UNBERÜHRT II

Ich bin mehr oder weniger unberührt aufgewachsen. Es gab keine Umarmungen, keine Körper, an die man sich hätte schmiegen können, keine Hände, die einen hielten, einen liebkosten, einem Schutz boten.

Körper waren dazu da, um eine gute Figur zu machen in der Welt, um teure Anzüge und Kostüme zu tragen, Sport zu treiben. Körper waren nicht dazu da, um gefühlt zu werden.

Als meine Halbschwester, einige Jahre älter als ich und schon in der Ausbildung zur Krankengymnastin, Massagegriffe an mir ausprobieren wollte, bin ich erstarrt vor Schreck. Lag auf dem Boden mit ihren Händen auf meinen verkrampften Schultern, die sich partout nicht lockern lassen wollten.

Hatte ich Angst, dass körperliche Nähe mich aus meiner Rüstung heraus- und in die Verletzlichkeit hineinjagen würde?

Ahnte ich die schmerzhafte Gefahr der Hingabe?

Nichts in mir wollte fließen. Ich ging eckig, ich tanzte eckig. Manchmal liebkoste ich Grashalme. Hunde, die ich hatte, wurden häufiger gezüchtigt als gestreichelt

Der erste Mann, der gleich ein Ehemann wurde, war so unkörperlich wie ich. In kalter, emotionsloser Umgebung aufgewachsen. Erzogen von einem Vater, der im Krieg gewesen und vertrieben worden war – und nun nicht als Landwirt und Gutsbesitzer lebte, sondern als Vertreter für scheußlich bestickte Kissenbezüge durch die junge Republik reiste.

Ein versteinerter Mann.

Ein hölzerner Sohn.

Und ich.

Die eigentlich nie wollte, wenn er wollte. Frigide sei ich, erklärte mir schließlich der enervierte Mann. Ich nahm das hin. Ahnte nicht, dass ich ihn schlicht nicht begehrte. Litt still an unbestimmter Sehnsucht.

Die Lust kam später. Nicht in der ersten Ehe, sondern auf Nebenwegen. Mit Nebenmännern. Etwa mit dem hübschen Maler, der unsere Wohnung weißelte. Vermutlich hatte er mit seinem Kumpel gewettet, ob er mich »rumkriegen« würde, und da ich ihn »haben« wollte, fügte sich alles bestens. Es begann ein Versteckspiel, die ersten Lügen wurden gestammelt, aber es begann auch die erste Lust. Noch nicht dem Begehren ganz hingegeben. Noch kontrolliert. Das Heimliche spannender als das Sinnliche.

Der Sex kam vor der Sinnlichkeit. Vor der Erotik. Vor der Lust auf Augen, Hände, Zungen, Hüften, Beine. Vor der Lust auf Haut. Welche Offenbarung, als alles zusammentraf. Sexualität und Erotik, Lust, Gier und Gefühl.

Einer der Männer in meinem Leben hat oft Saxophon gespielt, bevor wir ins Bett gingen. Sehnsüchtige, erotisierende Melodien. Die kaum bezähmbare Lust davor.

Ach, Erinnerungen, fliehende Gestalten.

Und heute?

Gehe ich jetzt den Weg zurück? Wird Sinnlichkeit wichtiger als Sex? Und wie lebe ich sie als Alte? Wenn ich nicht im Meer schwimme.

Masturbieren ist gut gegen Rückenschmerzen.

»Sex«, fragt eine Freundin, Mitte 60, »wirklich, so mit allem? Muss ich nicht mehr haben.«

»Einen alten Kerl im Bett?«, fragt eine 80-Jährige ein bisschen angewidert. »Und einen jungen will ich auch nicht,« fügt sie resigniert hinzu, »dem will ich doch meine Knitterhaut nicht zeigen.«

Eine 70-Jährige findet seit Jahren ihre Füße so alt und hässlich, dass sie nur mit Strümpfen mit Männern ins Bett geht.

»I miss sex«, sagt eine fast 80-Jährige aus Ohio und streichelt sich wenig später die Arme. »Das brauche ich so.«

Was will sie wirklich? Sex oder Erotik, Oralsex oder Nähe? Träumen alte Frauen eher von Händen, Haut und Lippen als vom erigierten Penis? Wollen sie Orgasmen, ohne das männliche Glied in sich zu haben – in der doch oft schon trockenen Vagina?

Und: Riecht man noch gut im Alter?

Und dann höre ich von der 89-Jährigen, die – kaum verwitwet – schon beim nächsten Mann im Bett liegt. Was machen die beiden? Haben sie Sex oder suchen sie Nähe?

Keiner wagt zu fragen.

Weil sie alt sind.

Weil es (immer noch) peinlich ist, sich alten Sex vorzustellen.

Wie von der Gewalt erzählen? Diese Frage geht mir nicht aus dem Kopf. Wie darüber schreiben? Ich finde den allgemeinen Sexzwang gewaltsam. Repressiv. Dazu habe ich nie gepasst. Es gab immer andere Dinge, die mich mehr interessierten. Mathematik zum Beispiel. Lesen zum Beispiel. Und Berührung. Genau: Berührung durch ein anderes lebendiges Wesen. Den Hund streicheln. Mit dem ersten Freund stundenlang im Bett liegen und Radio hören. Einfach nur fühlen: Da ist jemand. Da atmet jemand. Da riecht jemand. Da gibt mir jemand eine Grenze, die nachgibt. Und ich gebe sie ihm.

Nun bin ich älter. Ich lebe seit Jahren ohne Sex. Und? Ja, das erzählt man niemandem, denn in unserer Gesellschaft haben Menschen einfach sexbegierig zu sein. Alte Frauen vielleicht weniger, aber »darüber« zu reden haben sie ohnehin nicht. Was mir fehlt, ist weder ein Penis noch spezifische andere Körperteile innen, außen, sonst wo. Mir fehlen Nähe, Vertrauen, Berührung. Streicheleinheiten, genau.

Die können sexuell werden, müssen es aber nicht.

DOCH: Wie wird von der Gewalt der Berührungslosigkeit in unserer Gesellschaft erzählt? Sie ist, als etwas, das NICHT stattfindet, nicht leicht zu fassen. Nicht leicht zu sehen.

Doch exakt das, was wir, als Gesellschaft, unseren alten und kranken Menschen antun.

Meine Mutter, 94 Jahre, leicht dement, lebt in einem Altersheim. Einzeln sitzen dort die Menschen in ihren Zimmerkästchen. Sie werden funktional berührt: werden gewaschen, abgetupft (Berührung durch Schwamm), gefüttert (Berührung durch Löffel), gehievt (unter den Armen gefasst, bewegt). Letzteres scheint noch die wirklichste all dieser »Berührungen«; alles andere erfolgt durch Handschuhe oder Instrumente.

Hier geht es nicht um Sexualität. Hier geht es um Einsamkeit durch Entkörperlichung.

Sie wird Menschen aller Geschlechter in diesem Alter/»Stadium« gleichermaßen angetan. Wir scheinen als Gesellschaft eine derartige Angst vor dem Alter zu haben, dass wir nicht nur Sexualität absprechen (Jahre bis Jahrzehnte zuvor; auch Alte-Männer-Sex ist ja nicht gerade positiv konnotiert), sondern letzten Endes den gesamten Körper. Es sollte ein Recht auf Berührung geben.

Und Übungen der Berührbarkeit.

Denn Berührungen zuzulassen, ist alles andere als selbstverständlich.

Und wenn ich lese: »Dann erzählten wir uns von unseren Vergewaltigungen«, lese ich Haltung und Sprache der Berührungslosigkeit.

When burn-out is as common in adults as chicken-pocks in children, and governments are allowed to forbid other governments to look after their sick and elderly, we crave nothing more than care. If ever you were not too tired to stay awake a bit, you can easily give yourself an orgasm. But not a back rub.[17]

Eva von Redecker, Care Slut Pride

Mir fehlt Berührung. Ich werde selten berührt. Das fängt schon bei Umarmungen an. Umarmt werde ich vielleicht ein- bis zweimal die Woche, von Freund*innen, und es sind Begrüßungsumarmungen, kein Fallenlassenkönnen. Zwischendurch gibt es Wochen, in denen überhaupt keine Berührung stattfindet, nicht mal ein Händeschütteln. Ich lebe allein, ich bin allein, und ich treffe niemanden für One-Night-Stands. Ich glaube, seit über zehn Jahren geht das jetzt so. In den letzten Jahren ist es einsamer geworden. Ich lese die Forschungsberichte und Studien zu fehlender Berührung unter Menschen und wie sie uns krank machen kann, diese Kontakt- und Berührungsarmut.

In meinen Zwanzigern wurde ich über Jahre kaum berührt. Ich erinnere mich an Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, weil es mir so sehr gefehlt hat, jemanden im Arm zu halten. Eine Hand auf meiner Wange, in meinen Haaren, auf meiner Schulter. Ein Streichen über den Rücken. Ich war so hungrig danach, jemandem nah zu sein. Sex fehlte mir komischerweise kaum, und hatte ich ihn, was selten war, dann machte er die Sehnsucht nur größer.

Ich hab so oft geweint nach dem Masturbieren.

Ich denke über das Sterben nach, obwohl ich zu jung bin. Mein Körper ist in einem ständigen Zustand von Erschöpfung, all of this exhaustion. Ich frage mich, welcher Tod es ist, von dem wir sprechen. Der des Körpers. Der des Geistes. Der des Sexes. Im Sterben gibt es auch die Möglichkeit des Wiederentdeckens. Nicht-Begehren begehren ist ein Zustand, den ich spät lieben gelernt habe (nicht so spät, aber später). Sexuelle Phasen haben sich schon immer mit anderen abgewechselt. In den Phasen, in denen ich nicht begehre, den meisten Phasen also, diesen ace, asexuellen, baby baby Phasen, fühle ich mich am meisten wie ich selbst. Ich komme gerne, aber ich bleibe lieber. My non-male body ist aber ja immer durch das Begehrtsein und das Begehren definiert. Zum Glück versteht mein Partner, dass ich keinen Sex haben will, vor allem, wenn ich seinen Körper, ihren Körper, unsere Körper bereits kenne. Manchmal also begegne ich neuen Menschen, und dann begehre ich schon, aber was ich will, ist eher, dass wir uns gegenseitig intellektuell anmachen, ein fucking of neurons in the brain, ich bin nicht so sehr an dem Austausch von Körperflüssigkeiten interessiert. Trotzdem habe ich in sexuellen Phasen dann gerne Sex, nur hält die Anziehung drei bis sechs Monate, dann langweilt mich sein, ihr, their body wieder. Diesen Zustand der Anziehung zu überwinden – bzw. nicht den Zustand der Anziehung, sondern den Zustand, Anziehung empfinden zu müssen –, finde ich ebenso erstrebenswert wie harten, dreckigen Sex in jedem Alter.

Begehren und begehrt werden ist sowieso anders, wenn der Körper nicht weiß ist. Ich wünschte, diese Erwartungshaltung würde sterben, besonders devot oder aggressiv zu sein, je nach zugeschriebenem Background, und dass sich einzufügen in eine weibliche Empowerment-Strategie nicht immer hieße, besonders offen über Sexualität zu sprechen, um die eigene Aufklärung zu beweisen. Ich bleibe einfach lieber als zu kommen. Sie sagen, ich hatte vielleicht noch keinen echten Orgasmus. Das stimmt nicht, ich hatte schon viele, mehrfache, wunderbare, aber das ist eine körperliche Reaktion, eine, die mich vor allem an die Vergänglichkeit dieses Leibes erinnert – sinnlich ist bei mir anders, ist in Worten oder in Serien. Und trotzdem schreibe ich explizite Fan-Fiction, lese Worte von anderen und mache es mir besser, als es eine andere Person jemals könnte, mache es mir in der Vorstellung über den psychischen Zustand der Charaktere. Dann komme ich gerne.

Je älter ich werde, desto weniger bedeutet mir romantische Liebe. Ich sehne mich nach Freund*innenschaft, die so ernst und wild und verschworen ist, wie sie es in der Kindheit war; nach Sex, bei dem sich der Aggregatzustand meines Körpers ändert; nach Verbündeten.

danke. ja. freund*innenschaften bedeuten mir mittlerweile so viel mehr als jede romantische liebe oder romantische paarbeziehung. ich musste erst lernen, dass das möglich ist, ich wurde anders erzogen: ein elternhaus, in dem weder mein vater noch meine mutter freund*innenschaften pflegten oder gar hatten, als sie heirateten. rückblickend versetzt es mir jedes Mal einen schlag: es gab maximal arbeitskolleg*innen, die alle drei jahre zum grillabend kamen.

in den vergangenen jahren habe ich beste freund*innen verloren, die sich plötzlich in einer romantischen paarbeziehung wiederfanden. auf ihrer prioritätenliste rutschte ich von weit oben nach ganz unten.

als ich einmal meine verzweiflung darüber mitteilte, sagte eine freundin recht ungerührt: »ich kann das so nicht mehr leisten.«

das hat mich verletzt, weil ich darin weniger, sagen wir: ebbe und flut von langen freund*innenschaften wahrnahm. man verbringt intensive zeiten miteinander, man entfernt sich für eine weile, man begegnet sich neu. das hätte ich besser akzeptieren können. aber für mich mischte sich ein anderer beigeschmack darunter: die romantische paarbeziehung ist mir wichtiger als das verbündetsein mit dir. das war für mich auch deshalb so schlimm, weil es in mir genau andersherum ist.

ich musste in dieser zeit oft an einen text von ALOK denken:

i want a world where friendship is appreciated as a form of romance. i want a world where when people ask if we are seeing anyone we can list the names of all of our best friends and no one will bat an eyelid. i want monuments and holidays and certificates and ceremonies to commemorate friendship. i want a world that doesn’t require us to be in a sexual/romantic partnership to be seen as mature (let alone complete). i want a movement that fights for all forms of relationships, not just the sexual ones. i want thousands of songs and movies and poems about the intimacy between friends. i want a world where our worth isn’t linked to our desirability, our security to our monogamy, our family to our biology.[18]

Ich hasse es, wenn meine Kinder von Erwachsenen gefragt werden: »Naaa, bist du in die oder den verliebt?«, ertappe mich selbst aber auch bei diesem Reflex; die Fetischisierung der cis-heteronormativen Beziehungsform und der gesellschaftliche Fokus darauf wurden auch in mich schon früh eingeschrieben. Die ständigen Nachfragen und Unterstellungen waren mir damals unangenehm. Mich verwirrte, wie die Erwachsenen dabei feixten. Ich bin mir sicher, auch meine Kinder spüren diese Irritation, den erwachsenen Blick, der in ihre kindlichen Körper etwas Unkindliches hineinlesen will. Es macht mich wütend, ihnen das nicht ersparen zu können.