BEURTEILUNGS­MASCHINE

Der betrunkene, offenbar verwirrte Mann auf der Straße, der mich anmacht, makes me feel like a natural born woman. Auch der Dude, der mich nach zwei Dates ghostet, da er aufgrund meiner Hüften im festen Glauben war, ich sei FTM (= female to male), und erschrocken feststellen musste, dass ich nicht das Original war, sondern ganz im Gegenteil: Er hat den Transsexuellen von hinten aufgezäumt. Was für eine krasse Projektionsfläche ein Körper sein kann. Der Dude wollte Pussy, wo keine ist. Der Dude wollte easy access – einen precious, reinen tboy und nicht so ein perverses tgirl, einen Paraphilen, einen Freak, einen Buffalo Bill oder was auch immer man an kränkender Nomenklatur noch für mich finden kann. Meine kleine Fantasy, in der ich zur Frau werde, wenn ich nur unterwürfig genug bin, hat keine reale Entsprechung. Meine Identität wird von anderen konstruiert, da kann ich mir noch so viele Gedanken machen und in Büchern zu Female Pleasure auftauchen, wie ich will. Und durch dieses blatante Heruntermachen meiner selbst erhoffe ich genauso ein ontologisches Erbarmen vor der Wahrnehmung der Leser*in: Wer schreibt hier? Was schreibt hier, was ist hier am Werk? Stelle ich mich hier zu sehr ins Rampenlicht, sollte ich nicht im Chor verschwinden? Ich wünschte! Ich wünschte, ich könnte verschwinden! Keine Sichtbarkeit für mich! Für niemanden!

Ich habe diese Erinnerung. Manchmal träume ich davon. Wir sind 16, vielleicht auch 17 Jahre. Wir sitzen in einem Garten in Barcelona, zusammen mit anderen Reisenden. Es ist ein heißer Sommer, wir leben fast nur nachts, rauchen, trinken, tanzen, schlafen morgens so lang, bis uns die Putzkräfte des Hostels aus den Doppelstockbetten jagen. Ich habe kaum eine andere Erinnerung an die Stadt als diesen Garten. An einem frühen Abend komme ich ins Gespräch mit einem älteren Herrn aus den Staaten, er behauptet, er sei Schriftsteller. So weckt er überhaupt nur mein Interesse. Er hat ein krankes Bein, braucht viel Hilfe. Aber sein bester Student – so nennt er ihn – begleitet ihn auf dieser Reise durch Europa. Fortan beobachte ich die beiden, wie sie im Garten zwischen den Bougainvilleen sitzen und schreiben und in ihre Kladden notieren. Kurz bevor wir abreisen, verwickelt er mich abermals in ein Gespräch. Dass er uns beide beobachtet habe, sagt er wie aus dem Nichts. Ob wir Schwestern seien? Ich verneine. Ich kenne die Frage. Wir werden das ständig gefragt. Für uns nur ein weiterer Beweis dafür, dass sich unsere Verbundenheit auch im Außen ausdrückt. Der Schriftsteller schaut mich lange an, seltsam, wissend, er sagt: »Eine schwierige Geschichte; eine ist am Ende immer einen Tick hübscher – und wie geht die andere dann damit um?«

Ich habe meiner Freundin nie davon erzählt. Wir sind immer noch sehr gut befreundet, hin und wieder denke ich an den alten, weißen Schriftsteller. Sicher ist: Die Geschichte, die er in uns sah, glich in nichts unserer Geschichte – und trotzdem denke ich darüber nach, welche Rolle er mir zugedacht hatte. Ob ich die Hübsche oder die Einen-Tick-Weniger-Hübsche bin. Etwas hat er mit seinem Blick zerstört, und ich weiß nicht, wie ich ihn wieder abschütteln kann.

»Kluge Frauen wie du sind nie unschuldig.«

»You have an ass fit for twerking.«

»Du bist zu intelligent, um ohne es zu wollen in eine solche Situation zu kommen.«

»Schwarze Frauen sind einfach nicht meine Präferenz. Das hat mit Rassismus nichts zu tun, aber du siehst zum Glück ja nicht so aus.«

Sexistische Witze waren in meiner Kindheit an der Tagesordnung. Wer keinen Spaß verstand, konnte in meiner Familie gleich einpacken. So haben auch alle den Spitznamen, den mein Vater meiner besten Freundin in der fünften Klasse gab, übernommen: Tittenmaus. Ich fand das lustig, weil der Name so nah an Diddl-Maus war. Und meine Freundin hatte beides: die begehrten Kuscheltiere und den Ansatz eines Busens.

Eine Freundin von mir war mit ihrem Vater im Auto unterwegs. An einer Kreuzung rief er aus: »Schau mal die! Die hat ja ordentlich Holz vor der Hütte!« Das war ich auf dem Rennrad. Ich sah die beiden nicht. Als die Freundin mir das erzählte, amüsierten wir uns köstlich. Ich hatte damals das Rennrad meines Mitbewohners ausgeliehen, weil ich mir überlegte, selbst eins zu kaufen. Es war wundervoll, damit durch die Stadt zu düsen. Aber ich kaufte mir keins. Ich wollte nicht den Vätern meiner Freundinnen auffallen.

ich verdränge es gern und würde es gern vollumfänglich vergessen, aber es fällt mir alle paar monate wieder ein: wie mein vater mich anrief und mit dieser leisen, wütenden stimme fragte, ob mir eigentlich klar sei, wie furchtbar beschämend es für ihn sei, wenn arbeitskollegen ihn im büro zwischen tür und angel auf meine großen brüste ansprechen würden, die sie zufällig auf fotos gesehen hatten, von denen er nichts gewusst hatte.

er meinte damit nicht die misogynie seiner kollegen oder seine eigene. keine scham angesichts des (eigenen) male gaze, er meinte: ich, seine tochter, sei eine SCHANDE für die ganze familie, auch wenn er das so nicht sagte.

die kommentare der arbeitskollegen klangen in seiner erzählung lüstern und belustigt zugleich; ich konnte es mir vorstellen, es widerte mich an. ich weiß nicht, was er entgegnete. ich entschuldigte mich.

ich war noch keine zwanzig und wusste bis zu diesem zeitpunkt nicht einmal, dass ich große brüste hatte. ich trug ein b-körbchen. die fotos entstanden im rahmen einer kunstperformance.

Mein Vater, der mir auf einem Foto zeigt, dass ich längere Beine habe als die anderen dort abgebildeten Mädchen. Da bin ich acht oder neun. Mein Vater erklärt mir, dass es gut ist, lange Beine zu haben, als Frau. Nur leider sind meine Beine dann schon bald nicht mehr nur lang, sondern auch kräftig. Und das ist natürlich nicht gut. Dagegen muss etwas unternommen werden. Seitdem ich denken kann, wird mein Körper bewertet. Ich habe diese Stimmen verinnerlicht, und ich werde sie nicht los, auch heute nicht. Es schmerzt mich, wie viel Zeit ich damit zugebracht habe und zubringe, darüber nachzudenken, was an meinem Körper alles nicht richtig ist.

mein vater, der mich mit 15 jahren FETTSCHWANZ nennt, weil ich keine lust habe, bei einem familienausflug einen trimm-dich-pfad zu laufen. das wort wohnt bis heute in mir. ich finde es eklig, obszön, schmerzhaft. zu jener zeit kotzte ich schon regelmäßig. auch meine bewegungen wurden beurteilt. DU BÜCKST DICH JA WIE EINE ALTE FRAU.

Meine Mutter, ich bin neunzehn, die mich am Bahnhof stehend fragt, warum ich mich immer so stark schminkte, ich sähe aus wie ein Papagei. Ach ja?, sage ich, breite die Arme aus und mache Flatterbewegungen, stoße Papageienlaute aus, bis sie kopfschüttelnd weggeht. In der Zugtoilette wische ich mir später alles aus dem Gesicht.

Meine Mutter erzählte mir vor ein paar Jahren eine Geschichte. Bei einem Arztbesuch in einer neuen Praxis hielt sie beim Eintreten ins Sprechzimmer kurz die Luft an, der junge Arzt war extrem gutaussehend. Etwas nervös berichtete sie, weshalb sie gekommen war, dann sollte sie sich oben frei machen. Es fiel ihr nicht leicht, sich vor dem etwa dreißig Jahre jüngeren Mann auszuziehen. Er horchte sie ab, bat sie, sich hinzulegen, dann untersuchte er sie. Als er fertig war, ging er zu seinem Schreibtisch, setzte sich lässig darauf und gab ihr eine Einschätzung ihrer gesundheitlichen Lage. Unsicher, ob sie sich wieder anziehen konnte, richtete sich meine Mutter auf und blieb mit entblößter Brust sitzen. Dass sie einen sehr schönen und großen Busen habe, sagte der Arzt plötzlich und lächelte sie an. Dann sprach er einfach weiter. Beschämend und brutal sei das gewesen, aber ihr erst danach bewusst geworden, erzählte meine Mutter.

Ich habe noch oft an dieses Bild, an den kurzen Moment vor jenem Satz gedacht, wie meine Mutter dort saß, nervös und unsicher, weil ihr der junge Arzt gefiel. Es bricht mir das Herz.

Ich erinnere mich an einen Freund, selbst homosexuell, der mich einmal fragte, ob auch Lesben menstruierten. Ich sah ihn groß an, suchte nach einer Erwiderung im männlich-schwulen Sektor. Fand sie nicht, oder wollte sie nicht finden. Woher kam diese Frage?

Auch schwule Männer können Männer sein, denen ein heteronormativer Blick auf Frauen eingeschrieben ist. Seine Frage offenbart eine komplett männlich zentrierte Sicht auf die Bedeutung des »Frauseins«. Eine Frau zu sein, ist demnach allein auf das männliche Begehren ausgerichtet. Nach dieser Logik sind Frauen, die Frauen begehren, keine Frauen – sie sind inexistent.

wie kann man das rückgängig machen? wie vergessen? oft habe ich das gefühl, mein körper ist deformiert von diesen blicken, sprüchen, urteilen.

Manien: Before/After pics googeln, Kinnpartien nach Hängebäckchen abscannen, Nasenlinien checken, alles Stups. Im Zara sehe ich vier Frauen unterschiedlichen Alters mit derselben vorgewölbten Oberlippe. Mir signalisiert das: Mein älter werdender Körper sinkt im Wert. Aber selbst wenn ich wollte, habe ich gar nicht die Mittel, ihn aufzupimpen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, schnell noch was erleben und abgreifen zu müssen, was mir später verwehrt bleiben wird. Jetzt geht ja vielleicht noch was, gerade noch so. Wobei, auch da bin ich unsicher. Die Schwangerschaften haben den Körper deformiert oder, um es liebevoller zu sagen, in eine neue Form gebracht. Eine wenig ältere Kollegin, auf dieses Buchprojekt angesprochen, äußerte neulich ihr Unverständnis dafür, dass viele Frauen mit ihrem Aussehen und dem Altern hadern. Die Fixierung auf den eigenen Körper finde sie eindimensional und uninteressant. Als wäre das selbst gewählt, als wäre das etwas, das wir uns im Kapitalismus aussuchen könnten, denke ich, und dass es wenig gibt, was ich mehr verachte als das Beschämtwerden durch eine andere Frau.

Die Autorin Lea Sauer fragt in einer Instagram-Story: Wie kann eine Welt aussehen, in der Schönheit nicht vermarktbar ist?