DA UNTEN
Meine Mutter hat mit mir nie über Sex geredet, über Menstruation oder mein Geschlecht. Ihr Mund war vom Schweigen der Generationen vor ihr wie beschnitten. »Das ist für da unten«, sagte sie knapp, als das Blut nicht mehr zu leugnen war, und schob mir heimlich eine Packung Binden zu. Und vorher – über Jahre hinweg – immer wieder ihre bange Frage: »Hast du sie schon?«
»Nein«, presste ich jedes Mal hervor. Auch mit dreizehn noch, als wir es längst beide wussten. Sie wusch doch meine Wäsche! Sie sah doch das Blut. Ich sagte trotzdem weiterhin »Nein«, und wir wechselten erleichtert das Thema.
Ich habe als eines der ersten Mädchen in meiner Klasse die Regel bekommen. Ich hätte gern gewartet, wäre gern das kluge, dicke Mädchen geblieben, das sonntags laut in der Kirche sang, sich alles traute und nach der Schule mit seinen Freundinnen im Heu lag. Doch es sollte anders kommen. Kurz bevor ich meine erste Regel bekam, verlor ich etwas anderes Wesentliches: meinen Kinderglauben, in dem ich über ein Jahrzehnt lang wie in einer zweiten Haut gesteckt hatte. Meine frühesten Texte waren Diktate an Gott. Ich war keine unterwürfige Gläubige gewesen, eher eine forsche Verhandlerin, aber ich hatte geglaubt mit einem Furor und einer Liebe, wie es nur in der Kindheit geht. An den genauen Moment erinnere ich mich nicht, aber ich erinnere mich an den Morgen, als ich aufwachte und mir klar wurde, dass das alles nur Geschichten sind, die sich die Leute aus Angst vor der Zukunft erzählen. Wenig später überraschte mich die Periode. Meine Freundinnen waren noch Kinder. Ich aber wischte das Blut zwischen meinen Schenkeln ab und dachte: So, jetzt musst du bumsen.
Ich bekam als Letzte in der Klasse meine Menstruation. Ich fühlte mich ausgeschlossen, wenn meine Mitschülerinnen sich verstohlen Tampons unter den Schultischen weiterreichten. Einmal schloss ich trotzig meine Hand um einen und gab ihn nicht weiter. Meine Freundin V., die neben mir saß, lächelte mich an und legte mir anerkennend die Hand auf die Schulter. Es dauerte noch ganze sechs Monate, bis sie wirklich kam. Ich war mit V. und ihrer Familie in den Sommerferien im Nordwesten Frankreichs. An jenem Nachmittag waren wir am Strand, rannten in die tosende Brandung, ließen uns vom Atlantik durchwirbeln und legten uns zum Trocknen in die pralle Sonne. Ich hatte mir am Tag zuvor einen neuen Badeanzug in Apricot gekauft, der meine leicht gebräunte Haut besser zur Geltung bringen sollte. V.s älterer Bruder kam aus dem Wasser und blieb vor mir stehen. »Iiiih«, rief er. V. folgte seinem Blick, warf blitzschnell ein Handtuch über mich. In der Strandtoilette riss ich aufgeregt die Packung auf, fummelte die feine Plastikhülle vom Tampon und versuchte, ihn mir reinzustecken. Ich bekam es nicht hin. »Warum dauert das so lang?« V. wartete vor der Tür. Mir liefen die Tränen vor Verzweiflung, aber ich schaffte es nicht, mich ihr anzuvertrauen, zuzugeben, dass ich die ganze Zeit über wegen meiner Menstruation gelogen hatte. Irgendwann legte ich mir sechs Tampons auf einmal in die Unterhose und lief den Rest des Tages mit Shorts rum. Erst später auf den Urlaubsfotos sah ich die Beule zwischen den Beinen, meinen Penis aus Tampons.
Ich war auch die Letzte in meiner Klasse. Meine Mutter nahm meine erste Menstruation zum Anlass, mir zu sagen, ich solle vorsichtig sein, mit wem ich Sex habe – manche Männer wollten einen nur ausnutzen. Wir saßen zusammen in der Badewanne, und das war es, was sie mir zum Thema Sex zu sagen hatte. Im Nachhinein tut sie mir leid. Im Nachhinein denke ich, ich bin in meinen 20ern vielleicht auch deshalb so wahllos mit Typen ins Bett gegangen, weil ich mir beweisen wollte, dass ich das kann. Weil ich es will. Und ohne dass mich irgendwer ausnutzt.
Beim Lesen bleibt vor allem dieses Bild stehen: wie ihr gemeinsam in der Badewanne sitzt – schön.
Ja, das stimmt, und es freut mich, dass du das schreibst. Die Frauen in meiner Familie pflegen eine große körperliche Intimität. Meine Mutter hat auch mit ihrer Mutter noch bis ins hohe Alter gekuschelt und gebadet. Als meine Oma schon schwer dement war, sind wir manchmal zu ihr ins Bett gekrochen, einfach um ihr nahe zu sein. Das hat mir meine Mutter auch mitgegeben: ein Bewusstsein dafür, wie wichtig Berührungen sind.
Everyone is female and everyone loves it! *Konfetti* Everyone is female and everyone loves it!
*Schuss einer Handfeuerwaffe*
Viele Jahre lang habe ich jeden Monat aufs Neue die erste Periode bekommen, weil ich nach jeder Blutung verdrängt habe, dass mein Körper das kann.
von kind an gelingt es mir nicht, meinen körper zu disziplinieren. er macht, was er will. er macht, was er gesehen und gelernt hat, oder eben nicht. mein körper macht nicht, was die körper der anderen tun. entwickelt keinen busen, sondern eine riesige nase. während die mädchen in der schule mit ihrer periode prahlen, passiert bei mir gar nichts. mein körper vermeidet, zum geschlecht zu werden, zu einem bestimmten, und damit die möglichkeit zum anderen geschlecht zu verlieren. vielleicht hütet sich mein körper aufgrund der gewalterfahrungen meiner großmutter und mutter, in diesen raum zu treten, aus dem es kein entkommen gibt, und wenn nur ein schlimmes. ich bin noch nicht bereit, zu akzeptieren, dass ich frau werden soll und nichts sonst. andererseits wird von der umgebung genau festgestellt, wer in die geschlechtliche norm passt und wer nicht. mein gesicht ist männlich, wird gesagt, ich benehme mich wie ein junge, wird mir vorgeworfen. ein nachbar macht sich lustig, ich sei keine frau, sondern ein zwitter, was das schlimmste schimpfwort ist. das wort verfolgt mich, ich befürchte, tatsächlich eine mischung aus zwei geschlechtern zu sein, uneindeutig. auch weil freundinnen fraglos zu frauen werden. lang vor mir. mit niemandem traue ich mich, darüber zu reden, nehme die angebliche abweichung auf meine schultern, schleppe daran.
Im Alter von vierzig Jahren wachte ich eines Nachts in einem Tümpel voll Blut auf. Schluchzend saß ich dann in der Badewanne und ließ das Wasser die rote Flüssigkeit aus meinem Inneren wegspülen. Die Gynäkologin riet mir, mit dem Myom auch gleich die Gebärmutter entfernen zu lassen. Das fand ich gut. Endlich kein Blut mehr. Ich blieb zwar Frau, aber ohne all die damit verbundenen körperlichen Nebenerscheinungen. Nicht mehr empfängnisfähig zu sein, war für mich eine enorme Erleichterung.
Ich mag es, wenn nach dem Cunnilingus mein Blut aus ihren Mundwinkeln tropft, ihr Gesicht rot und klebrig. Ich mag es, wenn sich im Schritt meiner hellen Hose ein dunkler Fleck abzeichnet. Wenn ich aufstehe und ein schmieriges Rot auf dem Polster zurückbleibt, sichtbar für alle.
Ich mochte sie nie, diese ekligen Blutungen, den Geruch, die verschmutzte Unterhose, das Reiben der Binde an der zarten Haut neben der Vulva, die Panik, nicht rechtzeitig ein Klo zu finden, die Panik, unwissentlich einen verräterischen Fleck an der Kleidung zu haben, irgendwo hinten. Die beiden Male, als ich während der Menstruation Sex hatte, sind mir unangenehm in Erinnerung. Das Bett voller Blut. Ich konnte nicht verstehen, dass die Männer das mochten.
Die fantastische Kleidung ihrer Konfirmation. Eine weiße Bluse mit großem, ausladendem Kragen, eine Reminiszenz an Kindersonntagsblusen but with a modern twist, ein schwarzes, knielanges Jackett ohne Ärmel, ein Rock, an den sie sich nicht erinnert, glänzende Ballerinas mit kleinem Absatz (dem ersten). Sie waren zusammen einkaufen gewesen, ihre Mutter und sie, nichts davon war secondhand, alles war neu. Es war ihr erster Auftritt als Frau, so nahm sie es wahr, und fieberte dem Konfirmationsgottesdienst entgegen, an dem sie die Bühne vor dem Altar endlich betreten, sich allen zeigen würde.
Als es so weit war, zerfloss der Tag. Ihre Mutter blutete heftig, es lief ohne Unterlass, die Wechseljahre, wusste sie von ihr. Zwei Super-Plus-Tampons, die größten, die es gab, steckten in ihrer Mutter, zwei dicke Binden übereinander in ihrer Unterhose, und trotzdem lief das Blut, drohte jeden Moment aus den Hosenbeinen herauszulaufen, die Kirche zu überschwemmen. Sie strich über den feinen Stoff ihres Jacketts und drehte sich immer wieder nervös nach ihrer Mutter um, die bleich zwischen den Großeltern saß. Versuchte zu verstehen, was vor sich ging, menstruierte ja selbst noch gar nicht und wusste doch schon alles darüber: die schleimigen Klumpen, das Triefen, das Tropfen, die verschmierten Finger ihrer Mutter, die, als es ein halbes Jahr später auch bei ihr endlich so weit war, kaum zu trennen waren von ihren eigenen, als hätte sie zwanzig Finger, die das knisternde Plastik vom Tampon nestelten, ihn einführten.
Ich bekam meine Periode am Weihnachtsabend 1994. Als kleines, in blutroten Samt eingeschlagenes Päckchen lag sie unterm Weihnachtsbaum; ein goldenes Schleifchen darum. Meine Eltern nickten mir wohlwollend zu, als ich vorsichtig das Geschenkband löste. Mit angehaltenem Atem schlug ich, gewärmt von ihren liebenden Blicken, den Samtstoff auseinander. Eine kleine Holzschatulle kam zum Vorschein. Ich befühlte das polierte Holz, spielte am filigranen Metallverschlüsschen herum. Als ich die Hand meiner Mutter auf der Schulter spürte, traute ich mich endlich, den Deckel zu heben. Und da war sie.
Die wievielte Pubertät durchlebe ich? Wann verstehe ich die Welt durch mein Verlangen? Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. In meinem Verlangen sehe ich die ganze Welt brennen. Wie Memoryfoam für Trauma. So genau wollen wir das aber auch nicht wissen. »Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr« (Ilse Aichinger). Ungenau werden, ungenau. Das hier ist nicht der Trend zur Autofiktion, also vergessen wir das. Wir gegen den Zeitgeist. Aber was, wenn ich, äh, also wir uns so gut und richtig wie nur möglich vergessen, aber das Ich doch durchrutscht, auffliegt, ganz und gar als falsche Frau entblößt wird? Das habe jetzt ich gesagt und nicht ich. Da können wir ja nur verrückt werden, aber immerhin zwingen wir uns dazu, schön dabei auszusehen. Oder hässlich. Wir werden jedenfalls prächtig sein.