ENTEIGNUNG
Mein Vater ist vor zwei Wochen gestorben, und ich weiß nicht, was ich fühle. Wenn ich an ihn denke, stellen sich Szenen, Handlungen und Worte ein, in Fetzen, die in der Regel nicht gerade von Liebe oder Zugewandtheit zeugen, oder wenn, dann in einer aus meiner Sicht pervertierten Form: in der Form des Zugriffs.
Es kam ihm an keinem Tag seines Lebens in den Sinn, dass dies unangemessen sein könnte. Er war alt, gewiss, ein Kriegskind, doch ich frage mich, wie viele seinesgleichen da draußen wohl unterwegs sind.
Formen des Zugriffs, die ich oft hörte: »Du bleibst immer meine Tochter.« Heißt: »Ich habe für immer das Recht, mich in dein Leben einzumischen, es zu beurteilen.« Eine Konsequenz: Er fasste mir plötzlich von hinten an den Po, um zu beurteilen, wie fett oder nicht fett ich gerade war. Wie attraktiv für Männer, sollte das heißen. Andere Frauen wurden an dieser Stelle gelobt (mir als Beispiel vor Augen gestellt). Meist war ich zu dick, das wurde kommentiert. Meine Figur war sozusagen das Eigentum meines Vaters, auch als ich 50 wurde, als ich 60 wurde. Alter egal.
Und was machte das mit mir? Ich fand jede Art von Körperkontakt mit ihm widerlich. Ich fuhr ihn nicht gern besuchen. Ich wurde jedes Mal enteignet. Meines Körpers enteignet. Geschweige denn der anderen, nicht-körperlichen Aspekte meiner Identität (etwa: meine Bücher, meine Intellektualität, meine Niederlagen, meine Kümmernisse). Das alles galt nichts in seinen Augen. Ich war Frauenkörper, der (anderen Männern) zur Verfügung zu stehen hatte.
Meine Scheidung konnte da nur mein Fehler sein.
Aber was sage ich, »ich fuhr ihn nicht gern besuchen«. Er lebte nicht allein. Er lebte mit meiner Mutter zusammen. Genauer: Sie lebte neben/hinter ihm. Sie unterstützte das alles, lebte es mit, verbreitete es noch.
Sagen wir es hier offen: Wenn das der Hintergrund ist, den du mitbringst und als Elternteil mit dir herumschleppst, durch sechs Lebensjahrzehnte – was macht das mit dir?
Und jetzt: ist dieser Blick, ist diese Hand aufgelöst. Ende, fini, aus, ade.
Was fühle ich?
Erleichterung?
Ja, in Teilen. Aber nicht nur. Sie kommt nicht von selbst. Ich muss sie mir erarbeiten, glaube ich. Sie mir erlauben. Herauswachsen aus dieser Beurteilungsmaschine.