gewesen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, seinen Gefühlen zu gehorchen. Was war in den letzten Monaten geschehen, auf dass er sich so verändert hatte? Die Antwort auf diese Frage war erschütternd: einfach alles.
»Was hat Celeste Euch erzählt?«, fragte er begierig nach. Dabei wusste er längst, dass sie beide unterschiedlicher Meinung in Bezug auf Marcos Schuld waren. Vielleicht hatte er sie auch aus genau diesem Grund nicht zu dem Gefangenen gelassen: Aus Angst, Celeste könnte sofort erkennen, dass Marco kein Verräter war.
So schmerzhaft die Erkenntnis anfangs gewesen war, es hatte gutgetan, endlich einen Verantwortlichen für all das Übel, das ihn und Celeste ereilt hatte, gefunden zu haben. Alles in ihm hatte danach verlangt, jemanden zu bestrafen. Und er hatte sich ab einem bestimmten Punkt so verschlossen, dass es ihm gleich geworden war, wer dieser jemand war.
»Ich glaube, das weißt du.«
Nathaniel nickte langsam.
»Gab es jemals in Eurem Leben einen Augenblick, in dem Ihr das Gefühl hattet, dass Ilias Euch verlassen hat?«
Miro musste über diese Frage nicht lange nachdenken.
»Ja, den gab es.«
»Wann?«
Ein trauriges Lächeln erschien auf dem Gesicht des Königs.
»Als ich Nanami zu meiner Königin erwählte. Ich konnte eine lange Zeit nicht auf meine göttliche Gabe zurückgreifen. Ilias hatte meine Entscheidung nicht gutgeheißen, weil er wusste, dass sie falsch war. So, wie ich es tief in meinem Inneren ebenfalls wusste.«
Nathaniel schwieg eine ganze Weile. Er musste erst einmal verdauen, dass der König ihm gerade sein Herz geöffnet und durch die Blume mitgeteilt hatte, dass sein Herz tatsächlich für eine andere geschlagen hatte. Und Nate wusste auch, für wen: für die damalige Tochter des Himmels und Priesterin von Samara – Iolana.
»Aber wann kehrte Eure Gabe zu Euch zurück?« Nate musste das unbedingt wissen. Er würde es nicht ertragen, seine Gabe nie wieder benutzen zu können. Ohne sie fühlte er sich leer.
»Als ich meinen Fehler eingesehen hatte. Es war zu spät, um meine Entscheidung rückgängig zu machen, aber ich habe gelernt, mit ihr zu leben.« Miro schien von Anfang an verstanden zu haben, dass es um weit mehr ging als um die letzte haarsträubende Entscheidung, die Nate gefällt hatte.
»Meine Gabe war die seelische Heilung. Mit meiner Entscheidung, Nanami zu heiraten, habe ich nicht nur mir selbst, sondern auch ihr und der Frau, der mein Herz in Wahrheit gehört hat, viel Kummer bereitet. Ich habe wider meine göttliche Gabe gehandelt. Verstehst du, was ich dir sagen will, Nathaniel?« Der König sah ihn eindringlich an und Nate nickte zögernd.
»Ich habe aus meinem Fehler gelernt und große Entscheidungen von da an stets besonnen gefällt und ganz genau in mich hineingehört. Selbst, wenn es Gegenstimmen gab. Nathaniel, ich bin mir sicher, das wirst du auch.«
»Danke«, flüsterte der Prinz nur. Er hoffte sehr, dass Miro recht behalten würde.
***
Celeste
Zwei Tage später war Marcos vermeintliche Flucht noch immer Gesprächsthema Nummer eins im samarischen Palast. Doch Celeste kümmerte sich nicht um den Tratsch der Leute. Sie hatte dem König direkt nach seiner Ankunft ihre Tat gebeichtet. Gemeinsam mit einer aufgelösten Malia. Sie hatten einen angeblichen Verräter aus dem Gefängnis befreit und ihm zur Flucht verholfen. Miro hatte stumm nur eine Augenbraue nach oben gezogen. Dann hatte er sich bereit erklärt, die Sache mit Nathaniel zu klären. Celeste hoffte inständig, dass der König zu Nate durchdringen würde. Sie schaffte es derzeit nicht.
»Kannst du glauben, dass Sirion bereits seit tausend Jahren besteht?«, fragte Makena gut gelaunt neben ihr und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Eintausend Jahre Sirion. Zu Ehren dieses Jubiläums wurde in Samara ein Ball gegeben. Celeste aber kam dieses Fest absolut falsch vor. Sie waren erst Tage zuvor angegriffen worden. Es hatte Tote und Verletzte gegeben. Wie konnten sie da feiern?
»Weil es unsere Pflicht ist, den Schein zu wahren«, hatte Simea ihr entgegnet. Mehr war es für Celeste auch nicht. Ein schöner Schein, der die furchtbare Wahrheit verschleierte. Die Gotteskinder waren sich untereinander uneins, ebenso wie der königliche Hofstaat. Die Atheos hinterließen bei ihren Angriffen keine Spuren, denen man hätte nachjagen können. Sie tappten mal wieder vollkommen im Dunkeln.
»Jetzt lächle doch mal«, versuchte Makena ihre Freundin aufzuheitern. Doch Celeste schüttelte den Kopf. »Mir ist nicht danach.«
»Vielleicht kann Nathaniel dich dazu bewegen, da kommt er gerade auf uns zu.«
Celeste hob den Kopf und erblickte den Prinzen. Ein harter Zug lag um seine Lippen. Das würde kein lustiges Wiedersehen werden. Als er bei ihr angelangt war, griff er wortlos nach ihrer Hand und zog sie einfach aus dem Ballsaal.
»Du hast mit Miro gesprochen«, setzte er ohne Umschweife ein, als sie den Saal verlassen hatten.
»Ebenso wie du.«
Nathaniel nickte und fuhr sich dann durch die blonden Haare.
»Du glaubst nicht, dass Marco hinter dem Anschlag auf dich steckt, nicht wahr?«, seine Stimme klang nicht mehr ganz so roh wie eben noch.
Celeste sah Nathaniel unverfroren an und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
»Richtig, das tue ich nicht. Deswegen habe ich ihm auch zur Flucht verholfen.«
Bei ihren Worten weiteten sich Nates Augen.
»Du hast was?!«, seine Stimme überschlug sich in einer Mischung aus Schreien und Fluchen.
»Ihn aus seiner Zelle befreit und auf ein Pferd gesetzt.«
Sie würde sich nicht dafür entschuldigen. Celeste hatte das einzig Richtige getan. Niemals würde sie zulassen, dass ein unschuldiger Mann starb, um als Sündenbock herzuhalten.
»Du hast ihn befreit – wieso?«, Nates Augen waren schmal, doch Celeste konnte deutlich die Wut darin sehen. Er konnte es nicht fassen.
Sie seufzte frustriert.
»Weil er unschuldig ist und das weißt auch du.« Nathaniel war kein Dummkopf. Er selbst hatte sich mit dem Soldaten angefreundet, denn er hatte bei der Wahl seiner Gefährten ein ausgezeichnetes Gespür. Wieso sollte ihn dieses Gespür bei Marco getäuscht haben?
Doch Nate schien es einfach nicht so zu sehen zu wollen wie sie.
»Dann hatte Selena recht.«
Verwirrt hob Celeste eine Augenbraue. Wie kam er auf Selena? Sie hatte seit Tagen kein Wort mehr mit der Mondtochter gewechselt und ihre Eifersucht war beinahe gänzlich abgeklungen.
»Wie bitte?«, fragte sie darum nach.
Nate stieß ein hartes Lachen aus.
»Sie hat vorhergesagt, dass du mich früher oder später verraten würdest.«
Verraten. So empfand er ihr Handeln? In ihrem Körper breitete sich eine Kälte aus, die Celeste den Atem raubte.
»Was hat sie gesagt? Ich habe dich nicht verraten!« Das könnte sie nicht. Nicht ihn. Genau das Gegenteil war doch der Fall – sie hatte ihn vor sich selbst bewahren wollen.
Dunkle Schatten lagen in Nates grünen Augen, während er sie misstrauisch taxierte.
»Wie nennst du es dann, dass du Marco gegen meine Entscheidung zur Flucht verholfen hast?«
Eine Zeit lang sah sie ihn einfach nur an, dann schüttelte sie traurig den Kopf.
»Ich habe dich davor bewahrt, den größten Fehler deines Lebens zu machen.« Sie hatte verhindert, dass seine Seele von einer Tat befleckt wurde, die er nicht mehr ungeschehen machen könnte.
Nates Augen weiteten sich bei ihren Worten, doch er entgegnete nichts. Stattdessen wandte er den Blick ab. Sein ganzer Körper war angespannt. Er schien über ihre Worte nachzudenken, als hätte er diese Erläuterung noch nie in Betracht gezogen.
Celeste lachte freudlos.
»Und wir streiten schon wieder. Ich habe das Gefühl, wir tun gar nichts anderes mehr.« Wo waren die Zeiten geblieben, in denen sie heimliche Küsse in dunklen Ecken getauscht hatten? Celeste wünschte sich zu diesen Tagen zurück.
Der Prinz hob den Kopf, er blickte sie plötzlich ganz anders an als eben noch. Als wäre er aus einer Art Trance erwacht. Dann trat er einen Schritt auf sie zu. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand, doch Celeste zog ihre Finger zurück.
»Vielleicht gehört das Streiten einfach zu uns. Und dennoch würde ich lieber für immer mit dir streiten, als eine andere zu küssen.« Seine Stimme klang verzweifelt und müde, so müde.
Langsam schüttelte die Priesterin den Kopf. Nicht das Streiten störte sie an ihrer Beziehung, sondern das Misstrauen. Nathaniel hatte Selena geglaubt. Warum auch immer die Tochter des Mondes behauptet hatte, dass Celeste ihn verraten würde, Nate hatte ihr geglaubt. Und diese Erkenntnis tat weh.
»Hör auf, im Vielleicht zu leben. Hör auf, mir ständig Hoffnungen zu machen und sie im nächsten Moment wieder zu zerstören«, flüsterte sie. Denn genau so kam es ihr vor. Er ließ die Hoffnung in ihr aufkeimen, dass sie es gemeinsam schaffen konnten, nur, um sie im nächsten Moment wieder zu zerstören.
Er trat noch einen Schritt auf sie zu.
»Celeste …«
»Beende es doch einfach«, fuhr die Priesterin ihn plötzlich an. Vielleicht würde es die ganze Sache einfacher machen.
»Sag, dass das mit uns niemals funktionieren wird. Sag, dass ich nicht diejenige bin, die du willst. Sag, dass du mich nicht liebst.« Sie selbst hatte es nicht sagen können, als Selena sie direkt danach gefragt hatte. Damals hatte Celeste geglaubt, dass ihre Schwäche bedeutete, dass sie nicht genug für Nate empfand. Doch heute wusste sie, dass das nicht stimmte. Sie liebte ihn. Auch wenn diese Liebe unter einem schlechten Stern stand. Tränen brannten in Celestes Augen. Sie hatte gewusst, dass das zwischen ihnen nicht einfach werden würde. Doch sie wollte nichts anderes mehr hören, als dass Nate dasselbe für sie empfand.
Nate schluckte schwer. Seine Augen wurden trüb und er klang gebrochen, als er ihr antwortete.
»Bitte mich nicht zu sagen, dass ich dich nicht liebe.«
Überrascht hob sie eine Augenbraue und wischte dabei die Tränen fort, die sich ihre Wangen hinunterstahlen.
»Wieso nicht?«
Nervös biss sich Nathaniel auf die Unterlippe. Seine grünen Augen verschmolzen mit ihren.
»Ich weiß gerade nur zwei Dinge mit absoluter Sicherheit. Das erste ist, dass ich alles tun werde, um die Menschen von Sirion zu beschützen.«
»Und was ist das zweite?«, wollte die Priesterin atemlos wissen.
»Ich liebe dich.«
Celeste erstarrte. Für einen winzigen Moment lang fühlte sich ihr Körper schwerelos an und die Zeit schien still zu stehen. Hatte er wirklich die drei Worte zu ihr gesagt? Celeste konnte es nicht glauben.
Doch als sie ihn anblickte, sah sie die Verletzlichkeit in seinem Blick. Sie könnte ihn hier und jetzt zerstören. Wenn sie ihn zurückwies, würde etwas in ihm zerbrechen, was sich niemals wieder reparieren ließe.
Auf wackligen Beinen ging Celeste das letzte Stück auf ihn zu, dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis Nate den Kuss erwiderte und sie fest an sich zog.
Der Kuss war Celestes Antwort. Sie glaubte fest daran, dass er Nate die Antwort geben würde, die sie nicht aussprechen konnte.
Ein Räuspern ertönte hinter ihnen und Celeste löste sich ruckartig von Nate. Miro stand lächelnd vor ihnen und nickte zufrieden.
»Ich störe euch beide wirklich nur ungern, aber ich würde gern mit dem Prinzen sprechen.«
Celeste sah zu Nate auf. Seine grünen Augen funkelten und sie konnte ihm ansehen, dass er nicht gehen wollte. Also nickte sie und fuhr ihm ein letztes Mal über die Wange.
»Ich warte auf dich.« Diese Worte waren ein Versprechen, das sie für ewig halten wollte.
***
Nathaniel
Sie betraten die gigantische Terrasse, von der aus man einen herrlichen Blick über die verschneiten Gipfel von Samaras Bergen hatte. Direkt am Geländer waren sie so weit vom Ballgeschehen entfernt, dass die Musik nur leise durch die verschlossenen Türen drang. Miro stand schweigend neben ihm. Die Hände hatte der König hinter dem Rücken ineinandergelegt. Der Blick aus seinen grauen Augen schweifte über die Landschaft, die sich vor ihnen erstreckte. Es war eines von wenigen Malen, bei denen Nate Miro mit Krone sah. Auf dem weißen, schütteren Haar saß der goldene Schmuck, der in wenigen Monaten auf Nathaniels Haupt ruhen würde. Verschlungene Ornamente reihten sich aneinander. In der Mitte prangte eine goldene Lilie, die in einer Triskele endete. Das Zeichen der Götter. Doch als Nate diese Krone betrachtete, fühlte er das zentnerschwere Gewicht auf seiner Brust umso deutlicher.
»Es ist viel geschehen in den letzten Wochen«, brach der alte König das Schweigen. Er sah Nate nicht an und das machte es für den Prinzen noch schlimmer.
»Das stimmt«, brummte Nate. Es war zu viel geschehen. Dinge, die nicht hätten passieren dürfen und auf die er nicht vorbereitet gewesen war. Auch jetzt noch fühlte er sich, als hätte man ihn ins Wasser geworfen, ohne dass er wusste, wie man schwimmt.
»Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, um dir zur Seite zu stehen«, sagte Miro.
Nate drehte sich ihm zu. Den Rat des Königs hätte er tatsächlich mehr als einmal gebrauchen können in den letzten Wochen.
»Ihr musstet Euch erholen, Eure Gesundheit steht über allem.« Die Alternative wäre, dass Nate früher den Thron besteigen müsste, als ihm lieb war.
»Auch wenn du es mir vermutlich nicht glaubst, hast du dich sehr gut geschlagen.«
Überrascht hob der Prinz eine Augenbraue. Gut geschlagen? Das musste ein Scherz sein. Er hatte es weder geschafft, den Anführer der Atheos zu stellen, noch einen Anschlag auf ein Gotteskind zu verhindern. Stattdessen hatte er einen Freund zum Tode verurteilt, einen vermeintlichen Verräter, der ihm dann auch noch entwischt war. Ob er Celeste dafür danken sollte, wusste er noch nicht.
»Ich weiß Eure Mühe zu schätzen, aber wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt.« Er hatte auf ganzer Linie versagt. Zumindest fühlte es sich für Nate so an. Er hatte das Vertrauen in sich selbst verloren. Und nicht nur er. Auch Ilias war sich seiner offenbar nicht mehr sicher. Sein eigener Gott hatte ihn verlassen.
»Sei nicht zu hart mit dir selbst, Nathaniel. Es sind finstere Zeiten, jede einzelne Entscheidung ist schwierig. Wenn dieses Amt leicht wäre, könnte es jeder ausführen.«
Nate nickte, auch wenn er nicht überzeugt war.
»Ich versage. Keine Ahnung, wie Ihr das schafft, aber ich schaffe es nicht«, sagte er leise. Er senkte den Blick und sah hinunter in den Innenhof des Palastes. Selbst während seiner Zeit bei Mic hatte Nate nicht diesen Schmerz in der Brust gespürt.
»Versagen hilft uns dabei, zu wachsen. Wenn wir immer die richtige Entscheidung treffen würden, würden wir nie über uns hinauswachsen.«
Ein missmutiges Brummen drang aus Nates Kehle. Leider sah er es nicht so wie der König. Miro war ein weiser Mann, doch er war auch an einem Punkt in seinem Leben angekommen, den Nate noch längst nicht erreicht hatte. Bedauerlicherweise war er meilenweit davon entfernt.
»Du wirst es lernen, Nathaniel. Kein König ist perfekt. Wir wachsen mit unseren Aufgaben. Wenn wir scheitern, dann machen wir es beim nächsten Mal besser. Setz dich nicht unnötig unter Druck.« Väterlich legte Miro ihm eine Hand auf die Schulter. Ein mitfühlender Ausdruck lag in seinen Augen.
»Ich hoffe es«, flüsterte Nate. Viel länger konnte er das Gefühl des Versagens nicht ertragen. Es zehrte an seinen Nerven. An seinen Kräften. Und an seinem Verstand.
»Ich bin sehr stolz auf dich, mein Junge. Das solltest du wissen.« Die Falten um die Augen des Königs wurden tiefer, als er Nate anlächelte.
Eine leise Erleichterung breitete sich in Nates Brust aus und das Gewicht verlor etwas an Schwere.
»Danke«, flüsterte er. Lange hatte ihm keiner mehr gesagt, dass er stolz auf ihn war. Stolz war etwas, was Nate lange nicht verspürt oder erfahren hatte.
Miro nickte ihm zu, dann wanderte sein Blick zu den geschlossenen Türen in ihrem Rücken. Durch die bodenhohen Fenster konnten sie das rege Treiben im Saal sehen. Rauschende Roben reihten sich aneinander und wurden von zartem Kerzenlicht erhellt.
Der Prinz folgte seinem Blick und sah Celeste. Sie stand neben Malia. Der Rotschopf sah wunderschön aus. Ein Lächeln breitete sich auf Nates Gesicht aus. Nur zu gern würde er sofort zu ihr zurückkehren. Sie in seine Arme ziehen und den Duft von Zimt einatmen.
»Du liebst sie, nicht wahr?«
Nate fuhr zum König herum. Miros Blick lag ebenfalls auf der Himmelstochter und ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. Nate senkte den Blick und dachte an den Rotschopf. An ihr Lächeln, an ihre Kabbeleien.
»Was hat mich verraten?«
Ein leises Lachen.
»Du lässt sie niemals aus den Augen. Das zeigt, wie wichtig sie dir ist«, erläuterte Miro.
Der Prinz dachte über die Worte des Königs nach. Es stimmte: Wann immer er einen Raum betrat, Nates Blick suchte sofort nach Celestes Gestalt. Ihr bloßer Anblick bändigte seine Unruhe oder auch seinen Zorn. Wenn er selbst nicht Herr über seine Wut und seine Ängste werden konnte, brauchte er Celeste.
»War es bei Euch genauso mit der Frau, die ihr liebtet?«, wollte Nate wissen.
Doch der König schüttelte den Kopf.
»Vielleicht am Anfang, aber unsere Beziehung war anders. Wir waren wie leiser Regen: ruhig und verträumt. Du und Celeste, ihr seid wie ein Sturm und ein Vulkan. Ungebändigt und entfesselt.«
Nate hätte gern gewusst, ob er der Sturm und der Vulkan war – doch dazu kam er nicht mehr.
Der Prinz hatte ihn nicht kommen sehen.
Wie um der Götter Willen hatte er ihn nicht kommen sehen können? Den Pfeil. Der Eintrittswunde zufolge musste der Pfeil von einem der Palasttürme abgeschossen worden sein, die auf derselben Höhe wie die Terrasse lagen. Kein einfacher Schuss.
Die Musik aus dem Ballsaal verschluckte jegliche Geräusche ringsum und die ausgelassene Stimmung hatte ihn blind werden lassen für Gefahr. Dabei hatte Nate um sie gewusst. Seit Wochen kannte er nichts anderes und doch war er unachtsam gewesen. Und dafür würde er nun den Preis zahlen.
Nate starrte Miro entsetzt an. Die stahlgrauen Augen des Königs weiteten sich. Unglaube lag darin, aber Nate konnte die wachsende Panik sehen. Miros Hand griff an seine Brust und Nate folgte der Bewegung mit seinen Augen. Der Bolzen ragte heraus. Mitten aus Miros Herz. Es kam Nate so vor, als stünde die Zeit still. Wie in Zeitlupe fiel Miro auf die Knie. Das zuvor rein goldfarbene Hemd war binnen weniger Sekunden von Blut durchtränkt.
Der Prinz war wie gelähmt. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Er konnte nichts anders tun, als den König anzustarren. Dabei zuzusehen, wie das Blut mehr und mehr den ganzen Stoff durchtränkte. Wie die Hände des Königs sich um den Bolzen legten und er darauf schaute, als könne er selbst nicht glauben, was geschehen war. Als Miros Körper zu Boden ging, erwachte Nate aus seiner Starre.
Bevor Miros Kopf auf dem Boden aufschlug, fing Nate ihn ab. Miros Hände schlossen sich um Nates Oberarme. Hielten sich an ihm fest wie ein Ertrinkender an einem rettenden Stück Treibholz. Doch waren sie nicht auf offener See und Nate verkörperte nicht das rettende Ufer.
»Haltet durch«, seine Stimme war rau und Nate erkannte sie selbst nicht wieder. Was sollte er bloß tun?
»Hört Ihr mich? Ihr müsst durchhalten!« Nate blickte auf. Sie waren die Einzigen, die etwas Ruhe auf der Terrasse gesucht hatten. Nate begann, lautstark nach Hilfe zu rufen. Seine Stimme klang dabei panisch und überschlug sich. Aufgrund der lauten Musik und der verschlossenen Türen schien ihn aber niemand zu hören.
»Ich muss Hilfe holen.« Nate war dabei, Miro loszulassen und sich zu erheben, doch der König verstärkte seinen Griff.
»Es ist zu spät, mein Junge.« Das Gesicht des alten Mannes entspannte sich. Kein Schmerz war darin zu sehen. Keine Angst vor dem, was kommen würde. Dafür wuchs die Angst in Nate ins Unermessliche. Das, was jetzt geschah, durfte nicht passieren.
»Sagt das nicht. Ihr werdet nicht sterben!«
Nate hob den Kopf. Keiner im Ballsaal ahnte bisher, was hier draußen geschehen war. Niemand hatte die Gefahr kommen sehen.
Aus vollem Hals schrie Nate jetzt um Hilfe. Seine Stimme nur noch ein Krächzen, kaum wiederzuerkennen. Und doch hörte man ihn endlich. Die Terrassentüren wurden aufgerissen und Nate erblickte Lord Karim, dicht gefolgt von Celeste und Malia.
»Wir brauchen Hilfe«, krächzte der Prinz.
Dann blickte er wieder zu Miro, der schlaff in seinen Armen lag. Noch hielt der König die Augen geöffnet, doch sein Gesicht hatte an Farbe verloren. Die Haut war eingefallen und hatte die Farbe von Schnee angenommen. Nate bekam mit, wie Celeste keuchte und auf ihn zustürmte. Doch Malia war die Erste, die ihn erreichte. Sie ergriff sofort die Hand des Königs und Nate konnte das Wirken ihrer Gabe spüren. Und doch wusste er, dass sie zu spät kam. Diese Wunde konnte nicht geheilt werden. Der Pfeil hatte sein Ziel getroffen und niemand auf dieser Welt konnte das Unvermeidliche verhindern. Nicht einmal Malia mit ihrer göttlichen Gabe der Heilung.
Karim eilte zurück in den Saal und kam nur wenige Sekunden später mit Lord Chalid zurück. Ihm folgten Linnéa, Selena und Simea. Bald schon wuselten dutzende Leute auf der Terrasse um Nate herum. Doch er nahm keinen von ihnen wirklich wahr. Er bemerkte zwar Chalid, wie er sich neben Malia niederließ und ihr Fragen stellte, wie er die Wunde in Miros Brust begutachtete und wie die Priesterin alles in ihrer Macht Stehende tat, um den König am Leben zu erhalten. Doch Nates Augen verließen nicht Miros Gesicht.
Die grauen Augen des Königs waren ebenso auf ihn gerichtet. Nate hatte erwartet, Angst, Reue und vielleicht Zorn darin zu sehen. Doch das Einzige, was Nate wirklich sah, war Akzeptanz. Miro bedachte ihn mit einem Lächeln. Das Blut, das dabei aus seinem Mundwinkel lief, war der Beweis, dass Nate recht hatte. Niemand konnte Miro jetzt noch helfen. Der Prinz ergriff Miros Hände und suchte nach dessen Puls. Der Herzschlag des Königs ging langsam und unstet.
»Jetzt bist du an der Reihe, mein Junge«, stieß der König leise und mit einem Röcheln aus, wobei er Blut spuckte. Die Brust hob und senkte sich unregelmäßig und Nate fühlte sich so hilflos. Er wollte Miro das Ende leichter machen, doch wusste nicht, wie. Nate war nicht dazu imstande, dieses Ende zu akzeptieren.
»Gibt es nichts, was du tun kannst?« Voller Panik sah er Malia an. Die Tränen in den Augen der Priesterin waren Antwort genug. Malia presste sich die blutbeschmierte Hand vors Gesicht und stieß ein Wimmern aus. Celeste fiel hinter ihm auf die Knie und weinte leise. Nate spürte noch, wie sie ihm die Hand auf die Schulter legte, bevor ein Druck an seinen Händen seine ganze Aufmerksamkeit verlangte.
Miro atmete schwer. Die Blutung hatte aufgehört. Seine Augen schlossen sich langsam.
»Nathaniel, du musst diesem Land den Frieden bringen.« Jedes einzelne Wort schien ihn Kraft zu kosten und dabei war es nicht mehr als ein Flüstern. »Das Land braucht seinen König. Es braucht dich. Lass nicht zu, dass sie gewinnen.«
Nate schluckte schwer. Er konnte nichts auf die Worte des Königs erwidern. Stattdessen drückte er Miros Hand und zog ihn ein Stück hoch in seine Arme. Niemand hinderte ihn daran. Nicht Lord Chalid, der mit den Beratern des Königs diskutierte. Nicht Espen, der Soldaten Befehle zuschrie. Und auch nicht Malia, die ihn mit blankem Entsetzen ansah. Jeder schien zu begreifen, was kommen würde, und doch schien niemand es wirklich zu verstehen.
»Nathaniel, versprich mir, dass du dich um unser Land kümmerst.« Miros Augenlider wurden schwer. Sie flatterten und ihm fehlte die Kraft, sie weiter offen zu halten.
Nates Lippen lagen dicht an Miros Ohr.
»Ich verspreche es.« Es war ein Versprechen, das er vorhatte, zu halten.
Dann spürte er, wie das Leben Miros Körper verließ. Wie seine Gliedmaßen erschlafften und sein Kopf nach hinten fiel.
Ein tiefer Schmerz nahm von Nates Körper Besitz. Als wäre er selbst es, der gerade starb. Ein Schrei stieg aus seiner Kehle empor und verließ seinen Mund. Er hatte es nicht verhindern können. Hatte nur zusehen können, wie der König in seinen Armen starb. Etwas Nasses rann seine Wangen hinab und Nate merkte erst, als Tränen auf Miros Gesicht fielen, dass er es war, der weinte. Er weinte um den Mentor, den er verloren hatte. Um den Freund, der ihm genommen worden war, und um den König, den dieses Land so dringend brauchte.
Miro war tot. Der König von Sirion war tot.
Ein Blitz erhellte in diesem Moment den Himmel und weitere folgten. Dichte Wolken zogen auf und verdunkelten die Nacht. Eiskalter Wind wehte über Samara hinweg und die ersten Regentropen fielen vom Himmel. Aus den wenigen Tropfen wurde in Windeseile ein endloser Schauer.
Nate kam es vor, als weinten auch die Götter um das verlorene Gotteskind. Um ihren verlorenen Sohn.
ENDE von Band 3