GRIFFE GIFTE
Als Kind stöberte ich gern im OTTO-Katalog meiner Mutter. Irgendwann interessierte ich mich für die Seiten, auf denen Sexspielzeug und Kondome angeboten wurden. Ich las mir alle Produktinformationen genau durch, wägte ab, welcher der Vibratoren mir optisch am besten gefiel, und fragte mich, was genau es mit diesen Noppen auf sich hatte. Die Vorstellung, einen davon tatsächlich zu bestellen und nach Hause geliefert zu bekommen, erschien mir fast unerträglich aufregend. Einmal blieb ich an einem besonderen Angebot hängen. Es waren Kondome, die in einer schön geschnitzten Holzschatulle mit zierlichen Perlmutteinlassungen geliefert wurden. Diese konnte, einem Schmuckkästchen gleich, ganz unverfänglich und diskret auf dem Nachttisch stehen (so war wohl der Gedanke). Ich stutzte, denn eine solche Schatulle stand auch auf dem Frisiertisch meiner Oma; sie bewahrte darin ihre Broschen auf. Als ich das nächste Mal bei meinen Großeltern zu Besuch war, lief ich sofort zum Frisiertisch und nahm die Schatulle in die Hand. Es war wirklich exakt jene aus dem Katalog. Die Vorstellung, dass sie einmal voll gewesen war, ganze ZWANZIG Kondome darin gelegen hatten, ließ mich erschaudern. In der Theorie wusste ich, dass zwischen meinen Großeltern vor langer Zeit etwas Sexuelles passiert sein musste, weil sie Eltern waren. Dass aber mindestens zwanzig Kondome in diesem Zusammenhang draufgegangen waren, sprengte meine Imagination.
Als meine Oma die Schatulle ein, zwei Jahre später aussortierte, nahm ich sie mit. Meine ersten (und einzigen) Gedichte, auf kleine Fetzen Papier notiert und winzig zusammengefaltet, lagern bis heute darin.
Ich weiß noch, als es morgens in der Schule überall hieß: »Andi Zimmermann hat ein KONDOM dabei«, und ich dachte, das wäre eine Tablette.
Ist doch auch ganz klar: Die Männer schlucken eine Tablette, damit die Frauen nicht schwanger werden!
Erst mit Anfang zwanzig habe ich kapiert, wofür Gleitgel da ist. Bis dahin habe ich echt gedacht, man schmiert sich das auf die Haut, damit man … besser aneinander auf- und abgleiten kann? Meine Mitbewohnerin hatte eine Flasche Gleitgel rumstehen, und als wir irgendwann Besuch von ein paar Leuten hatten, habe ich ganz verträumt nach der Flasche gegriffen, etwas Gel auf den Unterarm gespritzt und meine Hand darauf hin- und hergleiten lassen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass das Gespräch verstummt war und alle mich anstarrten. Später hat mich meine Mitbewohnerin beiseitegenommen: Du weißt schon, wofür das ist, oder?
Let’s talk about lube.
Kommentar unter einem Artikel über eine Schauspielerin, die früh in die Wechseljahre gekommen ist und seit einigen Jahren Werbung für Gleitmittel macht: Die meisten Leute seien ja chronisch dehydriert. Wenn alle mehr Wasser trinken würden, bräuchten sie auch kein Gleitgel.
Als ich mit Ende 50 zum ersten Mal nach einer langen Pause Sex hatte, litt ich gleich an einer schmerzhaften Vaginalentzündung, die eine Weile verhinderte, das zu bekommen, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Eine Bestrafung? Zu alt für so was? Erst dann begriff ich, wozu ein Gleitmittel gut ist. Und erst heute kann ich es mir in der Apotheke kaufen, ohne mich zu schämen. Ich erinnere mich an eine Szene in dem »Skandalfilm« Der letzte Tango in Paris aus den 1970er-Jahren, in der Marlon Brando, fast fünfzig, die neunzehnjährige Maria Schneider[11] von hinten versucht zu penetrieren und ihr davor Butter an den Anus schmiert. Lange Zeit später kommt heraus, dass die junge Schauspielerin nicht eingeweiht war, es sich also um eine Vergewaltigung vor der Kamera gehandelt hatte. Bertolucci, der Regisseur, bereute es vierzig Jahre danach zwar nicht (immerhin hatte gerade diese Szene seinen Film berühmt gemacht), aber er hatte ein schlechtes Gewissen. Sagte er. Ich stelle sie mir vor, die beiden Machos beim Frühstück, wie sie beim Anblick eines Baguettes den genialen Einfall mit der Butter haben. Sie lachen. Bertolucci wollte Maria Schneiders Reaktion lebensecht »als Mädchen, nicht als Schauspielerin« einfangen.
Ich fand diese Szene damals aufregend gewagt. Wie so manche Macho-Fotos und -Filme der 70er-Jahre, die ich erst durch die Frauenbewegung als sexistisch und gewaltsam erkannte. Zeit ihres viel zu kurzen Lebens wurde Schneider auf Filme gebucht, in denen sie in »freizügigen« Sexszenen spielen musste.
Die Butter-Szene hat sich mir auch eingebrannt. Überhaupt Bilder. Ich habe eine Zeit lang viel Porno konsumiert, und da gibt es einiges, was ich nicht ungesehen machen kann. Die Bilder werden noch lange in meinem Kopf herumgeistern, fürchte ich – und auf keine gute Art.
Die Butter – in Österreich der Butter – hat viele gute Eigenschaften, die sie/ihn zu einem äußerst beliebten Lebensmittel machen. Sie/er hat einen reichen und cremigen Geschmack, der vielen Gerichten und Backwaren eine köstliche Note verleiht. Ihr/sein Aroma ist einzigartig und kann nur schwer durch andere Fette oder Öle ersetzt werden. Butter enthält fettlösliche Vitamine wie Vitamin A, D, E und K, die für den Körper wichtig sind. Sie/er hat zudem eine weiche und geschmeidige Textur, die sich gut zum Streichen auf Brot oder zum Schmelzen in heißen Gerichten eignet, als Ersatz für Gleitgel sowie als Schmiermittel zur Vergewaltigung (junger) Frauen. Gewonnen wird Butter aus der Milch stillender Kühe, deren Nachwuchs wiederum mit Milchsubstituten ernährt und/oder bereits im Kindesalter geschlachtet wird.
Wikipedia schreibt: Für ihre Rolle [in »Der letzte Tango in Paris«] bekam sie [Maria Schneider] 2.500 Dollar, einen Bruchteil der Gage von Marlon Brando, der 250.000 Dollar zuzüglich 10 Prozent Gewinnbeteiligung erhielt.
Pay Gap
Orgasm Gap
Masturbation Gap
Gap Gap Gap Gap Gap
heute ist der 3. juni. dieses datum wird mir im gedächtnis bleiben. zwischendurch habe ich es immer wieder mal vergessen und mich darüber gefreut. am 3. juni musste ich nicht arbeiten, fuhr mit dem bus an den atlantik, wollte einmal so weit wie möglich den strand entlangwandern. hatte vorsichtsmaßnahmen getroffen, die jeans wechselte ich erst in shorts, als ich mich unbeobachtet glaubte. es war ein wochentag; je weiter ich mich vom fischerdorf entfernte, desto weniger menschen waren am strand. dann war ich allein und wanderte und wanderte in die weite, ich wusste, es ging noch kilometerlang dahin. plötzlich erschien bei den dünen ein mann, er hatte wahrscheinlich gewartet und mich kommen sehen, gelauert hatte er, wie ich gleich erfahren sollte, denn er packte mich, fuhr mir an die kehle, warf mich zu boden. ich schrie, versuchte ihm zuzureden, erst englisch, das er nicht verstand, dann in brüchigem portugiesisch, ich stotterte, weinte, er drückte mich in den sand, mit reden versuchte ich ihn abzuhalten, meine umhängetasche war bei seinem angriff fortgeschleudert worden und lag halb im wasser, ich versuchte ihm klarzumachen, dass sich darin mein pass befand, den durfte ich nicht verlieren, ich kämpfte um das dokument, weil ich meinen körper nicht verteidigen konnte. er war stark, stärker als ich, er drückte wieder meinen hals zu, versuchte mir die shorts runterzuziehen, was ihm nicht gelang, wir kämpften, seinen irren blick werde ich nie vergessen, schließlich war ich so weit bezwungen, dass ich seinen anweisungen folgte, ihn zu masturbieren, immerhin nur das, sein samen bespritzte den stoff meiner shorts, dann ließ er los und rannte wieder in richtung dünen. ich stolperte zurück zum dorf, heulend, vor allem bestrebt, so zu tun, als wäre nichts passiert, beschämt, keiner sollte merken, wie gedemütigt ich war. zu hause angekommen, duschte ich, setzte mich auf die dachterrasse, aber die stimmen der stadt, die autos, die hupen, die lautsprecherdurchsagen waren zu laut, ich stieg wieder hinunter, traf auf eine mitbewohnerin und sagte ihr so nebenbei, i was just raped. what? ja. spielte es herunter, als würde das geschehene nicht zu mir gehören, als wäre es nicht meinem körper widerfahren, ein abstrakter vorgang. und so blieb es auch lange zeit. ich hatte den zugang zu meinem körper verloren. zu meiner sexualität natürlich auch. umso mehr. ich trieb durch die tage, erledigte meine arbeit, ein freund versuchte ein phantombild des täters anzufertigen, ein anderer riet mir, nicht zur polizei zu gehen. die stadt ist konservativ, die schuld fällt auf dich zurück. eine frau allein am strand. das macht man nicht. In kurzen hosen. eine einladung. du bist blond. willst du, dass alle darüber reden? jeder kennt hier jeden. also unternahm ich nichts. blieb starr für einige zeit. beschloss trotzdem, das land nicht zu verlassen, meine stelle nicht aufzugeben. den zugang zum meer hatte ich verloren. ich konnte nur mehr in begleitung hin. auf dem weg zum treffpunkt trug ich meine aktentasche, um nicht den eindruck zu erwecken, ich würde mich am strand gleich entkleiden. damit mir niemand folgte. der 3. juni nahm mir die sicherheit und den übermut.
danke, dass du das schreibst. es tut mir so leid und so weh, das zu lesen (und ich habe mitangst und erinnerungen an situationen eines »beinahe« eines »fast«/»fasst« flackern auf) ist
was ist die welt (ein mittelalterliches wort, »werelde«, das die bewohner*innen des bekannten
planeten meinte) so voll mit diesen geschichtenereignissengriffen
eine welt voller griffe
(und warum erst jetzt und wo waren sie »früher«)
GRIFFE GIFTE
und und
erst gestern sagte jemand zu mir: eine bekannte autorin habe ihm erzählt früher habe sie sich über die pfiffe der bauarbeiter ihr hinterher geärgert und nun
ärgere sie sich, dass niemand mehr pfeife
ich kann das nicht
nicht nicht verstehen weder noch kann ich das
es tut
mir so leid von dem verlorenen meer von der verlorenen sicherheit der verlorenen unbefangenheit dem verlorenen einfachlebenbewegendürfen zu lesen und dabei
(immer wieder) dieses nichtdenken durch andere, das nichtwehren, dieses victim blaming und die implizite
ver-missung (entmündigung) durch allpräsente
hypersexualisierte oberflächen
zu denen man dann also ALSO selbst zählt
(hallo danke aber auch)
gestern erzählte mir eine junge frau von einer vergewaltigung als sie
17 war und dann noch länger weiter mit sexuellen übergriffen durch dieselbe-person aus ihrem nahfeld
(griffe-feld, gift-feld) und ihre mutter sah es duldete es
das mädchen hingegen wurde im STICH gelassen
(ah, deutsche redewendung: wie WAHR die hier ist, wie übel
bildlich): SIE WURDE IM STICH GELASSEN
auch von den anderen frauen den nah-(gift)frauen und
ich
frage
(mich) wie
wir hier/wie sprechen (können sollen): über sexualität und alter wenn
doch das eine wie das andere, die weibliche körperlichkeit ebenso wie das thema »das alter« zum einen einheitsfiktionen sind (bzw. mächtige FORDERuNgen) und dabei
so ver-brannt, -strahlt, von vergifteter rede
erfüllt
Ich habe ein Theaterstück geschrieben. Darin kommt eine Vergewaltigungsszene vor, die aber nur angedeutet wird. Als ich das Stück Monate später auf der Generalprobe sah, überkam mich plötzlich ein Schauer, eine Gänsehaut, ich bin erfroren und zerschmolzen zugleich, habe gezittert und keine Luft mehr bekommen. Denn erst als ich die Schauspieler*innen diese Szene spielen sah, fiel mir plötzlich die Vergewaltigung ein, die ich selbst mit 15 erlebt hatte. 17 Jahre lang war diese Erinnerung in den Untiefen meines Bewusstseins verschüttet, und ich musste es nicht nur erst aufschreiben, um mich daran zu erinnern, sondern auch noch inszeniert sehen, bis es dieses Trauma endlich in mein Bewusstsein geschafft hat.
Es ist Sommer. Wir sind kiffende Teenager und sitzen im Kreis im Wald. Neben uns steht eine junge, aber kraftlose Tanne, die wir in unseren Freundeskreis aufnehmen. Wir lachen uns schlapp, als die Jungs mit den Ästen der kleinen Tanne handshaken, als wäre sie wirklich eine gute Freundin von uns. Die Jungs, das sind fünf Teenager, zwei von ihnen gehen auf dieselbe Schule wie ich, drei von ihnen kenne ich gar nicht, sie wohnen in einem der Hochhäuser, einer von ihnen verkauft Drogen in der Tiefgarage. Wir sitzen also im Wald und rauchen eine Bong nach der anderen. Auch Biermischgetränke gehen reihum. Irgendwann dreht sich alles in mir, also lege ich mich auf den Rücken und schaue durch die im Sommerwind rauschenden Baumkronen in den unverschämt schönen blauen Himmel. Ich habe alles vergessen in dem Moment. Und was nach diesem Moment geschah, hatte ich bis einen Tag vor der Uraufführung meines Stücks vergessen. Es waren fünf Jungs, die mich nicht alle missbraucht haben. Aber ein oder zwei waren es bestimmt. Ich wusste plötzlich wieder, wie ich die Tanne um Hilfe bat und wie sie sich im lauen Wind hin- und herbewegte, als würde sie den Kopf schütteln. Ich wusste wieder um diesen unendlich schönen blauen Himmel, keine Wolke, und keine Unterhose trug ich mehr unter dem zitronengelben Rock, als ich endlich nach Hause kam.
Ich hatte Angst vor der Premiere, weil ich fürchtete, dass dann alle wissen würden, was mir passiert ist. Ich habe mich so geschämt. Das war nicht lange, bevor die MeToo-Welle endlich durch unsere Realität schwappte.
Im ersten halben Jahr unserer Beziehung konnte mein Ex-Freund nicht kommen. Manchmal mussten wir den Sex unterbrechen. Einmal dissoziierte er, und ich musste an ihm rütteln, bis er wieder »da« war. Ich kniff seine Oberschenkel für eine Zeit, die mir ewig vorkam, bis er mich ansah und fragte, was ich da tue. Das Kneifen hatte ich einmal in einem Film gesehen; es helfe, um wieder in der Gegenwart, im Körper anzukommen. Ich lag manchmal neben ihm in der Nacht, wenn ich wusste, dass er wach war. Ich spürte, dass ich einen Doppelkörper hatte für meinen Freund. Dass meine Haut eine Falltür war. Dass meine Hände jederzeit zu den Händen seines Vergewaltigers werden konnten.
Wie von der Gewalt erzählen? Wie darüber schreiben? In Schlachtensee von Helene Hegemann werden in einer Story die Dinge aufgezählt, die an einem Abend gesagt und getan wurden, und darunter fällt dann auch, dass sich die Protagonistin und eine andere Figur ihre Vergewaltigung erzählen, ganz lapidar und nebenbei. Es wird nicht weiter darauf eingegangen, ganz nach dem Motto, eh klar, dass wir das alle erlebt haben, no big deal. Mich hat das aus dem Buch rauskatapultiert. Einigermaßen überrascht habe ich festgestellt, wie sehr mich dieser Umgang mit dem Thema, diese Art, über Vergewaltigung zu schreiben, ärgert. Über die Maßen ärgert? Vielleicht so sehr ärgert, dass es schon wieder eine Qualität des Textes ist? Aber ich habe nicht weitergelesen. Ich hatte das Gefühl, ich bin ein empfindsamer Softie, wenn es mir nicht gelingt, dieselbe Coolness wie die Hegemann’schen Protagonistinnen an den Tag zu legen.
die coolness, vergewaltigung wie nebenbei zu erwähnen, ist angeleitet von einem körperselbstverständnis, das übersetzt in etwa bedeutet: wenn ich schon ein sexuelles wesen bin, bin ich eben als solches erkennbar, und das ist die dunkle seite meiner sichtbarkeit als frau, das eine ist ohne das andere nicht zu haben, es ist alles im spektrum. doch wer hat interesse daran, dass sexuelle gewalt so cool abgetan wird? die täter natürlich, die übergreifer, sie werden damit entschuldigt. andererseits kann das gegenseitige erzählen eine art bewusstwerdung erzielen, je nachdem, wie die emotionalen reaktionen darauf ausfallen.
ich denke nur daran, dass ich meine vergewaltigung nicht gerade oft erzähle, männern eigentlich gar nicht. einer langjährigen freundin erzähle ich aus anlass der verhaftung von dominique strauss-kahn in new york davon. sie fragt mich, wie es denn sein kann, dass die vergewaltigte frau sich nicht sofort bei der polizei gemeldet hat, sondern ihre schicht im hotel noch fertig machte. ich darauf: na ja, weil man nicht wahrhaben will, was passiert ist, weil man sich selbst darüber hinwegtäuschen will, die scham, die demütigung, die troubles, die man jetzt verursachen muss, indem man zugibt, so was sei einem geschehen. ich verweise darauf, dass ich das selbst so erlebt habe. sie sitzt vor mir mit geöffnetem mund, sagt: und das erzählst du mir jetzt beiläufig, als wäre es das normalste der welt?
eine andere freundin reagiert darauf: aha, da gibt es anscheinend eine reihe von erfahrungen, die jede frau im laufe ihres lebens macht: der erste sex, die erste vergewaltigung, das erste kind, die erste scheidung etc. stationen weiblicher existenzen.
cool ist daran nichts, sondern es nagt, auch wenn darauf viele positive sexuelle erfahrungen folgen. eine derartige demonstration von macht einmal erlebt zu haben, prägt. trotzdem erzähle ich die sache inzwischen anders, indem ich zuerst die vergewaltigung erwähne, die schädigung, danach aber die heilung durch guten sex und liebevollen körperlichen umgang als ausgleich hervorhebe. Doch wie erzählt man es richtig?
als wäre es das Normalste der Welt. Das ist es: das Normalste der Welt. Es gehört zu einem Frauenleben wie Abtreibung, Schwangerschaft, sexuelle Anzüglichkeiten, »zufällige« Berührungen, abfällige Bemerkungen. Angst. Scham. Auch ich habe wie beiläufig darüber gesprochen, sogar öffentlich, im Fernsehen, in den 1970er-Jahren. Der Polizist, in der Talkshow mir gegenüber, sagte mit hochrotem Gesicht, es gebe nicht genügend vergewaltigungsbereite Männer für all die vielen vergewaltigungswilligen Frauen. Die Telefonleitungen liefen heiß. Er erhielt Auftrittsverbot von seinem Dienstgeber. Das immerhin. Ich redete mir ein, denke es immer noch, dass es am Ende keine »richtige« Vergewaltigung war. Der Täter hatte das, was er wollte, nicht geschafft. Mein Tampon hinderte ihn am Eindringen. Gewalt war es trotzdem, auch wenn ich das damals nicht ganz so wahrnahm. Er hat mir auch eine Ohrfeige gegeben und das Fenster geschlossen, als ich schrie. Danach bot er mir eine Tasse Tee und seine Hand zum Abschied an. Wie nach einem Treffen, das etwas aus dem Ruder gelaufen war und für das er sich jetzt quasi entschuldigte. Nichts für ungut. Ich war dumpf, wie anästhesiert, bewegte mich wie von fremder Hand vorangestoßen dorthin, wo meine Mutter sich aufhielt in dieser fremden Stadt. Darüber gesprochen habe ich erst viel später. Und natürlich nie mit ihr. Zuerst habe ich verdrängt, »vergessen«, so sehr, dass der Vorfall vollkommen aus meinem Gedächtnis gelöscht war. Zehn Jahre lang. Erst andere Feministinnen haben mir geholfen, mich wieder zu erinnern.
Inwiefern könnte es produktiv sein, weibliche Rache zu imaginieren? Könnte ein Text, in dem ich zu meinen Vergewaltigern zurückkehre, sie quäle und peinige, ermächtigend sein und mich darauf vorbereiten, mich beim nächsten Mal zu wehren? Könnte er meine Kinder schützen?
rape – revenge – repeat
Bei einer der ersten großen feministischen Konferenzen in den Siebzigern in Frankfurt am Main wurde eine Resolution zur Vergewaltigung verabschiedet. Wenn Polizei und Justiz nicht bereit seien, die Täter vor Gericht zu bringen und zu verurteilen, würden wir die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen, hieß es. Ich war eine der wenigen, die dagegen stimmten, ich war gegen Selbstjustiz und für das Gewaltmonopol des Staates. Heute sehe ich das anders.
über rache nachdenken passiert mir in wellen, es überkommt mich einfach.
es gibt noch andere wellen neben der RACHEwelle: die GENUGTUUNGswelle, die ICHVERGEBDIRwelle, die GNADEnwelle.
einmal habe ich versucht mich zu rächen und wäre beinahe gestorben.
seitdem muss ich lernen, damit zu leben: wie ich war, als ich zum racheakt ansetzte. alles, was ich nie sein wollte. plötzlich war ich schuldig.
ich habe noch nie rache genommen, ohne mir dabei selbst zu schaden.
geht das überhaupt?
wie geht rache richtig?
ich bin eine frau und denke darüber nach, rache an den frauen zu nehmen, die mich physisch oder psychisch missbraucht haben.
in meinen träumen leiden sie dann genau wie ich.
heute träume ich nur noch davon. einen weiteren racheversuch würde ich nicht packen, nicht wollen.
ich denke immer wieder an diese zeilen aus dem gedicht »My Uncle’s Killer« von J. Estanislao Lopez:
Can I tell you / that, sometimes, I utter the word[12] justice and mean revenge? // On my best nights, I mean mercy, but my best / is my rarest form.