3. Der Verlauf des Ersten Kreuzzuges

Verbände von Bewaffneten, die von vielen Unbewaffneten – Männern und Frauen – begleitet wurden, verließen Europa von 1096 bis 1101 in drei großen Wellen. Dazwischen gab es einen stetigen Strom kleinerer Reise- und Kampfgemeinschaften, so dass die Angehörigen der zweiten Welle ständig von neuen Teilnehmern eingeholt wurden und Kreuzfahrer sogar noch nach Palästina gelangten, als die siegreichen Eroberer von Jerusalem sich schon wieder zur Heimreise rüsteten. Außerdem gab es einen Gegenstrom von Deserteuren, die heimwärts zogen. Bereits im Winter 1096 trafen darum die ersten Desillusionierten, Kranken und Verzagten wieder in Westeuropa ein.

Die Situation in der islamischen Welt

Auch wenn die Kreuzfahrer das nicht wussten: Sie marschierten auf ein weit geöffnetes Tor zu. Schon im 10. Jahrhundert hatte sich ein weltweiter Klimawandel bemerkbar gemacht, der sich im 11. Jahrhundert verstärkte. Die klimatischen Veränderungen während dieser sogenannten „mittelalterlichen Warmzeit“ hatten in Westeuropa im Allgemeinen positive Auswirkungen – einmal abgesehen von der extremen Dürrezeit unmittelbar vor Beginn des Ersten Kreuzzuges, die sie vermutlich ebenfalls herbeigeführt hatten. Im Nahen und Mittleren Osten jedoch hatte die Warmzeit verheerende Folgen: So wurden die Wanderzyklen nomadischer Völker empfindlich gestört, und es kam zu wirtschaftlicher und politischer Instabilität. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Palästina und Syrien zu jener Zeit den Schauplatz für eine heftige Auseinandersetzung zwischen zwei konkurrierenden Strömungen des Islam abgaben: dem erstarkenden Sunnitentum auf der einen Seite, vertreten durch das Sultanat der seldschukischen Türken, die im Namen des Abbasidenkalifats von Bagdad in den Kampf zogen, und den schiitischen Fatimiden auf der anderen Seite, deren Kalifat von Kairo aus schon ein Jahrhundert lang mit missionarischem Eifer die schiitische Lehre verfochten hatte. Im Jahr 1071 war Jerusalem an die Seldschuken gefallen, doch am 26. August 1098 – das Kreuzfahrerheer stand gerade im Norden Syriens – eroberten die Fatimiden die Heilige Stadt zurück. Bis zu diesem Zeitpunkt war die islamische Welt bereits durch eine Reihe von Unglücksfällen geschwächt worden: So war 1092 mit dem Wesir Nizam al-Mulk eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der seldschukischen Geschichte ermordet worden, war dieser doch der Mann gewesen, der dreißig Jahre lang die Macht der Seldschuken gesichert hatte. Nur einen Monat später war der Seldschukensultan Malikschah unter dubiosen Umständen gestorben. Ihm folgten ins Grab nicht nur seine Ehefrau, sein Enkel sowie weitere hohe seldschukische Würdenträger, sondern sogar der Abbasidenkalif al-Muqtadi selbst. Durch diese Schicksalsschläge zerbrach das Seldschukenreich in eine Vielzahl konkurrierender Kleinstaaten, in denen verschiedene Thronprätendenten und Angehörige der Herrscherfamilie um die Macht kämpften. Dann starben im Jahr 1094 auch noch der Fatimidenkalif al-Mustansir, der 58 Jahre lang regiert und den Seldschuken zähen Widerstand geleistet hatte, und sein Wesir, Badr al-Dschamali.

Die erste Welle

Die erste Welle von Kreuzfahrern brach bereits im Frühjahr 1096 auf – sehr früh also und tatsächlich zu früh. Ihr berühmtester Anführer war ein Volksprediger namens Peter der Eremit, der sogar schon vor dem Konzil von Clermont begonnen hatte, in Zentralfrankreich Truppen um sich zu scharen. Aus diesem Grund hat der eine oder andere Historiker eine Geschichte wieder aufgegriffen, die ein oder zwei von Peters Zeitgenossen geglaubt haben und die von dem Prediger selbst nach Kräften verbreitet wurde: dass nämlich Peter der Eremit selbst der geistige Vater des Kreuzzuges gewesen sei. Er versammelte ein ansehnliches Gefolge um sich, bevor er im April 1096 in das Rheinland zog. Ihnen voraus marschierte – wahrscheinlich auf Peters Anweisung hin – eine große Abteilung von Fußtruppen, die von acht Rittern unter dem Kommando eines gewissen Walter ohne Habe angeführt wurden, der als „Habenichts“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, obwohl dieser Beiname (Sans-Avoir) eigentlich nur die Herkunftsbezeichnung der Herren von Poissy in der Île-de-France war. Dieser Voraustrupp betrat am 21. Mai ungarischen Boden und marschierte sodann vergleichsweise geordnet bis nach Konstantinopel. Allerdings kam es in Belgrad zu einem schwerwiegenden Ausbruch von Gewalt, und zwar – wie sollte es anders sein – bei der Proviantbeschaffung. Das Ausbleiben weiterer Übergriffe ist bemerkenswert, vor allem wenn man bedenkt, dass die frühe Ankunft Walters und seiner Männer die byzantinische Obrigkeit vollkommen überraschte.

In Konstantinopel erhielten Walters Truppen Verstärkung durch Gruppen italienischer Pilger sowie am 1. August durch Peter den Eremiten, der mit seinen Anhängern am 20. April in Köln losmarschiert war und dessen Überquerung des Balkans sich wesentlich schwieriger gestaltet hatte als jene seiner Vorhut, woran die Disziplinlosigkeit seiner Männer entscheidenden Anteil gehabt hatte. Ungarn hatte Peters Heer zwar noch friedlich durchzogen, doch in Zemun – heute ein Stadtbezirk von Belgrad, damals die letzte Stadt im Königreich Ungarn – war unter Peters Anhängern ein Tumult ausgebrochen, die Zitadelle der Stadt war gestürmt und zahlreiche Ungarn waren getötet worden. Wie man sich vorstellen kann, waren die Kreuzfahrer bestrebt, sich der Bestrafung durch die Ungarn zu entziehen, setzten daher, so schnell sie konnten, über den Grenzfluss Save auf byzantinisches Territorium über, und ließen sich auch von den sie in Empfang nehmenden byzantinischen Truppen nicht in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken. Als sie die menschenleere Stadt Belgrad erreichten – deren Bewohner hatten vorsorglich das Weite gesucht –, waren die Kreuzfahrer in übler Stimmung: Belgrad wurde vermutlich geplündert. Der byzantinische Statthalter von Niš wurde zwar vom Anmarsch der Fremden völlig überrascht, versuchte jedoch mit ihnen zu kooperieren und erlaubte den Kreuzfahrern daher, im Austausch gegen Geiseln Proviant zu erwerben. Als das Kreuzfahrerheer gerade im Abzug begriffen war, setzten einige Deutsche unter ihnen mehrere vor der Stadt befindliche Mühlen in Brand. Der Statthalter befahl seinen Truppen, den Abziehenden nachzusetzen und deren Nachhut anzugreifen. Obwohl Peter der Eremit seinen Männern befahl, sich ruhig zu verhalten, setzten sich viele von ihnen gegen die Angreifer zur Wehr, wurden aufgerieben und versprengt. Die Kreuzfahrer verloren viele Männer und Frauen und alles Geld. Glücklicherweise empfingen die Griechen sie friedlich, als sie Sofia erreichten. Von nun an wurden sie mit Verpflegung versehen und auf ihrem Marsch unterstützt, so dass sie ohne weitere Vorkommnisse vor Konstantinopel eintrafen.

Walter ohne Habe und Peter der Eremit wurden von dem byzantinischen Kaiser Alexios freundlich aufgenommen. Man riet ihnen, auf die Ankunft der anderen Kreuzfahrergruppen zu warten, von deren Versammlung in Europa man schon gehört hatte. Doch Peters ungeduldige Leute fingen lieber an, die umliegenden Gegenden zu plündern, was die Griechen zu der Einsicht gelangen ließ, dass sie besser heute als morgen weiterziehen sollten. Am 6. August wurden sie auf Fährbooten über den Bosporus gesetzt. Danach marschierten sie nach Kibotos, einem günstig gelegenen Treffpunkt, an dem sie auf die restlichen Kreuzfahrer warten konnten. Dann jedoch kam es zum Streit zwischen den Deutschen und Italienern einerseits, die gemeinsam einen italienischen Adligen namens Rainald zu ihrem Anführer wählten, und den Franzosen andererseits. Von Kibotos aus unternahmen die Franzosen Raubzüge bis nach Nicäa, das unter seldschukischer Herrschaft stand. Das wollten Rainalds Anhänger nicht auf sich sitzen lassen und errichteten einen Stützpunkt noch jenseits von Nicäa. Am 29. September jedoch sahen sie sich von türkischen Truppen umzingelt. Acht Tage später mussten die Kreuzfahrer sich ergeben. Wer von ihnen sich bereit erklärte, zum Islam zu konvertieren, wurde weiter in den Osten geschickt; die anderen wurden getötet. Als die Nachricht von diesem Debakel das Hauptquartier erreichte, hielt sich Peter der Eremit gerade in Konstantinopel auf, und die französischen Kreuzfahrer rückten – gegen den Rat von Walter ohne Habe, der zur Vorsicht gemahnt hatte – am 21. Oktober in das Landesinnere vor. Dabei gerieten sie in einen türkischen Hinterhalt und wurden vollkommen aufgerieben.

Walter und Peter hatten wenigstens Kleinasien erreicht. Drei andere Kreuzfahrerheere, die sich ungefähr zur selben Zeit auf den Weg machten, kamen nicht weiter als bis nach Ungarn. Die sächsisch-böhmische Streitmacht unter dem Kommando Folkmars wurde bei Neutra vernichtend geschlagen. Ein weiterer Trupp marodierender Kreuzfahrer, den ein Priester aus dem Rheinland namens Gottschalk anführte, musste sich den Ungarn bei Pannonhalma ergeben. Das große Heer von Kreuzfahrern aus dem Rheinland, Schwaben, Frankreich, England und Lothringen, das unter Emicho von Flonheim die Juden im Rheinland heimgesucht hatte, wurde bei Wieselburg an der Grenze zu Ungarn aufgehalten. Nachdem sie sechs Wochen mit dem Bau einer Brücke über den vor der Stadt gelegenen Fluss verbracht hatten, endete ihr Sturmangriff in panischer Flucht.

Oft wird fälschlicherweise behauptet, diese Heere des sogenannten Volkskreuzzuges hätten sich überwiegend aus Bauern zusammengesetzt – im Gegensatz zu jenen, die 1096 erst später aufbrachen. Das war jedenfalls eine Erklärung von Zeitgenossen für die Judenmassaker, die Übergriffe auf dem Balkan und ihr Scheitern in Kleinasien. Wir dürfen uns jedoch nicht mit der einfachen Begründung zufrieden geben, die Teilnehmer dieses Kreuzzuges seien eben kaum mehr als Horden von Bauern gewesen, disziplinlos und beutegierig. Denn wenn es in den betroffenen Heeren wohl auch mehr Nicht-Kämpfer gegeben hat als in den späteren Kreuzfahrerheeren, so waren doch auch etliche erfahrene Ritter mit von der Partie. Walter ohne Habe war ein solcher, ebenso die Hauptleute aus dem Heer Peters des Eremiten. Einer von ihnen, der Ritter und Chronist Fulcher von Chartres, sollte seine Tage als Grundherr in der Grafschaft Edessa beschließen, der ersten lateinischen Herrschaft im Nahen Osten. Emicho von Flonheim war ein bedeutender Vertreter des oberdeutschen Adels; das Gleiche gilt von dem Grafen Hartmann von Dillingen-Kyburg, der sich Emicho in Mainz angeschlossen hatte. Mit ihnen zogen vermutlich mindestens vier weitere deutsche Grafen. Das Heer aus französischen, englischen, flandrischen und lothringischen Kreuzfahrern, das ebenfalls in Mainz zu den Truppen Emichos gestoßen war, war offenbar groß, gut ausgerüstet und wurde von einer illustren Gruppe französischer Ritter angeführt: Clarembald von Vandeuil; Thomas von Marle, Herr von Coucy; der Vicomte Wilhelm von Melun, genannt „der Zimmermann“; schließlich Drogo von Nesle. Womöglich sollte diese Gruppe mit ihren Kämpfern auch eine Art französische Vorhut bilden, denn nach der Zerschlagung von Emichos Heer schlossen sie sich Hugo von Vermandois an, einem Bruder des französischen Königs, und setzten ihre Fahrt in den Osten mit ihm fort.

Einer der Gründe für die Katastrophen, unter denen diese erste Welle von Kreuzfahrern schließlich zusammenbrach, bestand darin, dass sie schon vor dem vom Papst auf den 15. August 1096 festgelegten Abmarschdatum aufgebrochen waren. Das heißt, sie waren losmarschiert, während sich Westeuropa noch mitten in einer Quasi-Hungersnot befand und vor der wundersam reichen Ernte dieses Jahres. Aus diesem Grund litten die Kreuzfahrer von Anfang an unter einer unzureichenden Lebensmittelversorgung. Auf dem Balkan mussten sie plündern, wo sie nichts kaufen konnten. Und selbst dort, wo sie etwas kaufen konnten, blieb die Proviantfrage doch immer ein Thema, und immer wieder waren es Streitereien über die Verpflegung, die zu Unordnung und Tumult führten. Außerdem war die byzantinische Obrigkeit unvorbereitet. Niemand hatte sich darum gekümmert, den Kreuzfahrern einheimische Begleiter und Wegweiser zur Seite zu stellen; auch mangelte es an Vorräten. Und nicht zuletzt hatte das Scheitern der Unternehmungen von Folkmar, Gottschalk und vor allem Emicho von Flonheim dafür gesorgt, dass Peter der Eremit und Walter ohne Habe nicht über ausreichende Truppen verfügten.

Die zweite Welle: Der Marsch nach Konstantinopel

Ab dem Abreisedatum, das Urban II. festgelegt hatte, begann Mitte August 1096 die zweite Welle von Kreuzfahrern, Westeuropa in Richtung Palästina zu verlassen. Zuerst reisten sie in einzelnen kleinen Gesellschaften, die sich nach Herkunftsregionen zusammenschlossen und häufig von Mitgliedern des Hochadels angeführt wurden. Hugo von Vermandois verließ Frankreich Mitte August und marschierte mit seinen Männern über Rom nach Bari, wo sie sich zur Überfahrt nach Durazzo (heute Durrës in Albanien) einschifften. Ein Sturm zerstreute jedoch ihre Schiffe, so dass Hugo sich gezwungen sah, in einiger Entfernung von Durazzo an Land zu gehen. Einmal an Land, wurde er kurzzeitig gefangen gesetzt und anschließend nach Konstantinopel eskortiert. Etwa zur gleichen Zeit brach Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen, mit seinem Bruder Balduin von Boulogne und einer Truppe lothringischer Adliger auf. Gottfried ist mit Abstand der berühmteste Teilnehmer des Ersten Kreuzzuges – aber er bleibt auch der rätselhafteste. Geboren wurde er um 1060 als zweiter Sohn des Grafen Eustachius II. von Boulogne und der Ida von Lothringen. Sein älterer Bruder, Eustachius III., der – allerdings unabhängig von Gottfried – ebenfalls am Kreuzzug teilnahm, hatte kurz nach 1070 die Grafschaft Boulogne sowie die weitläufigen Besitzungen der Familie in England geerbt. Sechs Jahre darauf erbte seinerseits Gottfried das Herzogtum Niederlothringen, die Markgrafschaft Antwerpen, die Grafschaft Verdun und die Herrschaften von Bouillon und Stenay, und zwar von einem kinderlos verstorbenen Onkel mütterlicherseits. Doch der römisch-deutsche König Heinrich IV. schob die Bestätigung von Gottfrieds Herzogswürde auf, so dass dieser Niederlothringen erst im Jahr 1087 tatsächlich in Besitz nehmen konnte. Zugleich musste er einen zehn Jahre andauernden Kleinkrieg gegen seine Tante führen, die Respekt einflößende Mathilde von Tuszien, die überhaupt nicht einsah, dass sie den Anspruch auf den Besitz ihres verstorbenen Mannes (des besagten Onkels mütterlicherseits) aufgeben sollte. Dabei wurde sie vom Bischof von Verdun und dem Grafen von Namur unterstützt. Erst nachdem diese Streitigkeiten in seinem Sinne entschieden waren, konnte Gottfried seine Herrschaftsrechte in vollem Umfang ausüben. Nichts deutet darauf hin, dass Gottfried übermäßig fromm gewesen wäre, und aus den Pfandvereinbarungen, die er aufsetzen ließ, geht deutlich hervor, dass er 1096 nicht mit der Absicht loszog, sich in Palästina dauerhaft niederzulassen. In Fragen der Kirchenpolitik stand Gottfried zudem ganz auf der Seite des deutschen Königs und gegen das Reformpapsttum. Sein Großvater und sein Onkel mütterlicherseits hatten im Investiturstreit die Partei Heinrichs IV. ergriffen, während jene, die Gottfried sein Erbe streitig machten – Mathilde von Tuszien und der Bischof von Verdun – Parteigänger Papst Gregors VII. gewesen waren. Gottfried selbst hatte für Heinrich IV. gekämpft und wahrscheinlich an der Eroberung Roms im Jahr 1084 teilgenommen, als deren Folge Gregor hatte aus der Stadt fliehen müssen.

Die Persönlichkeit von Gottfrieds jüngerem Bruder Balduin steht uns deutlicher vor Augen. Geboren zwischen 1061 und 1070, war er für ein Leben als Kleriker bestimmt worden und hatte früh Benefizien – gut dotierte kirchliche Posten ohne rechte Amtspflichten – in Reims, Cambrai und Lüttich innegehabt. Doch in dem vom Geist der Reform geprägten intellektuellen Klima der Zeit war eine solche Ämterhäufung überhaupt nicht gern gesehen. Möglicherweise wurde Balduin sogar gezwungen, einige seiner Pfründen aufzugeben. Das würde immerhin erklären, warum er auf Reformer und Reformideen späterhin so schlecht zu sprechen war. Jedenfalls schied er vor 1086 aus dem Dienst der Kirche aus – zu spät, um ein Stück vom Familienerbe zu erhalten, das zu jenem Zeitpunkt bereits unter seinen Brüdern aufgeteilt worden war. Womöglich war es daher Geldmangel, der ihn um 1090 die Ehe mit Godehild von Tosny eingehen ließ, einer Tochter aus einflussreichem anglo-normannischem Hause, die auf dem Kreuzzug sterben sollte. Balduin war intelligent, berechnend und rücksichtslos. Er war kein angenehmer Zeitgenosse, aber seine starke Persönlichkeit und sein reger Geist sollten den Kreuzfahrern und ersten Siedlern im Heiligen Land von großem Vorteil sein.

Nachdem sie mit ihrem Gefolge durch Süddeutschland gezogen waren, erreichten die Brüder im September die ungarische Grenze. Hier warteten sie erst einmal die Genehmigung ihrer weiteren Marschroute durch den ungarischen König ab; schließlich hatte dieser zuvor schon drei Kreuzfahrerheere zerschlagen. Balduin ließ sich überreden, als Geisel für das gute Benehmen der Kreuzfahrer zu bürgen, und Gottfried erließ die strikte Anweisung, jegliches Plündern zu unterlassen. Ende November erreichte er byzantinisches Gebiet. Auf ein Gerücht hin, Hugo von Vermandois werde vom byzantinischen Kaiser gefangen gehalten, erlaubte Gottfried seinen Leuten, die Gegend um Silivri zu plündern – bis er sich davon überzeugt hatte, dass Hugo in Freiheit war. Am 23. Dezember erreichte er Konstantinopel und ließ außerhalb der Stadt – nahe der Spitze des Goldenen Horns mit seinem großen Hafen – ein Lager aufschlagen.

Zwei Wochen nach Hugo von Vermandois setzte auch Bohemund von Tarent über die Adria, begleitet von einer kleinen Schar normannischer Kämpfer aus Süditalien. Bohemund, der älteste Sohn des Herzogs von Apulien Robert Guiskard, war zu diesem Zeitpunkt etwa vierzig Jahre alt. Bereits 1081 hatte er bei der Invasion des byzantinischen Albanien durch seinen Vater eine führende Rolle gespielt. Bei seinem Tod hatte Robert dem Sohn die eroberten Gebiete an der östlichen Adriaküste vermacht. Da die Normannen zu jener Zeit jedoch auf dem besten Weg waren, diese wieder zu verlieren, war Bohemund effektiv enterbt worden, denn sein jüngerer Halbbruder Roger Borsa hatte Apulien als Erbteil erhalten. Und obwohl Bohemund sich bis in die späten 1080er-Jahre eine stattliche Herrschaft in Süditalien erkämpft hatte, konnte doch wenig Zweifel daran bestehen, dass er sich nur mit einem Fürstentum zufriedengeben würde, das er sich womöglich von den Griechen zurückerobern wollte, die ihm sein rechtmäßiges albanisches Erbe abgenommen hatten. Ein Bohemund gegenüber feindselig eingestellter Zeitgenosse meinte sogar, dies sei sein einziger Grund gewesen, überhaupt das Kreuz zu nehmen. Wenn wir hingegen einem Bewunderer Bohemunds Glauben schenken, „erstrebte [dieser] zu allen Zeiten das Unmögliche“. Die Griechen jedenfalls, die den Verdacht hegten, Bohemund habe von seinem Vater auch gewisse Absichten zum Schaden des Byzantinischen Reiches geerbt, erkannten zweifellos dessen großes militärisches Talent. Tatsächlich sollte sich Bohemund im weiteren Verlauf als einer der fähigsten Heerführer erweisen, welche die Kreuzzugsbewegung hervorgebracht hat. Er war intelligent und fromm, und er war womöglich der einzige unter den Anführern der Kreuzfahrer, der die Ziele und Motivation des Reformpapsttums tatsächlich verstand.

Zwar war die byzantinische Obrigkeit auf Bohemunds Ankunft vorbereitet, doch die Einheimischen, die schließlich erst vor relativ kurzer Zeit eine normannische Invasion über sich hatten ergehen lassen, weigerten sich, ihm Proviant zu verkaufen. Infolgedessen sahen Bohemunds Männer sich gezwungen, auf eigene Faust zu furagieren, bis ihnen endlich der byzantinische Hof eine Versorgungszusage machte. Da hatten sie allerdings schon Thessaloniki passiert. Auf dem Weg zerstörten sie außerdem eine Kleinstadt, die sie von Ketzern besetzt glaubten, und gerieten auch einmal mit byzantinischen Truppen aneinander, die sie zu größerer Eile antreiben wollten. Bohemund musste selbst noch in Thrakien viel Zeit und Kraft darauf verwenden, seine Leute vom Plündern abzuhalten; nachdem er in Richtung Konstantinopel vorausgeeilt war – das er am 10. April 1097 erreichte –, erlaubte sein Neffe Tankred, später einer der fähigsten unter den frühen Herrschern der Kreuzfahrerstaaten, seinen Männern, sich in der Umgebung zu verproviantieren.

Dicht hinter Bohemunds Trupp folgte Graf Raimund von Toulouse, der als Mittfünfziger nach damaligen Maßstäben als älterer Mann galt. Raimund hatte dreißig lange Jahre geduldig damit verbracht, die Ländereien seiner Vorfahren zurückzuholen, die in fremde Hände geraten waren. Zum Zeitpunkt seines Aufbruchs in den Osten herrschte er über dreizehn Grafschaften im Süden Frankreichs. Die Verwandtschaftsverhältnisse in seiner Familie waren außerordentlich kompliziert – Ergebnis diverser Ehen seiner Mutter Almodis de la Marche, die nacheinander mit Hugo V. von Lusignan, Pons von Toulouse und Raimund Berengar I. von Barcelona verheiratet war. Sie gebar Hugo von Lusignan zwei Söhne, von denen der Kreuzfahrer Hugo VI. der ältere war. Pons von Toulouse gebar sie eine Tochter und drei Söhne – von diesen war Raimund der mittlere – und Raimund Berengar von Barcelona zwei Söhne. Den Kontakt zu ihren Kindern aus erster bzw. zweiter Ehe brach sie nie ab: So reiste sie 1066/1067 nach Toulouse, um an der Hochzeit ihrer Tochter teilzunehmen. Ein Jahrhundert später hatte sie den Ruf einer Ausreißerin erlangt, aber es mag genauso gut sein, dass ihre Ehemänner einfach nicht mit ihrer Persönlichkeit zurechtkamen: Sie scheint sehr herrisch und arrogant gewesen zu sein. Von Papst Viktor II. wurde sie exkommuniziert, weil sie Raimund Berengar ermutigt hatte, das Anrecht seiner Großmutter auf die nunmehr von ihm selbst beanspruchte Grafschaft anzufechten. Am Ende wurde Almodis von einem ihrer Stiefsöhne ermordet.

Eines hatten ihre Sprößlinge, mochten sie auch drei unterschiedliche Väter haben, alle gemein: Sie waren in der Mehrzahl engagierte Anhänger des Reformpapsttums und der Kreuzzugsbewegung. Hugo VI. von Lusignan und Raimund von Toulouse waren fideles beati Petri, offizielle Unterstützer des Papsttums, und sowohl Hugo und Raimund als wahrscheinlich auch ihr Halbbruder Berengar Raimund II. nahmen das Kreuz, ebenso die Ehemänner ihrer Nichten Philippa von Toulouse und Ermessens von Melgueil.

Raimund von Toulouse war zudem durch Heirat mit den Königshäusern der Iberischen Halbinsel verwandt, und es ist möglich, wenn auch nicht sicher, dass er in der Reconquista gekämpft hatte. Obwohl wir nicht sicher sagen können, ob er wirklich wusste, welche Ziele die Kirchenreform im Einzelnen verfolgte, betrachtete Papst Urban II. ihn doch als einen Verbündeten und hatte ihn sogar schon zum Anführer des Kreuzzuges erkoren, bevor dieser überhaupt in Clermont ausgerufen wurde. Der Papst stattete Raimund vor dem Zusammentreten des Konzils einen Besuch ab und muss bei dieser Gelegenheit sein Vorhaben mit ihm besprochen haben, denn es war schon ein theaterreifer Auftritt, als die Abgesandten des Grafen nur einen Tag nach Urbans Kreuzzugspredigt in Clermont eintrafen, um die Zusage ihres Herren zu dem päpstlichen Vorhaben zu verkünden. Gerüchten zufolge hatte Raimund gelobt, niemals nach Hause zurückzukehren. Ob dies zutraf, ist nebensächlich: Dieser ältere Mann hatte beschlossen, die Besitzungen, deren Erwerb und Absicherung ihn so viel Lebenszeit gekostet hatte, einfach in der Obhut seines ältesten Sohnes zurückzulassen, um mit seiner Frau eine gefährliche Reise in den Osten anzutreten. Zwar hatte er sich umsichtiger auf die kommenden Feuerproben vorbereitet als die meisten anderen Kreuzfahrer, und in der Folge erging es seinen Männern besser als den Begleitern der anderen Ritter; aber immerhin war er ein kranker Mann – wenig überraschend, wenn man sein Alter bedenkt. Er teilte sich das Kommando über das womöglich größte Einzelkontingent mit Bischof Adhémar von Monteil, der schon seit den 1080er-Jahren die Sache der Kirchenreform in Südfrankreich mit Verve vertreten hatte. Adhémar war von Papst Urban zum päpstlichen Legaten für den Kreuzzug ernannt worden und sollte die Ratsversammlungen der führenden Kreuzfahrer bis zu seinem frühen Tod dominieren. Raimund und Adhémar marschierten also mit ihren Männern durch Oberitalien, um das Nordende der Adria herum und durch Dalmatien, wo ihnen die Feindseligkeit der einheimischen Bevölkerung entgegenschlug. Eskortiert von byzantinischen Truppen, die durchaus bereit waren, hart durchzugreifen, wenn etwa einige Kreuzfahrer Anstalten machten, von der vorgesehenen Route abzuweichen, erreichten sie Anfang April Thessaloniki. Raimund kam am 21. April 1097 in Konstantinopel an. Als sechs Tage später auch seine Truppen zu ihm stießen, waren sie in einem üblen Zustand: Offenbar hatte es eine Auseinandersetzung mit der byzantinischen Eskorte gegeben, die sie wohl vom Plündern abhalten wollte.

Herzog Robert von der Normandie und die Grafen Robert von Flandern und Stephan von Blois verließen Frankreich im Herbst 1096. Sie zogen über Rom und Montecassino nach Bari. Robert von Flandern überquerte die Adria nach nur kurzer Rast und erreichte Konstantinopel fast zeitgleich mit Bohemund. Robert von der Normandie und Stephan von Blois überwinterten in Süditalien und stießen Mitte Mai nach einem friedlichen Marsch vor Konstantinopel zu den anderen. Die Byzantiner hatten eingesehen, dass der erwähnte ruppige Umgang ihrer Eskorten mit den Kreuzfahrerheeren kontraproduktiv gewesen war, und übten sich nun in Zurückhaltung.

Die zweite Welle: Von Konstantinopel nach Antiochia

Es scheint, dass die meisten Anführer des Kreuzzuges von den Griechen eine vollwertige Beteiligung an dem geplanten Feldzug erwarteten. Im Frühjahr 1097 besprach Kaiser Alexios mit Gottfried von Bouillon, Robert von Flandern, Bohemund und vielleicht auch Hugo von Vermandois die folgende Möglichkeit: Er, Alexios, könne selbst das Kreuzzugsgelübde ablegen und den Oberbefehl übernehmen. Das mag bloßes Taktieren des byzantinischen Kaisers gewesen sein, denn als Raimund von Toulouse eintraf und erklärte, er werde sich dem byzantinischen Kaiser nur dann unterordnen, wenn dieser auch wirklich das Kommando übernehme, entschuldigte sich Alexios mit der Erklärung, er werde dringend in Konstantinopel gebraucht. Zwar sollte es später, bei der Belagerung von Nicäa, durchaus zu einer Zusammenarbeit von Griechen und Lateinern kommen; auch gab es eine Beteiligung griechischer Truppen bis zum Erreichen Antiochias, die insofern von Vorteil war, als der byzantinische Befehlshaber – ein hellenisierter Türke und erfahrener Feldherr namens Tatikios – den Kreuzfahrern einheimische Führer zur Seite stellte; aber dennoch blieben, nachdem Tatikios im Januar 1098 von seinem Posten abberufen worden war, nur einige wenige byzantinische Offiziere und Geistliche zur Unterstützung der Kreuzfahrer zurück. Dafür unternahm es im Kielwasser des Kreuzfahrerheeres eine byzantinische Streitmacht, den Machtbereich ihres Kaisers wieder über die kleinasiatische Küste bis nach Antalya auszudehnen. Bis zum Juni 1098 war Alexios allerdings mit seinem Heer aus Griechen und frisch eingetroffenen Kreuzfahrern gerade einmal bis Akşehir vorgedrungen und hatte also weniger als die Hälfte des Weges von Konstantinopel nach Antiochia zurückgelegt. Falschmeldungen über die Lage in Antiochia sowie Gerüchte über die Massierung eines mächtigen türkischen Heeres in Anatolien veranlassten den Kaiser jedoch, sich selbst aus Akşehir noch zurückzuziehen und die Kreuzfahrer ihrem Schicksal zu überlassen. Bis zum Sommer 1098 hatte sich die griechische Unterstützung für den Kreuzzug also als im besten Falle halbherzig erwiesen.

Was Kaiser Alexios betraf, waren ihm andere Angelegenheiten viel wichtiger. So war seine eigene Position in Konstantinopel gefährdet – erst zwei Jahre zuvor war ein Attentat auf ihn vereitelt worden, zu dem sich einige führende Männer am Kaiserhof verschworen hatten –, und die Unterstützung, die nun bei ihm eingetroffen war, unterschied sich ganz gehörig von dem, was er sich vorgestellt hatte. Die Kreuzfahrer hatten ihm bereits auf ihrem Marsch über den Balkan und bis vor die Tore von Konstantinopel genug Ärger bereitet, weshalb er ihnen in der Folge zutiefst misstraute. Das galt insbesondere für Bohemund von Tarent; ihn und die anderen Anführer des Kreuzfahrerheeres versuchte Alexios daher möglichst weitgehend zu kontrollieren.

Es scheint, dass er im Herbst 1096, Hugo von Vermandois war gerade als Geisel bei ihm „zu Gast“, auf eine geeignete Strategie verfiel: Er wollte die Anführer der Kreuzfahrer voneinander isolieren, um sich jedem von ihnen einzeln widmen zu können – Alexios’ Tochter Anna schrieb, dass ihr Vater einen Angriff auf Konstantinopel befürchtete, wenn sie sich zusammenschlössen – und verlangte von jedem der Anführer zwei Eide auf ihr friedliches Verhalten den Byzantinern gegenüber. Im Gegenzug zahlte er den Kreuzfahrern große Geldsummen, was jedoch nicht überbewertet werden sollte, da jene ja verpflichtet waren, sich auf den Märkten des Byzantinischen Reiches gegen Bezahlung mit Proviant einzudecken. Die Kreuzfahrer waren natürlich heilfroh, überhaupt etwas zu bekommen, und befanden sich in benachteiligter Verhandlungsposition, zumal es für sie nur eine einzige Alternative gab, sollten sie nicht auf die Forderungen des Kaisers eingehen, nämlich die Rückreise in ihre Heimat.

Der erste der erwähnten Eide enthielt das Versprechen, dem Byzantinischen Reich all jene von den Muslimen eroberten Gebiete zu überlassen, die sich einst unter byzantinischer Kontrolle befunden hatten. Dies verschaffte Alexios einen stichhaltigen Anspruch auf weite Teile der zur Eroberung in Frage kommenden Gegenden, hatten die Kreuzfahrer doch offenkundig nicht die Absicht, in Gebiete vorzudringen, die noch niemals in christlicher Hand gewesen waren. Der zweite war ein Huldigungs- und Gefolgschaftseid, der einigen westlichen Abhängigkeitsverträgen ähnelte, deren Annahme nicht durch die Gewährung eines Lehens vergolten wurde. Diese Treueverpflichtung gewährte Alexios ein – freilich begrenztes – Maß an Einfluss und Kontrolle.

Die Reaktionen der Kreuzfahrer auf die in diesen Eiden formulierten Forderungen des Kaisers waren verschieden. Der normannische Herzog Robert, Robert von Flandern, Stephan von Blois und – so weit wir wissen – Hugo von Vermandois erhoben keine oder keine gravierenden Einwände. Gottfried von Bouillon und Raimund von Toulouse jedoch protestierten und im Gegensatz zu Bohemund von Tarent auch dessen Stellvertreter und Neffe Tankred – und enthüllten so vielleicht, was Bohemund wirklich dachte. Man hat vermutet, es sei kein Zufall gewesen, dass die Spaltung der Kreuzzugsführung, die sich in Konstantinopel abzeichnete, für den Rest des Feldzuges anhielt und dass es später die Verweigerer des Eides waren, die sich in Palästina ansiedelten; allerdings war es zu dem betreffenden Zeitpunkt alles andere als klar, wer von den Kreuzfahrern sich einmal in der Levante niederlassen würde, und daher ist es sinnvoller, die individuelle Lage der einzelnen Anführer der Reihe nach zu betrachten.

Hugo von Vermandois war, als ihm die Eide abverlangt wurden, mehr oder weniger ein Gefangener des Kaisers Alexios. Außerdem war er praktisch auf sich allein gestellt. Was Gottfried von Bouillon anbelangt, so wurde bereits darauf hingewiesen, dass er 1096 mit dem festen Vorsatz aufgebrochen war, eines Tages nach Europa zurückzukehren – jedenfalls, sofern ihm der Osten nicht etwas Besseres bieten konnte. Daher ist es unwahrscheinlich, dass er sich durch die Eide in seinen zukünftigen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt sah. Vielmehr war er misstrauisch geworden: Konnte es nicht vielleicht sein, dass man Hugo von Vermandois das Einverständnis abgepresst hatte – womöglich unter Folter? Daher war Gottfried nicht gewillt, irgendwelche weiteren Schritte zu unternehmen, solange er sich nicht mit den anderen Heerführern – deren Ankunft täglich erwartet wurde – beraten hatte. Kaiser Alexios setzte ihn unter Druck, indem er die Versorgung Gottfrieds und seiner Männer einstellte. Gottfried erwiderte diesen Angriff auf das Wohlergehen seiner Truppe, indem er seinem Bruder Balduin erlaubte, mit seinen Männern die Vorstädte von Konstantinopel zu plündern. Daraufh in stellten die Griechen die Versorgung wieder her.

Es folgten drei Monate relativer Ruhe, bis Alexios, der Nachricht von der bevorstehenden Ankunft weiterer westlicher Kontingente erhalten hatte, die Lebensmittelversorgung der Kreuzfahrer wiederum unterbrach. Und wieder antworteten diese mit Gewalt, dem einzigen Mittel, das ihnen zur Verfügung stand. Dies gipfelte in einem großangelegten Angriff am Gründonnerstag, der von den Griechen jedoch zurückgeschlagen wurde. Gottfried von Bouillon muss in dieser verzweifelten Lage klar geworden sein, dass Gewalt ihm und seinen Leuten nicht die nötige Verproviantierung einbringen würde, und so legten er und seine vornehmsten Gefolgsleute die von Alexios eingeforderten Eide ab. Unverzüglich wurden Gottfrieds Truppen auf die andere Seite des Bosporus gebracht, wo sie keinen weiteren Schaden anrichten konnten.

Als Bohemund von Tarent in Konstantinopel ankam, hatte Alexios also bereits Hugo von Vermandois und Gottfried von Bouillon dazu gebracht, ihm die geforderten Eide zu leisten. Bohemund konnte daher nicht rundweg ablehnen, es seinen Waffenbrüdern gleichzutun, obwohl es seinem Neffen Tankred gelang, sich durch Konstantinopel zu stehlen, ohne der Forderung des Kaisers nachzukommen. Bohemund war in einer verzwickten Lage, und sein Gefolge war vergleichsweise klein. Wenn die überlieferte Behauptung der Wahrheit entspricht, er habe sich erfolglos um den Posten des megas domestikos, des Oberbefehlshabers der byzantinischen Armee, beworben, dann war dies, von seiner Warte aus betrachtet, ein verständlicher Schachzug, hätte er doch auf diese Weise eine angemessene militärische Unterstützung des Kreuzzuges durch die Griechen sicherstellen können.

Raimund von Toulouse hatte möglicherweise geschworen, nie wieder in seine Heimat zurückzukehren. Daher ist es gut möglich, dass er auf ein eigenes Fürstentum im Osten gehofft hat. Allerdings war ihm eher der Huldigungs- und Gefolgschaftseid ein Dorn im Auge, nicht so sehr das Versprechen, den Byzantinern Gebiete zurückzuerstatten. Anscheinend war Raimund der Ansicht, ein solcher Eid auf den byzantinischen Kaiser wäre mit seinem Kreuzzugsgelübde, auf seiner Reise Gott allein zu dienen, nicht zu vereinbaren. Das irritierte seine Gefährten stark, und sie bemühten sich, ihn umzustimmen – aber vergebens: Raimund weigerte sich. Schließlich ging er doch einen Kompromiss ein, indem er einen eingeschränkten Eid schwor und versprach, dass er des Kaisers Leben und Ehre achten und schützen werde; ähnliche Schwurformeln sind aus seiner südfranzösischen Heimat überliefert.

Von der Reaktion Roberts von Flandern wissen wir nichts, aber zu der Zeit, als Herzog Robert von der Normandie und Stephan von Blois in Konstantinopel eintrafen, hatten die geschilderten Präzedenzfälle zur Folge, dass die Neuankömmlinge sich diesen eigentlich nur anschließen konnten, ob sie nun wollten oder nicht. Vom April 1097 an wurden die westlichen Truppenkontingente nach und nach über den Bosporus gesetzt; Anfang Juni schlossen sie sich vor Nicäa, der ersten bedeutenden Stadt Kleinasiens in türkischer Hand, zu einem großen Kreuzfahrerheer zusammen.

Die Ereignisse von Konstantinopel ließen die Anführer des Kreuzzuges frustriert und desillusioniert zurück. Nach einem langen und kräftezehrenden Marsch waren sie dort angekommen, ohne Vorräte und in Unsicherheit über die zukünftige Rolle der Griechen. Alexios zögerte, die Bürde des Oberbefehls auf sich zu nehmen. Eigentlich ging es ihm wohl ausschließlich um die Restitution ehemals byzantinischer Territorien – was, wie man fairerweise sagen muss, von Anfang an seine erklärte Priorität gewesen war –, und er wirkte entschlossen, jedes ihm zur Verfügung stehende Mittel einzusetzen – von freigebigen Geschenken bis zur Verweigerung der Proviantierung –, um die einzelnen Heerführer zum Treueschwur zu zwingen, bevor ihre Mitstreiter eintrafen. Und obwohl Alexios ihnen allen große Geldgeschenke machte, sollten diese doch nur zum Provianterwerb auf byzantinischen Märkten eingesetzt werden. Kein Wunder, dass von jener Zeit an die meisten Kreuzfahrer der kaiserlich-byzantinischen Regierung misstrauisch bis feindselig gegenüberstanden.

Obwohl die meisten seiner Einwohner noch immer dem christlichen Glauben anhingen, war Nicäa doch schon seit einiger Zeit die Hauptresidenz von Kilidsch Arslan, dem Sultan der Rumseldschuken und mächtigsten türkischen Herrscher von ganz Anatolien. Die Einnahme der Stadt war absolut unerlässlich, wollten die Kreuzfahrer entlang der alten römischen Militärstraße nach Osten weitermarschieren. Nicäa war von den Griechen umfassend befestigt worden und beherbergte nun eine stattliche türkische Garnison. Doch Kilidsch Arslan selbst war mit dem Großteil seiner Truppen auf einem Feldzug unterwegs, um seinem Hauptrivalen, einem Emir namens Danischmend Ghazi, die Gegend um Malatya in Ostanatolien streitig zu machen. Noch bevor die ersten seldschukischen Truppen zur Verteidigung ihrer Hauptstadt zurückeilen konnten, gelang es dem Kreuzfahrerheer, Nicäa einzuschließen. Am 21. Mai versuchte Kilidsch Arslan vergeblich, mit dem Hauptteil seiner Streitmacht die Linien der Kreuzfahrer zu durchbrechen. Der Seldschukensultan zog sich zurück und überließ die Stadt, seine Ehefrau, seine Familie und einen Großteil seines Vermögens dem Schicksal. Erst als griechische Schiffe auf dem Askania-See (heute Iznik Gölü), an dessen Ostufer Nicäa lag, zu Wasser gelassen worden waren, war die Stadt eingeschlossen. Der Befehlshaber der seldschukischen Garnison nahm Verhandlungen mit den Byzantinern auf, und am 19. Juni – dem Tag, der eigentlich für einen Generalangriff der Belagerer vorgesehen gewesen war – sahen die Kreuzfahrer die Banner des byzantinischen Kaisers auf den Türmen der Stadt. Alexios hatte jedwede Peinlichkeit vermieden, indem er dafür sorgte, dass Nicäa sich direkt ihm ergab; dennoch nutzte er die Gelegenheit, auch von jenen Anführern der Kreuzfahrer die von ihm verlangten Eide zu erhalten, die sich – wie etwa Tankred – bislang vor diesem Schwur gedrückt hatten.

Die Kreuzfahrer müssen zu jenem Zeitpunkt bereits die überaus mutige Entscheidung getroffen haben, auf eigene Faust weiter in das Landesinnere vorzustoßen, ohne nennenswerte militärische oder logistische Unterstützung, bis sie Syrien erreichten. Zwischen dem 26. und dem 28. Juni machten sie sich in zwei großen Marschverbänden auf den Weg durch Kleinasien. Die erste Abteilung stand unter dem Befehl Bohemunds von Tarent und setzte sich aus den italienischen und französischen Normannen, einigen Griechen sowie den Gefolgsleuten Roberts von Flandern und Stephans von Blois zusammen. Die zweite Abteilung wurde von Raimund von Toulouse befehligt; zu ihr gehörten die Kreuzfahrer aus Südfrankreich und Lothringen sowie die Männer Hugos von Vermandois. Unterwegs müssen die beiden Gruppen den Kontakt verloren haben – die Gründe sind heute genauso unklar wie damals, als noch ein Jahrzehnt später in Syrien darüber diskutiert wurde.

Im Morgengrauen des 1. Juli 1097 überfielen die Truppen Kilidsch Arslans das Kreuzfahrerheer, das sie gemeinsam mit Einheiten anderer türkischer Heerführer im Schutz der Nacht umzingelt hatten. Durch die doppelte Wucht von Angriff und Überraschungseffekt wurden die Kreuzritter gegen die Masse der sie begleitenden, bewaffneten wie unbewaffneten Pilger zurückgeworfen. Dieser wirre Haufen entsetzter Männer konnte zwar nicht zu einem geordneten Gegenangriff ansetzen, aber er konnte sich recht effektiv verteidigen. So kam es, dass die Schlacht für einige Stunden unentschieden blieb, bis die zweite Marschabteilung des Kreuzfahrerheeres eintraf – wegen der großen Eile in einzelnen Trupps, die nach Kräften versuchten, Bohemunds Männern Hilfe zu bringen, und denen es schließlich auch gelang, die nun ihrerseits überraschten Türken in die Flucht zu schlagen.

Danach rasteten die Kreuzfahrer zwei Tage lang. Dann nahmen sie ihren Marsch wieder auf und rückten über Akşehir und Konya durch eine Gegend vor, die bereits durch frühere türkische Einfälle verwüstet worden war, von der auf byzantinischer Seite verfolgten Strategie der verbrannten Erde ganz zu schweigen. Auf ihrem Marsch von 105 Tagen (inklusive 15 Rasttagen) brachten sie es im Mittel auf etwa acht Meilen am Tag – kein schlechter Schnitt, wenn man bedenkt, wie viele Unbewaffnete mit ihnen unterwegs waren. Bei Herakleia Kybistra (heute Ereğli in der Provinz Konya) schlugen sie etwa am 10. September eine feindliche Streitmacht, die ihnen den Weg versperrte, in die Flucht. Tankred und Balduin von Boulogne setzten sich mit ihren Truppen ab, um auf dem Marsch durch Kilikien zu plündern, wobei sie sich einer Reihe armenischer Kleinfürstentümer bedienten, deren Herrscher sich hier, weitab von ihrem angestammten Heimatland, aus dem Chaos der vergangenen Jahrzehnte heraus eine Existenz aufgebaut hatten. Tankred und Balduin arbeiteten zwar nicht zusammen, aber ihr von Streitereien geprägter Vormarsch wurde von der armenischen Bevölkerung begrüßt. Im Nu nahmen sie Tarsus, Adana, Misis (das heutige Yakapınar) und Alexandretta (Iskenderun) ein und stießen dann wieder zum Hauptheer. Unmittelbar darauf brach Balduin jedoch mit einer kleinen Streitmacht wieder auf und zog – geleitet von einem armenischen Berater, der sich ihm angeschlossen hatte – entlang der Kette armenischer Fürstentümer in Richtung Osten. Mit der Unterstützung ortsansässiger Armenier nahm er zwei Festungen ein, Ravanda und Tilbeşar, und wurde daraufhin von Thoros, dem Fürsten von Edessa (Urfa) eingeladen, sein Adoptivsohn und Mitregent zu werden. Thoros hatte sich nämlich erst vor Kurzem als Herrscher von Edessa etabliert; seine Machtposition war alles andere als gesichert. Am 6. Februar 1098 erreichte Balduin Edessa, doch einen Monat später brach in der Stadt – womöglich mit Balduins heimlichem Einverständnis – ein Aufstand der Armenier los. Am 9. März wurde Thoros von einer wütenden Menschenmenge getötet, als er gerade fliehen wollte; tags darauf übernahm Balduin von Boulogne die Regierungsgeschäfte. So errichtete er die erste lateinische Herrschaft im Osten, die sich auf Edessa, die Festungen Ravanda und Tilbeşar sowie – einige Monate später – auf Birtha (Birecik), Sürüc und Samosata (Samsat) erstreckte.

Diese Gegend war wohlhabend, und ab dem Herbst des Jahres 1098 bezogen die Kreuzfahrer in Antiochia von hier große Mengen an Geld und Pferden. Balduin überließ seinem Bruder Gottfried von Bouillon die Burg und die Ländereien von Tilbeşar. Noch in den späteren Phasen des Kreuzzuges war Gottfrieds auf diese Weise gewonnener (relativer) Reichtum offenkundig. Es war nämlich dieses Vermögen, das es Gottfried gestattete, die Zahl seiner Gefolgsleute zu erhöhen – vor allem auf Kosten Raimunds von Toulouse –, und dieser Umstand wiederum könnte zu seiner Wahl als Herrscher von Jerusalem entscheidend beigetragen haben. Wie wir noch sehen werden, trug Balduin in Edessa noch auf andere Weise zur Unterstützung des Kreuzzuges bei, und das in einem entscheidenden Moment. Vorderhand erscheint jedoch Folgendes bemerkenswert: Obwohl sich die Griechen erst später bitter darüber beklagten, dass die Kreuzfahrer ihre Eide brächen, indem sie sich weigerten, Antiochia an das Byzantinische Reich zurückzugeben, gab es auch in diesem Fall keinerlei Anstalten, Tarsus, Adana, Misis, Alexandretta, Ravanda, Tilbeşar oder Edessa zurückzugeben – die früher alle einmal unter byzantinischer Herrschaft gestanden hatten –, ja es wurde noch nicht einmal die byzantinische Lehnshoheit anerkannt. Allerdings waren die Griechen ja auch weit, weit entfernt. Die einzige Abteilung der Griechen auf diesem Kreuzzug marschierte noch immer im Hauptheer mit. Als die Kreuzfahrer die Stadt Komana in Kappadokien erreichten und sie einem der Ritter aus ihrem Heer überließen, scheinen sie sich noch an ihre Eide erinnert zu haben: Der bei dieser Gelegenheit geleistete Schwur verpflichtete den Ritter, über Komana „in Treue zu Gott und dem Heiligen Grab und den Herren [des Kreuzzuges] und dem [byzantinischen] Kaiser“ zu herrschen – aber Komana war weit entfernt von Edessa, und die offenkundige Weigerung Tankreds und Balduins, eine byzantinische Oberhoheit auch nur in Betracht zu ziehen, war ein Fingerzeig auf die Zukunft.

Den Anführern des Hauptheeres muss indessen klar gewesen sein, dass ein Marsch durch die „Kilikische Pforte“, den wichtigsten Pass durch das Taurusgebirge, und insbesondere durch die „Syrische Pforte“, den Belen-Pass über das Amanusgebirge nördlich von Antiochia, kaum möglich sein würde, wenn diese beiden Engstellen adäquat verteidigt wurden. Sie marschierten deshalb lieber die zusätzlichen 280 Kilometer in nördlicher Richtung nach Kayseri (dem antiken Caesarea) und dann, nach Südosten gewendet, über Komana und Koksen (Göksun) nach Maraş (Kahramanmaraş), wodurch sie das Amanusgebirge zum größten Teil umgingen. So gelangten sie schließlich auf die offene Ebene nördlich von Antiochia, das sie am 21. Oktober erreichten. Noch nagten sie nicht am Hungertuch; außerdem brachte eine genuesische Flotte, die Europa am 15. Juli verlassen hatte, frische Vorräte, als sie am 17. November im Antiochener Hafen von St. Simeon (dem heutigen Samandağ) anlegte – eine logistisch-planerische Glanzleistung! Dennoch: Während des strapaziösen Marsches durch die Einöden Kleinasiens waren die Pferde und Lasttiere in der Sommerhitze gestorben wie die Fliegen. Das war vor allem für die Ritter ein großer Nachteil, die ihre Streitrösser benötigten, um ihre Aufgaben zu erfüllen und ihren Status aufrechtzuerhalten, und überdies Lasttiere, um ihr Gepäck zu transportieren. Nun mussten sie selbst mit anpacken und Lastsäcke voller Waffen und Rüstungsteile schleppen, was auf den engen Gebirgspfaden durch das Anti-Taurusgebirge zu Szenen voller Panik führte. Als die Kreuzfahrer in Antiochia ankamen, waren nur noch 1000 Pferde am Leben – das bedeutet, dass bereits zu diesem Zeitpunkt vier von fünf Rittern ohne Reittier dastanden. Bis zum Sommer darauf reduzierte sich die Pferdezahl noch einmal drastisch; nunmehr waren bloß 100 bis 200 Tiere übrig. Die meisten Ritter – selbst jene, die zu Hause mächtige Herren gewesen – waren nun gezwungen, zu Fuß zu kämpfen oder aber auf Esel und Maultiere auszuweichen. Selbst Gottfried von Bouillon und Robert von Flandern mussten sich vor der Schlacht von Antiochia im Juni 1098 Pferde geradezu erbetteln.

Die zweite Welle: Die Belagerung von Antiochia und ihre Folgen

Eine Streitmacht von vielleicht 30.000 Männern und Frauen begann nun eine Belagerung, die bis zum 3. Juni 1098 dauern sollte. Zwischen dem Berg Silpius und dem Fluss Orontes gelegen, konnte Antiochia, dessen Zitadelle auf dem Berggipfel gut 300 Meter über der Stadt gelegen war, niemals vollständig eingeschlossen werden. Die Kreuzfahrer errichteten Lager und Kastelle jenseits des Flusses sowie vor den Nord- und Südtoren der Stadt. Jedoch können diese nur spärlich besetzt gewesen sein, da ein Großteil des Kreuzfahrerheeres mit der Nahrungsbeschaffung beschäftigt gewesen sein dürfte. Nachdem sie ohne jeglichen Versorgungsplan in Asien einmarschiert waren – zweifellos wäre es auch unmöglich gewesen, einen solchen aufzustellen –, waren sie nun ganz auf das angewiesen, was sie selbst an Lebensmitteln auftreiben konnten, so dass nach kurzer Zeit die nähere Umgebung Antiochias ausgeplündert war. Infolgedessen sahen sich die Kreuzfahrer gezwungen, sich ihre Vorräte in immer weiterer Entfernung zu suchen, wobei sie bisweilen bis zu 80 Kilometer zurücklegten und Proviantsammelstellen in großer Entfernung von Antiochia anlegten: nordwärts in Richtung Kilikien; im Nordosten gen Edessa; in östlicher Richtung nach Yenişehir und Harim; im Süden bis nach Latakia (dem antiken Laodicea). Wer sich mit den Quellentexten zur Belagerung von Antiochia auseinandersetzt, gewinnt weniger den Eindruck eines Kriegsgeschehens als den einer ständigen Nahrungssuche. Durch Nahrungsmangel und Krankheiten kam es bald zu Hungersnöten, Epidemien und zahlreichen Toten. Anscheinend waren viele Kreuzfahrer chronisch krank. Auch die Verarmung nahm zu: Viele edle Herren, die in der Heimat großes Ansehen genossen hatten, mussten sich nun, da sie sich allein nicht mehr finanzieren konnten, in die Dienste der großen Fürsten begeben. Diese Anführer wiederum gerieten unter großen Druck, denn sie mussten nun für einen ständig schwankenden Kreis von Abhängigen sorgen, der mit den Nahrungsvorräten wuchs und auch wieder schrumpfte. Bereits im Januar 1098 drohte Bohemund von Tarent, seine Teilnahme an der Belagerung zu beenden, da er sie sich nicht länger leisten könne. Im folgenden Sommer befanden sich auch Gottfried von Bouillon und Robert von Flandern zeitweilig in Not. Unter diesen aufreibenden Umständen überrascht es nicht, dass Heimweh und Zukunftsängste im Kreuzfahrerlager um sich griffen und zu Panikausbrüchen und Fahnenflucht führten.

Die Belagerung von Antiochia dauerte siebeneinhalb Monate. Vor allem während des Winters litten die Kreuzfahrer ganz erbärmlich. Ende Dezember 1097 und Anfang Februar 1098 gelang es ihnen, Angriffe muslimischer Entsatztruppen abzuwehren – im zweiten Fall verbunden mit einem Ausfall der Garnison von Antiochia. Im Mai 1098 jedoch verließ eine dritte, sehr große Streitmacht, die um Kontingente aus dem Irak und aus Iran verstärkt worden war, unter dem Kommando ihres Anführers Kerboga die Stadt Mossul. Dieses Heer verbrachte unterwegs drei fruchtlose Wochen mit einer Belagerung von Edessa – das war der zweite Fall, in dem Balduins Initiative für das Überleben des Kreuzzuges von erheblicher Bedeutung war. Anschließend zogen Kerbogas Männer weiter, sammelten unterwegs noch weitere Truppen aus Aleppo ein und erreichten am 5. Juni das Gebiet von Antiochia. Zu dieser Zeit hatte sich die Lage für die Kreuzfahrer entscheidend verändert. Bohemund, dessen Ambition, Antiochia selbst zu besitzen, sich bereits deutlich äußerte, war in Verhandlungen mit einem Hauptmann der Antiochener Garnison eingetreten, vermutlich einem fahnenflüchtigen Armenier, der versprochen hatte, die Stadt an Bohemund auszuliefern. Dieser überzeugte alle seine Mitstreiter, mit Ausnahme Raimunds von Toulouse, ihm die Stadt zu versprechen, sofern seine Truppen sie als erste betreten würden und der Kaiser nie persönlich käme, um sie für sich zu beanspruchen. Sodann enthüllte er das Komplott zur Einnahme der Stadt, und sie versprachen ihm ihre Unterstützung. Kurz vor Sonnenuntergang am 2. Juni unternahmen die Kreuzfahrer ein sorgfältig vorbereitetes Ablenkungsmanöver, nur um nach Einbruch der Dunkelheit wieder in ihre Stellungen zurückzukehren. Im Morgengrauen des 3. Juni erklommen sechzig Ritter aus Bohemunds Gefolge die Stadtmauern auf halber Höhe des Berges Silpius beim „Turm der Zwei Schwestern“ und stürmten sodann den Hang hinunter, um das St.-Georgs-Tor der Stadt zu öffnen. Darauf hatten ihre Waffenbrüder nur gewartet und strömten in die Stadt. Bis zum Abend war Antiochia in der Hand der Kreuzfahrer, wiewohl die Zitadelle weiter Widerstand leistete. Der muslimische Stadtkommandant, der die Flucht ergriffen hatte, fiel unterwegs von seinem Pferd und wurde von einer Gruppe armenischer Bauern enthauptet.

Die Kreuzfahrer waren nun im Besitz einer Stadt, die gerade eine lange Belagerung überstanden hatte. Beinahe unverzüglich sahen sie sich jedoch selbst belagert, denn Kerbogas Heer näherte sich und schlug sein Lager jenseits des Flusses auf. Kerboga stand in Kontakt mit der Besatzung der Zitadelle, die am 9. Juni einen Ausfall unternahm. Ein Ausfallversuch der Kreuzfahrer scheiterte am 10. Juni, und in der Nacht erreichte ihre Kampfmoral den Tiefpunkt. Die Zahl der gelungenen und versuchten Desertionen stieg derart rapide an, dass die Anführer des Kreuzfahrerheeres eine Massenflucht befürchteten und die Stadttore verriegeln ließen. Diejenigen, die entkommen konnten, schlossen sich Stephan von Blois an, der zwar erst kurz zuvor zum Oberkommandierenden des Kreuzfahrerheeres gewählt worden war, sich jedoch kurz vor der Eroberung von Antiochia nach Alexandretta zurückgezogen hatte, vermutlich wegen gesundheitlicher Probleme. Nun ergriff ihn die Panik – und er selbst ergriff die Flucht. Nachdem er das kaiserlich-byzantinische Hauptquartier in Akşehir erreicht hatte, überzeugten Stephan und seine Begleiter Kaiser Alexios von der Aussichtslosigkeit der Lage in Antiochia, woraufhin Alexios, der einen türkischen Gegenangriff in Anatolien fürchtete, mit seinen Truppen wieder nach Norden aufbrach, zurück in das sichere Konstantinopel.

Innerhalb der Mauern von Antiochia jedoch begann die Truppenmoral sich langsam zu heben. Zwei „Seher“ waren an die Anführer des Kreuzzuges herangetreten. Einer der beiden behauptete, Christus sei ihm in der Nacht des 10. Juni erschienen und habe ihm versichert, dass die Kreuzfahrer letztlich siegen würden – vorausgesetzt, sie täten Buße für ihre Sünden. Dem anderen Mann hatte mittels mehrerer Visionen der heilige Andreas das Versteck der Heiligen Lanze gezeigt, mit deren Spitze Jesu Seite durchbohrt worden war, als dieser am Kreuz hing. Am 14. Juni wurde die besagte Reliquie auf dem Grund eines Grabens „entdeckt“, der in der neu geweihten Kathedrale von Antiochia gegraben worden war. Die Anführer des Kreuzzuges, unter ihnen der päpstliche Legat, waren zwar skeptisch – aber die einfacheren Kreuzritter schöpften neuen Mut. Um die Krise zu überwinden, in der sie sich befanden, suchten die Heerführer schließlich den Kampf. Pro forma wurde eine letzte Gesandtschaft zu Kerboga geschickt, um mit diesem zu verhandeln; dann stürmten am 28. Juni die Kreuzfahrer unter Bohemunds Kommando aus der Stadt. Sie hatten sich in vier Abteilungen aufgeteilt, die jeweils aus Truppen zu Pferde und zu Fuß bestanden, wenn auch die Anzahl der Ritter wegen des Pferdemangels nur sehr klein gewesen sein kann. Nacheinander führten drei der Abteilungen ein kompliziertes Manöver aus, durch welches sie aus der Kolonne in eine Linienformation umschwenkten, so dass sie schließlich Seite an Seite vorrückten, wobei die Infanterie voranging und die wenigen beteiligten Ritter deckte, während die Flanken des Kreuzfahrerheeres auf der einen Seite durch den Orontes, auf der anderen aber durch höher gelegenes Terrain gedeckt waren. Die vierte Abteilung, die von Bohemund selbst angeführt wurde, ging in Reservestellung. Die Kreuzfahrer griffen gestaffelt an, vermutlich in Schrittgeschwindigkeit, und Kerbogas Truppen flohen, woraufhin sich auch die Zitadelle von Antiochia Bohemund ergab. Dieser außergewöhnliche Sieg ist niemals ganz erklärt worden. Es könnte allerdings sein, dass Kerboga – der die Kreuzfahrer niemals hätte aus einem einzigen Tor herauskommen, über eine Brücke marschieren und sich formieren lassen dürfen, bevor er sie schließlich stellte – seine Männer nicht davon abhalten konnte, sich nach und nach ungeordnet in den Nahkampf ziehen zu lassen. Die Kreuzfahrer selbst erklärten ihren Sieg mit dem Auftreten einer himmlischen Armee von Engeln, Heiligen und den Seelen bereits zuvor getöteter Kameraden, die auf ihrer Seite in den Kampf eingegriffen habe.

Tatsächlich war die Schlacht von Antiochia der Wendepunkt des gesamten Kreuzzuges, auch wenn das zum damaligen Zeitpunkt noch nicht klar sein konnte. Vernünftigerweise beschlossen die Kreuzfahrer nun, das Abklingen der Sommerhitze abzuwarten und erst am 1. November weiterzumarschieren. Zuvor brach jedoch eine Epidemie in der Stadt aus – vermutlich Typhus –, der auch Adhémar von Monteil, der Bischof von Le Puy, erlag. Die anderen Anführer wurden von der Seuche auf ihre jeweiligen Proviantsammelstellen zerstreut. Als sie im September wieder nach Antiochia zurückkehrten, gab es erste Anzeichen von Uneinigkeit in zwei bestimmten Fragen; im November wurde der Streit um diese beiden Punkte akut.

Der erste betraf den rechtmäßigen Besitz der Stadt Antiochia, den Bohemund für sich beanspruchte. Raimund von Toulouse, der noch immer Teile der Stadt hielt, darunter den Palast des Statthalters und eine befestigte Brücke, die über den Orontes zum Hafen führte, verwies auf die Eide, die man dem byzantinischen Kaiser geleistet habe. Nun mag es sein, dass er Antiochia für sich haben wollte und in einer offiziellen kaiserlichen Schenkung die einzige Möglichkeit sah, zu diesem Ziel zu gelangen. Niemand konnte jedoch ernsthaft bestreiten, dass diese Eide geleistet worden waren und man dem Kaiser Gefolgschaft gelobt hatte. Nicht zuletzt hatten die Anführer des Kreuzzuges ja vor der Einnahme der Stadt vereinbart, dass Antiochia an Alexios fallen sollte, sofern der Kaiser persönlich in die Stadt kommen und sie in Besitz nehmen würde. Zu diesem Zweck brach nach der Schlacht von Antiochia eine prominent besetzte Gesandtschaft nach Konstantinopel auf, um Alexios nach Antiochia einzuladen, wo er die zurückeroberte Stadt in Empfang nehmen und die Führung des Kreuzzuges übernehmen sollte. Angeführt wurde diese Gesandtschaft von Hugo von Vermandois und Graf Balduin II. von Hennegau. Die Antwort des Kaisers erreichte die Kreuzfahrer erst im April des folgenden Jahres, als sie bereits ein gutes Stück weiter nach Süden vorgerückt waren. Alexios versprach, im Juni zu ihnen zu stoßen und bat sie, bis zu seinem Eintreffen auf ihn zu warten. Der Kaiser verlangte die unverzügliche Übergabe Antiochias, und seine Boten beschwerten sich bitterlich über Bohemunds eidbrecherische Aneignung der Stadt. Bohemunds Anhänger hingegen argumentierten folgendermaßen: Der byzantinische Kaiser habe den Kreuzfahrern stets gleichgültig, ja sogar feindselig gegenübergestanden. Er sei ihnen kein guter Schutzherr gewesen, und das trotz ihrer Eide, die ja ohnehin unter Zwang geleistet worden seien. Außerdem hätten die Abberufung des Tatikios, der die Kreuzfahrer, ihrer Ansicht nach, einfach im Stich gelassen hatte, und der Rückzug von Alexios’ Heer aus Akşehir, gerade als sich das Kreuzfahrerheer in höchster Not befunden habe, gezeigt, dass die Griechen keinerlei Interesse daran hatten, ihre Seite der Vereinbarung einzuhalten. Auch die große Verzögerung, mit der Alexios auf die Nachricht der Kreuzfahrergesandtschaft geantwortet hatte, lasse erkennen, dass das Byzantinische Reich militärisch unvorbereitet sei.

Diese Argumentation mag weit hergeholt erscheinen, doch waren die Kreuzfahrer tatsächlich von den Griechen im Stich gelassen worden und benötigten dringend Unterstützung. Ihnen war bewusst – ja sie waren sogar regelrecht besessen von der Tatsache –, dass in Europa eine große Anzahl von Kreuzfahrern zwar das Kreuzzugsgelübde abgelegt hatten, jedoch nie losgereist waren. Die Existenz dieses Menschenpotenzials ließ sie nicht ruhen, und schließlich exkommunizierten die Bischöfe, die den Kreuzzug begleiteten, all jene, die ihre Kreuzzugsgelübde nicht eingelöst hatten, und legten ihren Amtsbrüdern in Europa nahe, dasselbe zu tun. Zugleich stießen aber tatsächlich einige neue Teilnehmer zum Kreuzfahrerheer. Die meisten dieser Neuankömmlinge reisten auf dem Landweg nach Syrien, und die Kreuzfahrer erwarteten, dass ihnen auf dieser Route noch viele weitere folgen würden – wie es ja dann im Rahmen des Kreuzzuges von 1101 tatsächlich geschah. Antiochia, das die Passstraßen von Kleinasien nach Syrien kontrollierte und die nördliche Küstenstraße gegen muslimische Überfälle aus dem Hinterland verteidigte, musste in vertrauenswürdige Hände gegeben werden. Kaiser Alexios hatte sich ja gerade als nicht vertrauenswürdig erwiesen; vielmehr schien es den Kreuzfahrern, als habe er sie auf geradezu zynische Weise für seine eigenen Zwecke ausgenutzt. In diesem Zusammenhang darf man außerdem nicht vergessen, dass Bohemund zwar in Antiochia zurückblieb und sein Kreuzzugsgelübde in Jerusalem erst fünf Monate nach dessen Eroberung einlöste, dass er jedoch für dieses Säumnis in Europa niemals kritisiert wurde – ganz im Gegenteil: Sein Besuch in Frankreich im Jahr 1106 verlief geradezu triumphal.

Der zweite Streitpunkt war das Datum, an dem der Marsch nach Jerusalem fortgesetzt werden sollte. Um auf eine Entscheidung in dieser Sache zu drängen, zwangen die einfacheren Kreuzfahrer die Fürsten, einer Belagerung der gut 100 Kilometer südlich von Antiochia gelegenen Stadt Maʿarat an-Numan zuzustimmen. Diese fiel am 11./12. Dezember 1098, aber die Anführer konnten sich selbst im Januar 1099 noch immer nicht zu einer Entscheidung durchringen.

Adlige Hofhaltung auf Kreuzzügen

Dieser Gegenstand hat bislang noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die er verdient. Die schematische Darstellung eines jeden Kreuzzuges würde Kreise der Abhängigkeit zeigen, in deren Mitte sich die großen Herren befänden. Jeder von ihnen hatte eine Hofh altung (maisnie), die sich aus den Rittern des jeweiligen Hauses, Geistlichen und Dienern zusammensetzte. Diese Gruppe war vergleichsweise klein. In einer Urkunde des Grafen Ludwig von Blois, einer führenden Persönlichkeit des Vierten Kreuzzuges, sind fünf Ritter genannt, von denen zwei in Begleitung ihrer eigenen Sergeanten reisten, dazu zwei Geistliche, deren einer als Kanzler des Grafen fungierte. Wir wissen zwar nicht, ob einige von Ludwigs Rittern gerade nicht anwesend waren, als das Dokument aufgesetzt wurde, und auch von seiner Dienerschaft ist keine Rede; aber der Eindruck von seiner maisnie deckt sich in etwa mit jener, die Odo von Burgund, Graf von Nevers und Herr von Bourbon, sechzig Jahre später in Palästina bei sich hatte: vier Ritter und drei Geistliche, dazu sieben Knappen, neun Sergeanten, zweiunddreißig Diener, fünf Armbrustschützen und vier Turkopolen (einheimische leichte Kavalleristen). Das Ansehen eines hochadligen Herrn hing jedoch von einem weiter gefassten Kreis von Personen ab, die sich ihm aus einer Vielzahl von Gründen angeschlossen haben konnten. Eng mit ihm verbunden, aber doch außerhalb des inneren Kreises der maisnie waren seine Blutsverwandten und Vasallen (von denen viele eigene Haushalte hatten). Noch ein Stückchen weiter entfernt, aber immer noch Bestandteil des Gefolges konnten unabhängige Kreuzfahrer sein, die sich irgendjemandem anschlossen, solange er sie nur zu versorgen vermochte, und deren Loyalitäten durchaus wechselhaft waren, wenn sie aus irgendeinem Grund unzufrieden wurden.

Ein Hauptgrund für die Lähmung des Kreuzzuges bestand darin, dass er keine wirkliche Führung hatte. Bei gleich vier verschiedenen Gelegenheiten versuchten die Kreuzfahrer, einen Oberbefehlshaber für ihr Heer zu bestimmen: Alexios hatte das Ansinnen bereits im Frühjahr 1097 abgelehnt. Die Gesandtschaft, die im Juli 1098 Antiochia verließ, bot ihm trotzdem nochmals den Oberbefehl an. Im Frühjahr 1098 wurde Stephan von Blois zum Anführer des Kreuzfahrerheeres bestimmt, doch er desertierte bald darauf. Im Januar 1099 erbot sich Raimund von Toulouse auf Drängen seiner Gefolgsleute, die endlich weiterziehen wollten, die anderen Anführer gegen große Geldsummen in seinen Dienst zu nehmen, doch die meisten von ihnen lehnten es ab, ihm zu dienen. Keiner der hochrangigen Kreuzfahrer war stark genug, die anderen zu dominieren. Es heißt immer, diese Männer hätten „Heere“ angeführt, aber nichts könnte falscher sein: Jeden von ihnen begleitete ein Gefolge, seine Hofhaltung, zu dem Verwandte und Abhängige gehörten, und jeder von ihnen begann, unter dem wachsenden Druck der Versorgungsengpässe für eine immer größer werdende Gruppe von Menschen Sorge zu tragen. Aber große Teile der eigentlichen Truppen, d.h. die kleineren Herren, von denen viele eigene kleine Verbände befehligten, und die Ritter waren unabhängig, und ihre Gefolgschaftsbindungen veränderten sich ständig, je nachdem, was die Umstände erforderten, welche Belohnung ihnen die großen Herren bieten konnten und welchen Umfang ihr eigenes kleines Gefolge gerade hatte. Der Kreuzzug war geprägt von permanenten Verschiebungen von Gefolgschaft und Loyalität, indem wie in einem Kaleidoskop die Anführer kleinerer Trupps mitsamt ihren Leuten von einem Dienstherrn zum anderen wechselten. Keiner der Großen verfügte über ein hinreichend stabiles Gefolge, um auf der Grundlage einer unangefochtenen Machtbasis die übrigen Heerführer zu dominieren. Dies hatte den Effekt, dass der Kreuzzug vor allem von Komitees und Ratsversammlungen gelenkt wurde. Jeder der Fürsten beriet sich mit seinen Vertrauten, auch gab es Vollversammlungen aller Angehörigen des Kreuzfahrerheeres, aber am einflussreichsten war die Ratsversammlung der Fürsten. Diese erwies sich als ein vergleichsweise effizientes Gremium, jedenfalls solange der päpstliche Legat Adhémar von Monteil, Bischof von Le Puy, noch am Leben war, denn er verfügte über die Persönlichkeit und die Autorität, den Rat zu dominieren und zu lenken. Sein Tod am 1. August 1098 beraubte den Kreuzzug seines einzigen objektiven und autoritativen Anführers, und die Komitees wurden handlungsunfähig.

Die Lähmung äußerte sich auch in nachlassender Disziplin. Eine bald um sich greifende Rechtlosigkeit bekamen insbesondere die Armen zu spüren, die unter den anarchischen Zuständen litten und befürchteten, bei einer noch längeren Verzögerung des Weitermarsches zu verhungern. Mitte November 1098 drohten sie gar, angesichts des ihnen nur mehr schwer erträglichen Zauderns der Kreuzzugsführung, ihren eigenen Anführer zu wählen. Sie zwangen Raimund von Toulouse und Robert von Flandern, sie nach Maʿarat an-Numan zu führen, und als Raimunds Anhänger um den 5. Januar 1099 herum erfuhren, dass die Besprechungen der Anführer äußerst schleppend verliefen, begannen sie, die Stadtmauer von Maʿarat einzureißen und Raimund somit seines Stützpunktes zu berauben. Dieser hatte keine andere Wahl, als den Marsch in Richtung Jerusalem am 13. Januar wieder aufzunehmen. Auch die einfachen Kreuzfahrer, die sich noch immer in Antiochia befanden, erhoben nun ihre Stimme, und so mussten sich Gottfried von Bouillon, Robert von Flandern und Bohemund ebenfalls dem öffentlichen Druck beugen. Am 2. Februar beriefen sie eine allgemeine Versammlung ein, die sich für einen Aufmarsch sämtlicher Truppen zum 1. März in Latakia aussprach. Von dort sollte dann der weitere Vormarsch erfolgen.

Die zweite Welle: Die Befreiung Jerusalems

Syrien war genauso unorganisiert und nicht auf den Kreuzzug vorbereitet wie zuvor Kleinasien. Folglich trafen die Kreuzfahrer bei ihrem Vormarsch auf wenig Widerstand. Die türkischen Herrscher von Aleppo und Damaskus waren miteinander verfeindet. Die arabischen Dynastien, die in Schaizar und Tripolis residierten, standen den Türken sogar noch feindseliger gegenüber als den Christen. Die Ägypter, die erst kurz zuvor die Kontrolle über Jerusalem zurückerlangt hatten, verlegten sich angesichts der aufziehenden Bedrohung auf diplomatisches Taktieren: Schon zu Beginn des Jahres 1098 verbrachte eine ägyptische Gesandtschaft mehrere Wochen im christlichen Heerlager von Antiochia und kehrte anschließend mit christlichen Abgesandten nach Kairo zurück, die dort ein Jahr lang festgehalten wurden. Im Frühjahr 1099 wurden diese Männer wieder freigelassen und begleiteten eine erneute ägyptische Mission zum Kreuzfahrerheer, das mittlerweile die 25 Kilometer von Tripolis entfernte Stadt ʿArqa belagerte. Raimund von Toulouse war dorthin über Kafartab, wo er Robert von der Normandie und Tankred getroffen hatte, und Rafaniya marschiert. Noch im Verlauf des Monats März stießen die anderen Anführer des Kreuzzuges zu ihm, mit Ausnahme Bohemunds, der zum Schutz von Antiochia zurückgeblieben war. Die Belagerung von ʿArqa nahm keinen guten Verlauf. Verständlicherweise frustrierte das die Kreuzfahrer, aber fast noch schwerer wog der Tod von Peter Bartholomäus, der die Heilige Lanze aufgefunden hatte. Peters Visionen waren mit der Zeit allerdings so exzentrisch geworden, dass er einen großen Teil des Heeres gegen sich aufgebracht hatte. Um seine Aufrichtigkeit unter Beweis zu stellen, erbot er sich, ein Gottesurteil in Form einer Feuerprobe auf sich zu nehmen, die er jedoch nicht überlebte. Das entscheidende Ereignis, das die Kreuzfahrer dazu brachte, die Belagerung von ʿArqa aufzuheben, war der Abbruch ihrer Unterhandlungen mit den Ägyptern. In Anbetracht der Tatsache, dass sich ihnen, falls sie ihren Vormarsch auf Jerusalem weiter verzögerten, bei der dortigen Belagerung vermutlich ein weiteres, äußerst kampfstarkes Entsatzheer in den Weg stellen würde und dass außerdem die bei ihrer Ankunft herrschende Erntezeit die allzeit schwierige Vorratsbeschaffung würde erleichtern können, brachen sie am 13. Mai in Richtung Süden auf.

Bisher – und seit der Belagerung von Nicäa waren ja bereits zwei Jahre vergangen – hatte das Kreuzfahrerheer sich nur langsam fortbewegt. Große Sorgfalt hatten sie darauf verwendet, einige der großen Festungen einzunehmen, die andernfalls womöglich die Kommunikation über Antiochia und Kleinasien nach Konstantinopel gefährdet hätten. Nun jedoch ließen sie alle Vorsicht fahren und entschlossen sich zu der waghalsigeren Strategie, die am Weg liegenden feindlichen Festungen zu umgehen und sich auf Jerusalem zu stürzen. Die Gangart ihres Vormarsches änderte sich also vom Schneckentempo zum Galopp: Nur sechs Tage nach ihrem Aufb ruch in ʿArqa überquerten sie den Hundefluss (Nahr al-Kalb) nördlich von Beirut, marschierten über die Küstenstadt Tyrus nach Süden, schwenkten nördlich von Jaffa in das Landesinnere und erreichten am 3. Juni die Stadt Ramla. Am 7. Juni 1099 standen sie vor Jerusalem. Tags zuvor war Bethlehem an Tankred gefallen, der sich unter Missachtung seines Gefolgschaftseides von Raimund von Toulouse losgesagt hatte, um sich und das ganze süditalienische Normannenheer in den Dienst Gottfrieds von Bouillon zu stellen.

Jerusalem war, wie zuvor schon Antiochia, viel zu groß, als dass man es von allen Seiten hätte einschließen können. Doch während Antiochia einer Belagerung von siebeneinhalb Monaten standgehalten hatte und nur durch Verrat in die Hände der Kreuzfahrer gefallen war, sollte Jerusalem bereits nach fünf Wochen im Sturm erobert werden. Die Angreifer konzentrierten anfangs ihre geballte Kraft auf die westliche Stadtmauer, verteilten sich dann jedoch auf die nördlichen Befestigungsanlagen, wo Herzog Robert von der Normandie, Robert von Flandern, Gottfried von Bouillon und Tankred Stellung bezogen, sowie auf den Berg Zion im Süden der Stadt, wo sich Raimund von Toulouse positionierte, der sich wegen der Treulosigkeit Tankreds erbittert mit Gottfried von Bouillon und wohl noch anderen Männern aus dessen Gefolge zerstritten hatte. Zu Beginn schien die Belagerung nicht recht zu gelingen, und das trotz der Ankunft englischer und genuesischer Schiffe in Jaffa sowie einer Expedition in das nordwärts gelegene Samaria, die Holz und anderes Material für den Bau zweier Belagerungstürme, eines Rammbocks sowie mehrerer Katapulte geliefert hatte. Zwischenzeitlich traf die Nachricht vom Anmarsch eines ägyptischen Heeres ein, auf das jedermann – nicht zuletzt die Garnison von Jerusalem – gewartet hatte.

Auf Anweisung „von ganz oben“ – wieder einmal hatte ein Seher seine Finger im Spiel – zog eine große Bußprozession der Kreuzfahrer außerhalb der Stadtmauern Jerusalems von Heiligtum zu Heiligtum und versammelte sich schließlich auf dem Ölberg, um Predigten zu hören. Den 14. Juni verbrachte man damit, den Verteidigungsgraben vor der südlichen Stadtmauer zuzuschütten, und gegen Abend konnte der Belagerungsturm Raimunds von Toulouse an sie herangeschoben werden. Am 15. Juni jedoch gelang es den Männern Gottfrieds von Bouillon als Ersten, die Lücke zwischen ihrem Belagerungsturm und der Jerusalemer Stadtmauer zu überbrücken. Sie hatten zuvor ihre Angriffsstellung in Richtung Osten verlegt, um ebenes Terrain zu gewinnen, und waren schließlich ein wenig östlich des heutigen Herodestores erfolgreich. Zwei Ritter aus Tournai überwanden als Erste die Mauer; ihnen folgten Lothringer. Schnell wurde das Rinnsal zu einem reißenden Strom, und Wellen von Kreuzfahrern ergossen sich über die Mauern und durch eine Bresche, die bald von dem Rammbock geschlagen war, in die Stadt hinein. Einige stürmten in Richtung Tempelbezirk, andere noch weiter, um am südwestlichen Stadtrand die Muslime, die sich noch tapfer gegen Raimunds Truppen verteidigten, in die Flucht zu schlagen. Jerusalem war zwar keine dichtbesiedelte Stadt gewesen, hatte in der jüngeren Vergangenheit jedoch eine Vielzahl von Flüchtlingen aus dem Umland aufgenommen. Nun wurde es geplündert. Die zeitgenössische muslimische Darstellung der Geschehnisse lässt zwar vermuten, dass es dabei nicht ganz so viele Tote gegeben hat, wie immer wieder angenommen worden ist; die Berichte christlicher Augenzeugen schwelgen geradezu in der Schilderung eines blutigen Massakers.

Am 22. Juli wurde Gottfried von Bouillon zum Herrscher von Jerusalem gewählt. Seine erste Aufgabe bestand darin, die Verteidigung der Stadt gegen einen ägyptischen Rückeroberungsversuch zu organisieren. Es war nicht ganz leicht, die anderen Anführer des Kreuzfahrerheeres davon zu überzeugen, sich und ihre Truppen gänzlich zu seiner Verfügung zu stellen, doch am Abend des 11. August war das gesamte christliche Heer bei Aschdod versammelt, wo die Herden erbeutet werden konnten, die die Ägypter zur Verpflegung ihrer Truppen herangebracht hatten. In der Morgendämmerung des folgenden Tages überraschten die Kreuzfahrer die Ägypter in deren Heerlager unmittelbar nördlich von Askalon (dem heutigen Aschkelon). Ein Angriff der europäischen Ritter, die sich in der Zwischenzeit anscheinend Ersatz für ihre verendeten Pferde beschafft hatten, schlug sie in die Flucht.

Hugo von Amboise

Hugo wurde um das Jahr 1080 als Erbe eines der drei Türme von Amboise geboren. Als Jugendlicher war er in einen Streit verwickelt, der sich aus seiner Überzeugung entwickelt hatte, sein Lehnsherr Graf Fulko IV. von Anjou wolle mit Unterstützung seines Onkels und Vormunds eine Cousine, Corba von Thorigné, als Miterbin einsetzen und sie sodann einem Mann namens Aimerich von Courron zur Frau geben. Der Graf beeilte sich, den Zwist beizulegen, und Hugo und Aimerich nahmen beide das Kreuz. Dies geschah im März 1096 anlässlich einer Zeremonie in der Abtei von Marmoutier, die Papst Urban II. persönlich vornahm. Um Geld zu erlösen, verpfändete Hugo seine Herrschaft an den Ehemann einer Tante väterlicherseits; auch ein Onkel mütterlicherseits unterstützte ihn mit Bargeld. Aimerich starb während der Belagerung von Nicäa, aber Hugo erwarb sich während des Kreuzzuges den Ruf eines beharrlichen Kämpfers: Er gehörte zu den auserwählten, als besonders verlässlich eingeschätzten Männern, die in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1098 zur Bewachung der Stadttore von Antiochia eingesetzt wurden, als sich Panik im Kreuzfahrerheer breitmachte und die verzweifelten Deserteure, die nirgendwo lieber sein wollten als auf der Straße in die Heimat, sogar durch die Latrinenlöcher in der Stadtmauer krochen. Als er, nach der Eroberung Jerusalems, zu Ostern 1100 wieder in seine Heimat zurückkehrte, stellte er fest, dass Graf Fulko seine Cousine Corba gegen eine stattliche Summe an einen älteren Mann namens Achard von Saintes verheiratet hatte, ohne die Verwandten der Braut davon in Kenntnis zu setzen. Hugo war ein kranker Mann, aber dies bedeutete eine erneute Bedrohung seines Herrschaftsanspruchs. Achard floh mit seiner jungen Ehefrau nach Tours, wo er jedoch von Männern aus Hugos Gefolge aufgespürt und Corba kurzerhand von diesen entführt wurde. Achard starb bald darauf, und Hugo kam durch seine Heirat mit einer Schwester des Grafen Fulko V. von Anjou endlich in den Besitz der gesamten Herrschaft Amboise. Nachdem er Amboise seinem ältesten Sohn überschrieben hatte, segelte Hugo mit dem Grafen Fulko, der in Jerusalem die Thronfolgerin Melisendis heiraten sollte, im Jahr 1129 erneut gen Osten. Nur zwei Monate nach seiner Rückkehr nach Palästina starb Hugo von Amboise und wurde auf dem Ölberg begraben.

Die Ergebnisse der zweiten Welle

In der Wahrnehmung der westeuropäischen Öffentlichkeit stellte die zweite Welle des Ersten Kreuzzuges wohl das wichtigste militärische Geschehen des gesamten Hochmittelalters dar. Der Kreuzzug und die Eroberung Jerusalems wurden in Epen besungen, im kollektiven Gedächtnis der beteiligten Familien ausgeschmückt, in Fresken und auf Wandteppichen dargestellt, von Bildhauern in Stein gemeißelt. So wurden diese Ereignisse schnell zur Legende und die Beteiligten als Helden verehrt. Die ruhmreichen Taten Hugos von Amboise lebten im Andenken seiner Nachkommen weiter. Die Familie Arnolds II. von Ardres behauptete ein Jahrhundert später vollkommen zurecht, ihr Vorfahr sei damals auch dabei gewesen – nur habe er eben den Dichter des Epos La Chanson d’Antioche nicht bestochen, weshalb sein Name in der darin enthaltenen Liste von Rittern fehle. Tatsächlich eignete dem Kreuzzug in mehrfacher Hinsicht etwas Heroisches: Der Feldzug war geprägt von großen Belagerungen – Nicäa, Antiochia, Maʿarat an-Numan, ʿArqa, Jerusalem –, und insbesondere vor Jerusalem, wo der Einsatz von Belagerungsmaschinen eine schnelle Eroberung der Stadt ermöglichen sollte, wurde jede Art militärtechnischen Fortschritts genutzt, die zur damaligen Zeit zur Verfügung stand. Doch auch unterwegs schlugen die Kreuzfahrer Schlachten – und trugen den Sieg davon: bei Doryläum, bei Herakleia Kybistra. Noch beeindruckender waren jedoch ihre Siege über die Entsatzheere – vor Nicäa und Antiochia sowie nach der Einnahme von Jerusalem –, denn es war die vorherrschende Meinung unter den Strategen der Zeit, dass einem Heer nichts Gefährlicheres widerfahren konnte, als im Rücken angegriffen zu werden, während es eine Stadt belagerte. Obendrein waren all diese Schlachten von einem Heer geschlagen worden, das unter ständigen Nachschubsorgen litt und sich seinen Proviant in der Umgegend zusammensuchen musste; das seine Pferde größtenteils eingebüßt hatte und zu Fuß kämpfen musste, dem es an einer entschlossenen Führung fehlte, das bisweilen im Chaos versank und das schwere Verluste erlitten hatte. Nach neuesten Schätzungen der Forschung ließen über 37 Prozent der Bewaffneten des Ersten Kreuzzuges unterwegs ihr Leben – unter den ärmsten Teilnehmern des Feldzuges dürfte die Sterblichkeit noch weitaus höher gelegen haben.

Die dritte Welle

Nach dem großen Triumph der Einnahme Jerusalems beschlossen die meisten der Kreuzfahrer, in ihre Heimat zurückzukehren. Ab dem Winter 1099/1100 begannen sie nach und nach wieder in Westeuropa einzutreffen. In ihrem Gepäck fanden sich nicht Reichtümer, sondern Reliquien, die sie an die Kirchen ihrer Heimatgegenden verteilten. Außerdem führten sie Palmwedel mit sich, welche die Einlösung ihrer Kreuzzugsgelübde symbolisierten. Doch bereits im Frühjahr des Jahres 1099 – also noch bevor der Erste Kreuzzug Jerusalem erreicht hatte – hatte Papst Urban dem Erzbischof von Mailand aufgetragen, in der Lombardei erneut den Kreuzzug zu predigen. Der erneute Aufruf zum Kreuzzug stieß auf ein begeistertes Echo, und während noch die Nachricht vom Fall Jerusalems – die Urban II., der am 29. Juli 1099 starb, nicht mehr zu Ohren kam – Westeuropa durcheilte, wurden schon neue Kreuzfahrerheere aufgestellt. Urbans Nachfolger, Papst Paschalis II., drohte – wie es schon Urban selbst getan hatte – all jene zu exkommunizieren, die ihre Kreuzzugsgelübde noch nicht erfüllt hatten, und seine Worte wurden von den Bischöfen wiederholt. Paschalis drohte außerdem, Deserteure zu exkommunizieren. Hugo von Vermandois und Stephan von Blois gehörten zu denen, die beschlossen, zur Tilgung dieser Schmach abermals in das Heilige Land zu ziehen. Schließlich hatten all jene, die vom Kreuzzug desertiert waren, Schande nicht allein über sich selbst, sondern auch über ihre Familien gebracht. Milon I. von Montlhéry und sein Sohn Guido II. Troussel etwa desertierten im Jahr 1098. Es kann kein Zufall gewesen sein, dass Milon, als er sich mit dem Kreuzzug von 1101 erneut auf den Weg nach Palästina machte, von seinem Bruder Guido von Rochefort, dem anderen Senior der Familie, begleitet wurde.

Viele Männer und Frauen in Frankreich, Italien und Deutschland, die sich zuvor noch nicht dazu hatten durchringen können, das Kreuz zu nehmen, strömten nun zu den Fahnen. Päpstliche Legaten wurden nach Frankreich gesandt, wo sie im September 1100 in Valence eine Synode abhielten. Anschließend zogen sie nach Limoges, wo Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien und viele seiner Vasallen das Kreuz nahmen, und weiter nach Poitiers, wo sie bei einer Synode, die für den fünften Jahrestag der Eröffnung des Konzils von Clermont am 18. November einberufen wurde, den Kreuzzug predigten.

Die Heere der dritten Welle waren vermutlich in etwa so groß wie jene, die sich im Jahr 1096 auf den Weg gemacht hatten. Allerdings war diesmal das päpstliche Truppenkontingent, das von dem Lyoner Erzbischof und obersten Legaten des Papstes Hugo von Die befehligt wurde, größer. Die nun beteiligten weltlichen Fürsten waren von gleichem oder höherem Rang als ihre Vorgänger: die bereits erwähnten Wilhelm von Aquitanien, Stephan von Blois und Hugo von Vermandois; dazu Wilhelm von Nevers, Odo von Burgund, Stephan von Burgund und Welf IV. von Bayern.

Unter der Hochglanzoberfläche edlen Rittertums und unbeschwerter Abenteuerlust – dieser Eindruck verdankte sich womöglich der überschwänglichen Persönlichkeit Wilhelms von Aquitanien – zeichnete sich neben einem ernsthaften religiösen Streben aber auch die Bereitschaft ab, aus den Fehlern des vorangegangenen Unternehmens zu lernen. Dies betraf zum Beispiel leicht zu transportierende Wertgegenstände, die den Kreuzfahrern den Ruf einbrachten, einem ausschweifenden Luxusleben zu frönen. Tatsächlich führten sie neben Bargeld auch Juwelen mit sich, um diese unterwegs gegen Geld oder Verpflegung eintauschen zu können.

Als Erste brachen die Lombarden auf, die Mailand am 13. September 1100 verließen. Sowohl ihre Überwinterung in einem Feldlager in Bulgarien als auch der anschließende zweimonatige Aufenthalt vor den Mauern Konstantinopels im Frühjahr 1101 wurde immer wieder von Unordnung und Aufruhr unterbrochen. Wie schon zuvor versuchte Kaiser Alexios, die Kreuzfahrer zu einer schnellen Überquerung des Bosporus zu zwingen, indem er ihnen die Erlaubnis zum Provianterwerb verweigerte. Und wie ihre Vorgänger, so reagierten auch die Kreuzfahrer dieses Zuges mit Gewalt: Sie griffen den kaiserlichen Blachernen-Palast an. Dies brachte ihre Anführer jedoch in eine derart peinliche Lage, dass sie der Überfahrt ihrer Streitmacht nach Asien zustimmten. Bei Nikomedia (dem heutigen Izmit) stieß das erste, kleinere von zwei deutschen Heeren zu ihnen sowie Kämpfer aus Burgund und Nordfrankreich unter dem Kommando Stephans von Blois und auch Raimunds von Toulouse, der bereits im Sommer zuvor mit seinem Gefolge in Konstantinopel eingetroffen war und sich nach einigem Zögern bereiterklärt hatte, den anderen Fürsten als Berater zu dienen. Dabei war er nicht erfolgreich: Gegen seinen Rat sowie gegen den der Griechen und Stephans von Blois beschlossen die neuen Kreuzfahrer, nicht auf ihre noch auf dem Weg befindlichen Kameraden zu warten, sondern nach Niksar zu marschieren, wo Bohemund, der im Jahr zuvor von den Danischmendiden in Ostanatolien gefangen genommen worden war, noch immer im Kerker saß. Es ist sogar möglich, dass die Lombarden, befeuert von wilden Gerüchten, wie sie nach den Erfolgen des vorigen Feldzuges in Europa kursierten, als einzige der Kreuzfahrer an weitere Eroberungen dachten, statt dem Heiligen Land Hilfe zu bringen, und in den Irak ziehen wollten, um Bagdad zu belagern. Im Juni marschierten sie von Izmit nach Ankara, dann in nordöstlicher Richtung nach Çankiri (Gangra); anschließend schwenkten sie wieder nach Osten um. Anfang August befanden sie sich irgendwo in der Gegend von Merzifon, wo sie auf ein Koalitionsheer türkischer Fürsten trafen, die ihre Differenzen angesichts des gemeinsamen Feindes ruhen ließen. Nach mehreren Kampftagen gerieten die Kreuzfahrer in Panik und flohen.

Im Juni 1101 erreichte ein Heer unter Wilhelm von Nevers Konstantinopel, überquerte den Bosporus und machte sich am 24. des Monats auf den Weg, die Lombarden einzuholen. Damit hatten Wilhelms Männer die Truppen des Herzogs von Aquitanien überholt, die vor ihnen in Konstantinopel angekommen waren. Bei Ankara gab der Graf von Nevers die Verfolgung der lombardischen Streitmacht auf und bog stattdessen mit seinen Leuten nach Süden in Richtung Konya ab. Mitte August kamen sie dort an, nicht ohne unterwegs eine dreitägige Schlacht geschlagen zu haben. Es gelang Wilhelm nicht, Konya einzunehmen, also marschierte er weiter nach Herakleia Kybistra, fand die Stadt jedoch verlassen, ihre Brunnen zugeschüttet. Nach mehreren dursterfüllten Tagen wurden die Kreuzfahrer in die Flucht geschlagen.

Inzwischen hatte das Heer Wilhelms von Aquitanien, das Mitte März in Frankreich aufgebrochen war und – nach einem wilden Marsch über den Balkan in Begleitung der Truppen Herzog Welfs von Bayern – Anfang Juni Konstantinopel erreicht. Gemeinsam lagerten diese Kreuzfahrerkontingente fünf Wochen lang in der Nähe der Stadt, erwarben Proviant von den Griechen und holten deren Rat ein, obwohl einige der Deutschen klugerweise auf dem direkten Seeweg nach Palästina weiterreisten. Mitte Juli brachen Welf und Wilhelm dann mit ihren Truppen in östlicher Richtung auf und folgten der Route, auf der bereits die Kreuzfahrer der zweiten Welle nach Jerusalem gezogen waren. Diese Gegend war jedoch sowohl von den Türken als auch von den durchziehenden Kreuzfahrern geplündert und verwüstet worden, und so mangelte es ihnen bald – trotz sorgfältiger Planung – an der nötigen Verpflegung. In der Nähe von Herakleia Kybistra geriet ihr Heer in einen Hinterhalt und wurde beinahe vollkommen vernichtet.

Wilhelm von Aquitanien und Welf von Bayern gelang die Flucht, wie sie – anlässlich ihrer ähnlich desaströsen Niederlagen – auch Wilhelm von Nevers, Stephan von Burgund, Stephan von Blois und Raimund von Toulouse gelungen war. Hugo von Vermandois erlag in Tarsus seinen schweren Verwundungen. Einige der Überlebenden schlossen sich in Syrien Raimund von Toulouse an und nahmen mit ihm die Stadt Tartus (Tortosa in Syrien) ein, die Raimunds Grundstein für eine weitere Kreuzfahrerherrschaft sein sollte. Anschließend zogen die meisten von ihnen weiter nach Jerusalem, um ihre Gelübde zu erfüllen. Einige, deren Abreise von ungünstigen Winden verzögert worden war, schlossen sich Truppen der nach der Eroberung Jerusalems im Orient Gebliebenen an und stellten sich mit diesen gegen eine erneute ägyptische Invasion. Glücklos bis zuletzt, wurden sie am 17. Mai 1102 vernichtend geschlagen, wobei auch Stephan von Blois den Tod fand.

Die Fortentwicklung der Kreuzzugsidee

Der Ereignisverlauf von 1097 bis 1099 legte mehr oder minder verbindlich fest, dass es sich bei einem Kreuzzug um eine Pilgerfahrt handelte, auf der Ritter zugleich ihre kriegerische Aufgabe erfüllen konnten. Durch seinen aufwendigen liturgischen Rahmen, seine Bußprozessionen und Fastenzeiten – erstaunlicherweise sollten die so schon hungernden Kreuzfahrer vor jeder wichtigen Schlacht fasten! – erschien der Kreuzzug den gebildeten Zeitgenossen, die ja zumeist Mönche waren, als eine Art wanderndes Kloster. Die teilnehmenden Laien hatten Gelübde abgelegt, die – wenn sie auch für einen klar umrissenen Zeitraum galten – Ähnlichkeiten mit den ewigen Gelübden der Mönche aufwiesen. Zudem erlegten die Sachzwänge des Kreuzzuges ihnen ein Leben in Armut auf sowie – theoretisch – ein Leben in Keuschheit. Die Kreuzfahrer waren, wie auch die Mönche, „Exilanten“ der normalen Welt. Sie hatten das Kreuz genommen, um Christus nachzufolgen, sie hatten um Gottesliebe ihre Frauen, Kinder und ihre Heimat verlassen und sich aus Liebe zu ihren Brüdern selbst in Lebensgefahr gebracht. Sie waren „Nachfolger Christi“. Wie die Mönche in ihren Klöstern nahmen auch sie an regelmäßigen gemeinsamen Gebeten und anderen frommen Ritualen teil, und während die Mönche eine „innere Reise“ nach Jerusalem unternahmen, reisten sie persönlich dorthin. Da es ein Ziel der Reformbewegung gewesen war, die gesamte Kirche nach den Maßstäben des Klosterlebens umzugestalten, scheint dieser Plan zumindest hier, auf dem Kreuzzug, bei den Laien, aufgegangen zu sein. Tatsächlich gab es einen bemerkenswert raschen Transfer von Begriffen und Bildern, die traditionell mit dem Klosterleben verknüpft gewesen waren und nun auf den Kreuzzug bezogen wurden: die Ritterschaft Christi, der Kreuzweg, der Weg in das himmlische Jerusalem, der geistliche Kampf. Die „klösterliche“ Interpretation des Kreuzzuges sollte sich auf Dauer nicht halten, aber sie verschaffte der Kirche doch einen Ausgangspunkt, um auf die Fragen eingehen zu können, die mit dieser revolutionär neuen Art von Kriegführung zwangsläufig verknüpft waren.

Eines der Probleme, die durch den Kreuzzug offenkundig geworden waren, war das der Kontrolle. Es wurde den Priestern in ihren Gemeinden aufgetragen, die Rekrutierung zu organisieren: Niemand sollte das Kreuz nehmen, ohne zuvor den Rat seines Pfarrers eingeholt zu haben. Doch das Gemeindesystem jener Zeit war für derlei Aufgaben nicht gewappnet – noch nicht. In der Theorie waren es die Bischöfe, durch deren Autorität die Erfüllung der Kreuzzugsgelübde überwacht und durchgesetzt werden sollte. Allerdings lässt sich unmöglich rekonstruieren, wie viele der Kreuzfahrer, die ihre Gelübde anlässlich der dritten Welle des Ersten Kreuzzuges einlösten, dies tatsächlich aus Angst vor einer möglichen Exkommunikation taten, und wie viele dies taten, weil ihnen Berichte von der Eroberung Jerusalems zu Ohren gekommen waren, die sie entweder begeisterten oder ihnen – ob ihrer bisherigen Untätigkeit – ein schlechtes Gewissen bereiteten. Die päpstlichen Legaten und anderen Kleriker, die das Kreuzfahrerheer begleiteten, hätten – wiederum in der Theorie – ebenfalls eine gewisse Kontrolle über die Teilnehmer des Kreuzzuges ausüben sollen. Aber der Klerus ließ zumeist die nötige theologische Qualität vermissen, und außerdem dürften die Hauskapläne des hohen Adels wohl kaum geneigt gewesen sein, ihren Herren die Leviten zu lesen.

Die geistlichen Teilnehmer des Kreuzzuges verhinderten weder die mörderischen Judenpogrome im Frühjahr und Sommer des Jahres 1096 noch die Errichtung eines säkularen Staates in Palästina drei Jahre darauf. Zudem lässt sich unter den Laien ein gewisser Eigensinn feststellen: Es ist offenkundig, dass sie die Aussicht auf die Inbesitznahme einer Reliquie antrieb – des Heiligen Grabes nämlich –, nicht die Liebe für ihre Glaubensbrüder im Heiligen Land. Der Papst konnte die Teilnehmer des Kreuzzuges nicht davon überzeugen, dass auch jene, die vor der Erfüllung ihrer Gelübde das Leben ließen, die Vergebung ihrer Sünden erlangen würden. Eine beträchtliche Anzahl von Personen scheint das Kreuz im Jahr 1100 (auch) deshalb genommen zu haben, weil nahe Verwandte von ihnen auf dem vorigen Feldzug gestorben waren, bevor sie Jerusalem erreichen konnten. Wie wir aus den diesbezüglichen Versicherungen Thomas’ von Aquin ablesen können, war die beschriebene Problematik den Gläubigen noch Mitte des 13. Jahrhunderts ein Anlass zur Sorge.

Die traumatischen Erfahrungen der Kreuzfahrer während der zweiten Welle des Kreuzzuges waren ganz entscheidend für die weitere Entwicklung der Überzeugung, diesem Vorhaben hafte wirklich etwas Göttliches an. Nach der Durchquerung Kleinasiens scheint die Überzeugung um sich gegriffen zu haben, all ihr Tun und Lassen sei der wohlwollenden, wenn auch gestrengen Kontrolle Gottes unterstellt. Zu jenem Zeitpunkt begannen auch Seher und Propheten im Kreuzfahrerheer, Erscheinungen zu haben – von Christus selbst oder von Engeln, Heiligen und den Geistern der Verstorbenen. Auch wurden nun die im Kampf getöteten Kreuzfahrer zunehmend als Märtyrer betrachtet. Diese Tendenzen wurden noch verstärkt durch die Auffindung von Reliquien und die Verehrung von Schauplätzen der Heilsgeschichte, wie sie jedem Christen aus Erzählungen bekannt waren. Hinzu kamen zufällige Störungen am Nachthimmel – Polarlicht, Kometen und Meteoriten –, die größtenteils ein Vorspiel bildeten zu der Periode intensiver Sonnenaktivität, die als das „mittelalterliche Maximum“ bezeichnet wird und um 1120 begann. Die Kreuzfahrer waren nicht dumm. Sie wussten, wie stark benachteiligt sie gewesen waren – und doch hatten sie am Ende gesiegt. In ihren Augen konnte es dafür keine andere Erklärung geben, als dass Gott für sie eingegriffen hatte. Die Niederlagen der dritten Welle im Jahr 1101 bestärkten diese Vorstellung sogar noch, denn sie ließen die überwundenen Gegner von 1097–1099 stärker erscheinen, als jene es tatsächlich gewesen waren. Das schreckliche Ende Wilhelms von Aquitanien und seiner Leute ließ sich unter Verweis auf deren ausschweifenden Lebensstil, Stolz und allgemeine Sündhaftigkeit erklären und wurde somit ebenfalls zum Gottesurteil.

Die Vorstellung, der Kreuzzug habe sich im göttlichen Auftrag und unter göttlicher Leitung ereignet, tritt überall in den Briefen und Augenzeugenberichten der Kreuzfahrer lebhaft zutage. Allerdings wird sie dort auf eher unbeholfene und bisweilen untheologische Weise formuliert. Eine zweite Generation von Kommentatoren griff diese Anregung auf, wobei sich insbesondere drei französische Benediktiner hervortaten: Guibert von Nogent, Balderich von Bourgueil und Robert der Mönch. Der letztgenannte schrieb seine Geschichte des Kreuzzuges zehn Jahre nach den Geschehnissen und stellte diese als Teil der Heilsgeschichte dar: Für Robert war der Kreuzzug – nach der Schöpfung und der Erlösung der Menschheit am Kreuz – das dritte deutliche Zeichen göttlichen Eingreifens in der Welt. Alle drei Geschichtsschreiber bemühten sich zudem, den Elementen ihrer Erzählung einen klaren theologischen Rahmen zu geben, und zeigten darum etwa die Verbindung von Märtyrertum und christlicher Nächstenliebe auf. In ihren Schriften wurde der Vorstellung vom Kreuzzug als einem Krieg im Namen Christi, die ja zuvor von den Kreuzfahrern selbst formuliert worden war, ein eigener theologischer Ausdruck verliehen.

Und doch blieb vieles ungestalt und vage. Die Kreuzzugsidee benötigte eine lange Zeit, fast ein ganzes Jahrhundert, um zur Reife zu gelangen, und so blieben in diesem frühen Stadium viele Fragen offen: Was unterschied einen Kreuzzug von anderen Heiligen Kriegen oder auch einer bewaffneten Pilgerfahrt? Unter welchen Voraussetzungen und an welchen Schauplätzen konnten Kreuzzüge geführt werden? War nur der Papst berechtigt, einen Kreuzzug auszurufen? Inwiefern unterstanden die Kreuzfahrer auf ihrem Feldzug kirchlicher Kontrolle? Wie hatte man sich die Vergebung der Sünden im Einzelnen vorzustellen und auf wen traf sie zu? Wie war ein Kreuzzug, der immer sehr viel Geld kostete, zu finanzieren? Die Beantwortung dieser Fragen sollte das gesamte 12. Jahrhundert hindurch die europäischen Christen beschäftigen.