STERBEÜBUNGEN
Über das Sterben wurde bisher kaum geschrieben. Ihr seid ja auch alle zu jung. »Sterben kennt kein Alter. Aber es bevorzugt die Alten«, schrieb Roland Schulz einmal im SZ-Magazin. »Die Hälfte der Sterbenden in Deutschland ist über 80.«[24] Auch meine Mutter war über 80. Ich nähere mich ihrem Sterbealter. Wäre ich sie, hätte ich noch sechs Jahre zu leben. Unvorstellbar.
»Ich hatte ein verpfuschtes Leben«, vertraute sie einer Journalistin an, die sie interviewte. Das ist eine schreckliche Aussage. Ich mochte meine Mutter nicht, aber dieser Satz erschüttert mich. Als sie starb, hatte sie Jahrzehnte ohne Berührung hinter sich. Wahrscheinlich war sie deshalb so versteinert. Innerlich und äußerlich. Mein Vater starb zwanzig Jahre vor ihr, und auch als er noch am Leben war, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie Sex hatten. Er hatte eine Geliebte in der Schweiz. Vielleicht legte er meiner Mutter, wenn er gut drauf war, gelegentlich seinen Arm um die Schulter. Mein Bruder, mit dem sie nach dem Tod ihres Mannes zusammenlebte, hat bestimmt nicht einmal das getan. Er war genauso versteinert wie sie.
Schon mehrere Wochen vor ihrem Tod wollte Mutter nicht mehr essen und trinken. »Willst du sterben?«, fragte ich sie, um sie zum Essen zu ermuntern. Sie zuckte ratlos mit den Schultern. »Dein Appetit vergeht schleichend«, schreibt Schulz. »Du hast keinen Hunger mehr. Das ist natürlich. Dein Körper verlangt nicht mehr, was er nicht länger braucht. Für die Menschen an deiner Seite ist es ein harter Einschnitt, wenn du zu essen aufhörst. Möglich, dass sie erst jetzt fassen, was dir über Wochen bewusst wurde: Du gehst. Für immer.«
Ich war nicht dabei, als Mutter starb. Nicht einmal mein Bruder war dabei, der mit ihr lebte. Erschöpft kehrte er am Abend vom Krankenhaus nach Hause zurück. Ich selbst wäre ihr auch kein Trost gewesen.
Ich hoffe, dass an meiner Mutter in ihren letzten Minuten nicht ihr Leben vorüberzog, wie es oft behauptet wird. Ihr verpfuschtes Leben. Vielleicht war es aber so, wie manche Forscher*innen meinen, dass der Körper das Gehirn mit Botenstoffen geflutet hat: Serotonin, Endorphine und Dopamin. »Die kennst du. Vom Verlieben, von schweißtreibendem Sport, vom Sex. Dämpfen Schmerz. Steigern Euphorie«, schreibt Schulz. Wann hat meine Mutter davor zum letzten Mal Euphorie empfunden?
Ich bin zerrissen. Einerseits wäre ich gern bei ihr gewesen. Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen. Andererseits bin ich froh, dass ich weit weg war. So ist ihr Sterben abstrakt geblieben. Ebenso abstrakt wie mein eigenes, das mir noch bevorsteht.
Ich denke an meine Mutter. Sie ist 94 Jahre alt, kann nur noch am Rollator laufen, erkennt Menschen oder auch nicht. Sie spricht, sie isst sehr langsam, sie kann kaum schlucken, sie ist dement. Zudem macht ihr Körper an vielen Stellen mit ihr, was er will (»er« ist hier nur grammatisch eingesetzt, »will« ebenfalls – von Willen kann keine Rede sein, eher von Physiologie und Mechanik der Gelenke, von fehlender Kraft). Das Greisenalter ist erreicht. Von Sex zu sprechen, an Sex zu denken, scheint absurd (Sex wie in: mit einer anderen Person). Und sexuelle Befriedigung? Meine Mutter lässt nichts erkennen.
Was nicht heißt, dass es ihr nicht gefiele. Doch in welcher Form? Und wie es herausfinden?
mit mitte zwanzig habe ich im abstand von sechs monaten zweimal versucht, mir das leben zu nehmen. war der tod mir zu diesem zeitpunkt noch abstrakt genug, um sterben zu wollen?
rückblickend glaube ich: ja. es ging, weil es so eine abstrakte sache war: irgendwie kühl und sauber und vielleicht auch ohne den begriff der endgültigkeit, obwohl ich objektiv längst wusste, dass das nicht stimmte. ich hatte meinen großvater an krebs sterben sehen. ein langer und mühsamer prozess, nichts daran war kühl und sauber gewesen, aber ich verbuchte diese erfahrung unter »etwas anderes«. ich begegnete ihm ein paar stunden vor seinem tod und sah ihn wieder, als er gerade gestorben war.
ich erinnere, wie mich die älteren krankenschwestern nach dem ersten versuch in der notaufnahme spüren ließen, wie sehr sie mich verabscheuten. oder das, was ich getan hatte. wie ich versucht hatte, mir den tod herzuholen, weil ich ein anderes leben wollte, zumindest eine andere situation. sie haben mich richtig gehasst, glaube ich. es waren die einsamsten stunden auf dieser station: ich lag im gang am tropf, weil alle zimmer überfüllt waren, und ab und zu wischte jemand den boden, vier uhr morgens. die schwestern liefen ständig vorbei, und jedes Mal herrschte mich die ältere an, ich solle endlich die augen zumachen und schlafen.
vor allem aber erinnere ich mich, wie würdelos ich die berührungen empfand, die ich zu diesem zeitpunkt nur noch über mich ergehen lassen konnte: die ärzte und schwestern versuchten in einer mit vorhängen abgetrennten kabine mein leben zu retten. alles, was ich in diesem gewaber noch erinnere, ist: aufgebahrt ausgezogen zu werden, zugänge gelegt zu bekommen, messgeräte, flüssigkeiten.
ich dachte: jetzt bin ich nur noch ein stück fleisch.
ich schämte mich für dieses fleisch, das ihnen arbeit machte, und ich schämte mich für dieses ich, das denen sorgen machte, die mich liebten.
»da hat niemand mehr gefragt, ob das okay ist«, habe ich später im gespräch mit einer freundin beklagt. »sie haben mich einfach angefasst und all diese dinge getan.« am deutlichsten im kopf blieb mir die nadel im arm, das durchstoßen der haut, die ich bis dahin für eine stabilere art von grenze gehalten hatte als meinen körper an sich: keine öffnungen, geschlossen.
»sie haben versucht, dein leben zu retten«, sagte die freundin im gespräch. sie sagte es nicht einmal vorwurfsvoll, aber der vorwurf hing im raum: du hast nichts zu beklagen, wenn du versuchst, dir das leben zu nehmen. hast du dir über diese endgültigkeit überhaupt mal gedanken gemacht?
sünde. strafe.
mehr als der gedanke, jetzt doch weiterleben zu müssen, hat mich danach diese situation in der notaufnahme gelähmt, die ich als so übergriffig empfand.
ich habe das nie gedacht, nicht einmal nachdem ich realisiert hatte, dass ich in meiner beziehung vergewaltigt worden war, nicht nach all dem missbrauch, der sich fortan in diversen beziehungen entspann, die ohnmachtsmomente in sexuellen und platonischen beziehungen, in räumen, in denen ich sie nicht erwartet hatte – alles stricke, die auf einen gedanken hinausliefen: lieber sterben zu wollen, als ein leben wie meines zu führen.
nach dieser nacht aber war ich davon überzeugt: in der notaufnahme hatten sie mir meine würde genommen.
Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, wie schrecklich das gewesen sein muss für dich. Danke, dass du das mit uns hier teilst.
Dass Sterbenwollen eine Möglichkeit ist, wusste ich nicht, bis ein Schulfreund mit zwanzig Suizid beging. Suizid begehen – noch nie verstanden, die Formulierung. Warum so umständlich? Er ist von einem Hochhaus gesprungen, eins, das in jeder Etage andersfarbige Markisen hatte, lustiges Gelb, happy Orange, funky Rot usw.
Dass auch ich sterben wollen könnte, war der plötzliche Gedanke. Denn dass es mehr als die Option Lebenwollen gibt, war in meinem Koordinatensystem bis dahin nicht vorhanden. Ich rutschte ab, versank in quälenden Fragen, spürte vorauseilend den Phantomschmerz, den mein eigenes Verschwinden bei den Menschen, die mich liebten, auslösen würde. M.s Tod hatte etwas in mir angestoßen, es freigesetzt: Auf einmal war ich mir unsicher, bleiben zu wollen.
I’m good now. Aber ganz geht es nicht heraus, die Knochen wissen.
Die Markisen wurden übrigens entfernt. Bei der Google-Bildersuche sieht das Haus jetzt aus wie jedes andere. Nach M.s Tod stand ich manchmal davor, fragte mich, wie viele im Moment seines Sprungs, seines Aufpralls hinter den unzähligen Fenstern beim Sex gekommen waren. Es tat gut, das zusammenzubringen.
Ich war noch in der Grundschule; ein Junge aus der sechsten Klasse starb bei einem Autounfall in der Nähe der Schule. Es gab einen organisierten Trauermarsch, der vielleicht in Wirklichkeit eine Demo gegen das Verkehrsaufkommen war, die Straßenpolitik. Überall wurden Blumen niedergelegt. Mein Vater und ich liefen auch in dem Pulk mit und vor uns ein Junge mit wunderschönen weichen Locken, ich habe seinen Namen vergessen, hieß er Ulli? Während wir dort liefen, wurde mir warm, ich sehnte mich danach, diesen Jungen zu berühren. Ich glaube, das war mein erster erotischer Moment, der sich aufs Seltsamste mit dem Tod verband. Das schlechte Gewissen, einen Jungen zu begehren, obwohl ein anderer gestorben war, macht mich immer noch fertig.
Häufig mache ich abends im Bett ein Spiel mit mir selbst, bei dem ich übe zu sterben. Ich habe den Drang, mich vorzubereiten, als wär es eine Aufgabe, die ich meistern muss. Ich beginne, indem ich mir meiner Lebendigkeit bewusst werde: Körper ist warm, Atem fließt, Bewusstsein ist vorhanden. Dann versuche ich mir vorzustellen, all das zu verlieren. Es wird ein Tag kommen, an dem ich tot sein werde, und das wird ein dauerhafter Zustand sein. Aber ich verliere den Fokus, alles wird blurry, ich bekomme nichts zu greifen. Ich weiß nicht, warum ich so versessen darauf bin, mich im Sterben zu üben. Ich glaube, ich habe fürchterliche Angst davor. Meine Großmutter hatte keine Angst. Wann holt der Herrgott mich endlich zu sich? Als ich sie wenige Wochen vor ihrem Tod das letzte Mal besuchte, erzählte ich ihr endlich, dass ich mit einer Frau zusammenlebte. Um meiner selbst willen wollte ich sie nicht verabschieden, ohne es ihr erzählt zu haben. Erst tat sie, als hätte sie es nicht gehört, und starrte gegen die Wand. Dort stand in krakeliger Handschrift ein Gedicht von Rilke, sie hatte es selbst hingeschrieben. Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen. Dann wechselte sie das Thema. Ich brachte sie ins Bett. Als ich ihr den Gute-Nacht-Kuss geben wollte, fragte sie unvermittelt: Wie heißt sie? Ich sagte es ihr, und sie deutete den Namen im christlichen Kontext, bezog diese Deutung auf mein Leben. Dann sagte sie irgendwas von wenn die Zeiten damals anders gewesen wären, vielleicht hätte ich auch anders gelebt, kann aber sein, dass ich mich da verhört habe. Vor ein paar Wochen habe ich in einem Fotoalbum ein Bild von ihr mit Kurzhaarfrisur in einem Herrenanzug gefunden. Ich habe es abfotografiert und stolz meiner Partnerin gezeigt. Aber klar, ich weiß, es war nur eine witzige Verkleidung auf einem Familienfest. Bei meinen abendlichen Sterbeübungen denke ich oft an meine Großmutter und versuche mir vorzustellen, wie der Moment war, als sie ging, der letzte Atemzug.
Ich war ein nervöses Kind, dauernd in Bewegung, in Aufruhr. Abends konnte ich oft lange nicht einschlafen, und meine Mutter machte autogenes Training mit mir. Im dunklen Zimmer strich sie mir über Arme, Hände, Beine und Füße, brummte die immer gleichen Sätze. Dein Zeigefinger wird müde, dein Daumen wird müde, dein Fingernagel wird müde … Ewig ging das so. Denn alles in mir wehrte sich. Ich misstraute dem Schlaf, dem Zustand des Weggleitens in diesen Zwischenraum. Erst im letzten Moment hatten sie mich aus dem aufgeschnittenen Bauch meiner Mutter geholt, die Nabelschnur um den Hals gewickelt, das Gesicht schon blau angelaufen. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich bis heute diesen Widerstand spüre, mich dem Schlaf zu überlassen, und das Insbettgehen hinauszögere, immer müde bin.