J’AI FAIM, J’AI FROID
Ich weiß, bei welchem Gewicht ich mich wohl in meinem Körper fühle. Ich weiß, bei welchem Gewicht ich mich schön finde. Um dieses Gewicht zu erlangen, muss ich Sport treiben und wenig essen. Muss ich abends manchmal hungrig ins Bett gehen und hier und da das Frühstück auslassen. Das ist es mir wert, in den kurzen Phasen, in denen ich das Gewicht erreiche und halten kann. Im Gespräch mit anderen würde ich aber natürlich nicht zugeben, dass ich weiß, wie viele Kalorien das Stück Kuchen hat und dass ich es deshalb nicht esse und nicht, weil ich glutenunverträglich bin. Denn in den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist Diäthalten extrem uncool. Riots not diets und so. Ich beobachte die Frauen um mich herum, ihr Essverhalten und wie sie über Essen und ihre Körper sprechen und denke immer wieder: Wir sind alle so verkorkst. Ich kenne kaum eine Frau, die ein entspanntes Verhältnis zu Essen und ihrem Körper hat. Und irgendwie denke ich, ich sollte mich einfach mit meiner Prägung abfinden, damit, dass ich bereit bin, weniger zu essen, als ich eigentlich möchte, Sport zu treiben, auch wenn ich keinen Bock drauf habe – um mich in meinem Körper wohlzufühlen. Denn ich feiere zwar die Frauen, die auf Instagram ihre nicht normschönen Körper zeigen, aber ich denke auch immer wieder, wenn ich beispielsweise einen von Schwangerschaftsstreifen marmorierten Bauchlappen über das Bündchen eines Stringtangas hängen sehe: Hey, ja, cool, ja, das ist irgendwie empowernd, dass du das machst, aber ICH will nicht so aussehen. Und dann sehe ich die Frauen mit den haarigen Beinen und den haarigen Oberlippen und der Cellulitis unter der Radlerhose und denke, hey, ja, cool, ABER ICH WILL NICHT SO AUSSEHEN. Und dann komme ich mir wie ein Arschloch vor, weil ich das denke. Und dann komme ich mir wie ein Loser vor, weil ich es immer noch nicht geschafft habe, diesen ganzen Mist zu überwinden und meinen Körper zu lieben, wie er ist. Und dann lese ich, dass Frauen, die versuchen, dem gesellschaftlichen, fettfeindlichen Schönheitsideal zu entsprechen und es damit immer weiter perpetuieren, Teil des Problems sind, und denke: Ich bin ein Arschloch und ein Loser und Teil des Problems, und es gibt so viel wichtigere Dinge, und sag mal, checkst du eigentlich irgendetwas, wie lange hast du jetzt gerade shapewear gegoogelt, statt zu schreiben, sag mal, geht’s noch, um dich herum steht die Welt in Flammen, und du machst dir Gedanken um die Dellen in deinem Arsch, aber, und dahin kehre ich immer wieder zurück, da kann ich die App zum Kalorientracken noch so oft löschen: ICH WILL VERDAMMT NOCH MAL EINFACH NICHT SO AUSSEHEN.
Und ich weiß nicht, ob das für irgendwen oder irgendwas relevant ist, aber tatsächlich hätte ich unter alles andere, was ich geschrieben habe, ohne Weiteres meinen Namen gesetzt, aber unter das hier nicht.
Als junges Mädchen legte ich mir einmal das Maßband um. Wie enttäuscht ich war, keine 90-60-90 zu sein. Nicht mal eine 90-70-90 oder 90-80-90. Ich war eine 90-90-90. Ich hielt die Luft an und zurrte das Maßband enger, bis zu einer 86. Und genauso quetsche ich mich auch heute oft noch in meine Jeans. Wenn ich die Hose ausziehe, habe ich eine Landschaft aus Jeansfaltenabdrücken auf dem wabbeligen Bauch. Sie erinnern an einen Linoldruck. Ich arbeite daran, sie interessant zu finden.
Im Verlauf der letzten Wochen habe ich euch alle im Internet gesucht, jede*n Einzelne*n von euch. Und mir ist aufgefallen, dass alle hier ziemlich normschön sind. Wir haben zum Beispiel keine stark mehrgewichtige Person in dieser Runde dabei. Wir sind, was Alter, Neigung, Interessen und Herkunft betrifft, relativ breit aufgestellt, doch es schreibt hier keine Person mit sichtbarer körperlicher Beeinträchtigung. Und dann schaue ich auf den deutschsprachigen Literaturbetrieb, und mir fällt ganz allgemein auf, wie schön Autor*innen hierzulande sind. Ist das Zufall oder pretty privilege?
Darüber muss ich jetzt mal nachdenken.
Ich hingegen komme langsam in eine Phase, in der sich jedes Eis und jeder Kuchen direkt in Bauchfett umwandelt. Ich finde mich schön, wie ich bin, doch ich spüre deutlich die soziale Erwartung, jedes Extragramm sofort wegzuhungern, während mir zugleich aus allen sozialen Medien diese Schlagworte und Aufforderungen entgegenschallen: Be yourself! Love yourself! Body Positivity! Und wenn ich dann noch diese supersexy Siebzigjährigen sehe, die im Kopfstand ihre Steuererklärungen machen, bin ich vollends verwirrt.
Ich denke darüber nach, wie Lust und Begehren mit Hunger und Essen zusammenhängen. In meinem Kopf eine Zeile aus einem Chantal-Akerman-Film. J’ai faim, j’ai froid. Ist die essende, die fressende und genießende Frau, die mehr will, als ihr zusteht, der Albtraum des Patriarchats?
Ja. Allerdings ändert sich das monströse Potenzial der »unersättlichen Frau« meiner Meinung nach mit dem Alter. Von jungen Frauen wird erwartet, dass sie hungrig sind, lebenshungrig, liebeshungrig. Immer hungrig. Je älter die Frauen werden, desto übler nimmt man ihnen ihren Hunger. Kriegst du den Hals noch immer nicht voll?, fragt das Patriarchat. Hast du nicht endlich genug? Kannst du dich bitte begnügen? Was denn noch?
ich bin nicht so lebenshungrig, wie ich es gern wäre (oder wie ich denke, dass ich es sein sollte). ich bin doch jung, warum nicht hungrig?
In Berlin, am Landwehrkanal, gibt es ein ziemlich gehyptes Café, das ich gern lächerlich finden und meiden würde, doch gibt es dort so ein Mandelcroissant. Es strotzt vor geiler Soße. Es trieft und quillt beim Reinbeißen, ist süß und herb, und wie alles richtig Gute schmeckt es auch ein wenig nach Tod – Mandeln enthalten Blausäure. Am liebsten besuche ich das Café mit einem langjährigen Freund. Meine Zuneigung für ihn hat sich über die Jahre gewandelt, doch sie ist noch immer glockenhell und weich und samtig. Wenn wir uns treffen, verschmelzen unsere Gehirne. Wir lachen zwei Stunden lang, dann trennen wir uns wieder. Und damit unseren Körpern nicht langweilig wird, wenn die Synapsen miteinander tanzen, schlecken und fressen und sabbern wir an diesen Mandelcroissants. Wie Bienen, die sich am Nektar laben.
Die Gemeinschaft der Asexuellen übrigens nennt sich Cake.
Denn sie sagen:
Was ist besser als Sex?
Kuchen!
Wenn ich manchmal swipe, in Phasen, in denen mir danach ist, auf Tinder, schreiben mir immer ältere Männer. In ihren Profilbildern steht so etwas wie Daddy, Your favourite Dom, Asian is my preference. Ich frage mich, ob das mehr über die Männer aussagt oder über mich. Ich schaue dann auf mein Profilbild. Blicke ich zu sehr nach unten, nicht genügend selbstsicher in die Kamera? Habe ich gelernt, so zu blicken? Was stimmt, ist: Wenn ich Lust auf Sex statt Kuchen habe, mag ich keinen Dirty Talk, ich mag überhaupt keine entzifferbaren Sätze, nur Geräusche. Was die Gefahr von Missverständnissen erhöht beim Sex mit Männern, die schon alles über mich zu wissen glauben.
Beißen und Schlingen in die Mitte hinein
aus gebrauchten Spielen aus vorgekauter Praxis
wo ein Geschlecht sitzt soll es gefunden werden
unter einem Schulterblatt sitzt nur der Mythos
Eine Freundin erzählte mir neulich ihre eindringlichste Fantasie: Sie wolle sich in eine Badewanne legen und bis zum Hals versinken in rohem, warmem Fleisch.