WILDES FLEISCH

Heute Nacht habe ich wieder von D. geträumt. Gelegentlich träume ich von ihm. Und wache auf und bin erfrischt, von Wärme durchströmt. D., der erste Mann, mit dem ich Sex hatte, D., der Vater meines abgetriebenen Kindes, das ich mir immer als Mädchen vorgestellt habe. Ein US-Amerikaner in weißen Sneakers und karierten Bermudashorts, für mich damals der Inbegriff alles US-Amerikanischen. Sein schräges, raues Lachen, das immer irgendwie verlegen klang. D., der Fulbright-Student, der gar nicht so schlecht Deutsch sprach und das Wort »zerkrumpelt« erfand. D., der bald wieder verschwand und in Kalifornien weiterlebte. Eine Familie gründete mit zwei Töchtern. D., eine entfernte Erinnerung an einen baumlangen, schwarzhaarigen irakischen Juden.

Und dann, vierzig Jahre später, trafen wir uns wieder, fast zufällig. Ausgerechnet in Hollywood. Unsere E-Mails fanden einander. Wir telefonierten, ich hörte sein verlegenes Lachen, das Gespräch war so vertraut, so easy, als hätten wir vierzig Jahre lang nicht aufgehört, uns einander mitzuteilen. Er kam mich besuchen, aus Sacramento nach Hollywood, hatte sich nicht verändert, nur sein Haar war weiß und seine schwarzen Augen waren matt geworden.

Wir hatten auch Sex. Er nahm Viagra, aber das war überflüssig, zu einer Penetration kam es nicht. Und doch fühlte es sich an wie damals, Anfang der Sechzigerjahre, mein erster Mann. Als wäre inzwischen keine Zeit vergangen. Als könnten sich unsere Körper noch genau aneinander erinnern. Bewegungen, die nur wir beide miteinander ausführten. Das war das, was mich am meisten überwältigte an unserer Begegnung: das Gedächtnis unserer Körper. Ich hätte ihm damals mein Leben gegeben. Glücklicherweise wollte D. es nicht, und nach meiner Rückkehr nach Europa verschwand er. Ein paar Telefonate mit »I love you«, »I love you«, »I love you«, und dann Schluss. Mein Leben lang habe ich keinem Mann und keiner Frau »I love you« gesagt, in keiner Sprache. Ich bringe es einfach nicht über die Lippen. Das Wort ist zu groß. Warum war es bei ihm anders? Weil auch er Jude war? Weil es ein unsichtbares Band zwischen uns gab, das über Jahrzehnte nicht gerissen war? Eine Vertrautheit, die ich auf diese Weise nie wieder gefunden habe.

Seither sind mir andere Männer begegnet, und einer blieb. Aber nur von D. träume ich. Und denke an ihn, jedes Mal wenn ich zum Sport in meine rosa New-Balance-Sneakers schlüpfe, die ich mir 2005 in Santa Monica gekauft habe. Mittlerweile lebt D. wohl nicht mehr. Seine E-Mail-Adresse ist abgeschaltet. In meinen Träumen treffe ich ihn wieder. Zuletzt standen wir einander nackt gegenüber, beide uralt und dürr, wie Gerippe, Gespenster. Warum sind wir so alt? Warum sind wir so dünn? Ich glaube doch gar nicht an ein Leben nach dem Tod.

Neulich hab ich mich verliebt. Ich bin nicht sicher, ob die Person es überhaupt bemerkt, den Schwebezustand wahrgenommen hat, in dem ich mich über Monate befand. Nach langen Schreibblockaden arbeitete ich plötzlich wie im Rausch, it was like fucking, verschob meinen Körper an diesen vertrauten Ort, den ich lange nicht zu fassen bekommen, der sich mir entzogen hatte. An einem Punkt hab ich ein Foto von mir gemacht: in den Spiegel fotografiert, im Nachthemd, der Busen quoll heraus, mein Gesicht vor albernem Glück um zwanzig Jahre verjüngt. Gerade hab ich es in meinem Handy gesucht und nicht gefunden. Es ist weg. Ich kann nicht glauben, dass ich es gelöscht habe.

Ich hatte Sex: auf einem aufblasbaren Pooltoy-Fuchs auf einer Furry Convention auf Ketamin; im Vorgarten einer random, nichts ahnenden kanadischen Familie auf einem Kanadier sitzend; auf den Knien vor einer Mommy Dom, die mir in den Mund pisst. I’ve seen things. Und noch immer verstehe ich mein Verlangen nicht. I do not know my age./Tell me how old I am[9] (Elizabeth Bishop). Sag mir, wie alt ich bin, Mountain! Nach Lacan befindet sich der Kern eines Subjekts im »Sinthom« – dem Gegenteil des Symptoms, da es auf nichts Weiteres verweist. Das Sinthom ist das Ende der Psychoanalyse. Es hält mich zusammen, und es ist vor allem: unergründlich. Hier höre ich auf, da fange ich an. Es ist wie die andere Seite des Glory Hole: Ich kann nur den Schwanz vor meinem Gesicht akzeptieren, nicht aber dahinterschauen. Die andere Seite des Lochs bleibt ein Rätsel.

Verlangen ist nicht dekadent. Verlangen ist nicht nur egoistisch. Verlangen ist magisch in einem ganz materiellen Sinne nach Trans-Historikerin Jules Gill-Peterson. Ein vereinzeltes Verlangen wird kollektives Verlangen wird politische Realität – ein magischer Realismus:

Once you realize that there are no limits on what we’re allowed to want, wanting is what we deserve to do. It is an active process without finality. What’s valuable about your life is your ability to desire beyond even your own wildest dreams. Otherwise life would be predestined and fossilized. (…) It’s not just that I deserve free access to top surgery on demand. It’s that everybody should be getting the titties or the flat chests that they want. That is a powerful articulation of desire that leads directly to concrete material politics. It comes from the subject position of my identity, but it moves outward. And it abounds.[10]

Das Verlangen ist exzentrisch – es verlässt meinen Körper. So entsteht auch Solidarität. Wo sich das Verlangen mehrerer kreuzt. Solidarität ist in diesem Sinne Ich-bezogen, da sie sich aus Verlangen speist, es ist egoistisch-kollektiv – deswegen ist es so wichtig, auch das eigene Verlangen artikulieren zu können, denn wann immer über etwas geschwiegen wird, bleibt es unsagbar, schafft es den Raum, in dem sich Trauma ungehindert ausbreiten kann. Wenn wir unser Verlangen verstehen und auch tatsächlich verstehen, dass wir verdienen, was wir verlangen, dann wird Verlangen Politik, ganz magisch-alchemistisch.

Hab mich neulich lange über das Wort Begehren unterhalten. Ich glaube, ich mag Verlangen lieber.

Verlangen hat etwas Mächtiges an sich – es ist zum Willen gewordenes Begehren.

verlangen ist hinlangen, zulangen, was machen, um zur lust zu gelangen.

Ich frage noch einmal: Gibt es ein Recht auf Sexualität?

vielleicht ist das wort BEGEHREN auch abgenutzt. die wortkurve zeigt, dass seine verwendung 1996 den höchsten wert erreicht hat, dann flachte sie ab. ich habe den begriff vor allem aus den ins deutsche übersetzten texten der französischen poststrukturalisten kennengelernt, wo das Begehren eine immense rolle spielte und fast einen intellektuellen anstrich bekam. jedenfalls fühlte es sich vom eigenen körper eher weit entfernt an. andererseits ist seine nähe zur GIER sexuell aufgeladen, führt hin zur BEGIERDE?

VERLANGEN hält vielleicht länger an, zumindest wäre das im wort selbst enthalten. ich mochte jedenfalls, wenn mein liebhaber mich als GIERIG bezeichnete, weil ich es war, und er mochte, dass ich es war.

Es ist kein schöner Gedanke, aber ich habe auch anhand des Schreibens hier mit euch realisiert, wie viel Macht ich anderen über mich gebe. Gerade wenn es um mein Begehren geht, das sich nie frei entfalten konnte, das immer schmerzhaft verkoppelt war mit meinen Prägungen und den daraus resultierenden Annahmen über Liebe, Beziehung und Sexualität im Allgemeinen. Ich kann mein Verlangen nicht unabhängig von den Wünschen und Bedürfnissen anderer denken. Ich beziehe mich endlos auf sie, achte auf jede Regung, richte meine eigene Lust und deren Erfüllung danach aus.

Ich misstraue meinem Begehren, denn ich weiß um seinen Ursprung.

Wo liegt denn der Ursprung deines Begehrens? Was ist das dunkle Geheimnis dahinter?

Ich wollte eigentlich noch mehr schreiben vorhin, wurde aber unterbrochen. Ich wollte auch etwas über Prägungen schreiben und wie sie mein Begehren bestimmen. Denn obwohl ich austherapiert bin, Ursachenforschung betrieben und das meiste davon – so kommt es mir zumindest vor – verstanden habe, fühle ich mich ihnen doch immer noch oft ausgeliefert oder habe das Gefühl, durch sie nicht frei in meinem Begehren zu sein.

Ich finde krass, dass du so direkt nach einem »dunklen Geheimnis« fragst. Vermutlich, weil dir dieser einzelne Satz da oben als Aussage etwas zu dick erschien? Es hat mich jedenfalls irritiert.

Oje! Ich wollte dich nicht irritieren. Er klang so bombastisch und nach Cliffhanger, wie er da stand, dieser Satz. So allein.

der ursprung des begehrens, dieser ausdruck erinnert mich an ängste, die aufkommen, wenn meine sexuelle energie von anderen als zu viel oder zu übertrieben interpretiert wird, und ich überlege, woher das kommt, dass ich nicht innehalten will, dass ich mich so vielen männern hingegeben habe, ohne groß zu überlegen. einmal habe ich gelesen, dass früher sexueller missbrauch dieses (von anderen als unmäßig bezeichnete) begehren auslöst, kann mich aber an nichts konkretes erinnern, außer an übergriffe von nachbarsjungen. trotzdem habe ich das gefühl, dass solche erklärungen von patriarchal geprägten theorien herrühren, sodass ich ihnen einerseits nicht glaube, ihren urteilen aber andererseits unterworfen bleibe.

Ich mag es, dominiert zu werden. Man soll mich überwältigen, festbinden, das Oberteil runterreißen und meine Brüste entblößen, mir den Schwanz in den Mund stecken und so lange auf meine Klitoris klopfen, bis ich bebe. Man soll mich nehmen und mit mir machen, was man will. Ja, so will ich das, und ja, fast so könnte auch eine Vergewaltigung aussehen. Mein Leben lang habe ich mich für diesen Kink (ist das überhaupt einer?) geschämt.

Als Kind und Jugendliche wurde ich regelmäßig von meinen Eltern geschlagen. Diese omnipräsente Gewalt, die immer im Raum anwesende Wut, diese unerträglich beschämende Peinigung durch meine Eltern, wenn meine Mutter mich geschlagen hat oder mein Vater oder einer dem anderen dabei zugesehen hat, wie ich geschlagen wurde.

Heute denke ich, dass ich wegen all der Gewalt immer wieder an die Intensität anzuknüpfen versuche, die ich einmal erlebt habe. Dass ich unbewusst diese Register ziehen muss, um überhaupt etwas zu spüren?

Bitte versteht mich nicht falsch, ich sage damit nicht, dass jeder Kink, oder BDSM, einen traumatischen Ursprung haben muss. Ich versuche nur endlich zu verstehen, weshalb das bei mir so ist, und suche in meiner Vergangenheit. Mittlerweile habe ich aber auch die Möglichkeit, diese Fantasien zu kommunizieren und sie gut zu finden, spätestens seit ich realisiert habe, dass es einen Unterschied gibt zwischen dieser maximal devoten Position und einem sexuellen Übergriff: Ersteres macht man freiwillig.

Ich glaube, der Ursprung meines Begehrens liegt im Tod. Im Wissen darum, dass auch ich einmal sterben muss.