Was wusste, was ahnte das Kino? Mehr als wir. Die Kamera gleitet auf den gleichmäßigen Wellen von John Cales Minimal-Music-Klavierthema durch eine New Yorker Luxuswohnung, vorbei an Robert Longos Bild Men in The Cities und Designermöbeln im Bauhaus-Stil, sie blickt im Schlafzimmer kurz auf ein kunstvoll durchwühltes Bett, auf dem Sideboard thront eine gigantische Vase, noch weißer als die Laken. Gerade aufgestanden ist ein durchtrainierter 27-Jähriger, er erwartet uns im Badezimmer. Während er stehend uriniert, spiegelt sich im gerahmten Plakat des Musicals Les Misérables sein makelloses Gesicht. Seine Stimme aus dem Off, losgelöst vom Körper also, informiert uns über seine Morning-Routine, die im Jahr 2000, als der Film American Psycho in die Kinos kam, noch kein eigenes Youtube-Genre war, da die Plattform erst fünf Jahre später gegründet werden sollte. Patrick Bateman (Christian Bale), so der Name des Proto-Influencers, erklärt, sein Credo sei es, auf sich selbst zu achten. Eine ausgewogene Diät und ein strenges Trainingsprogramm – tausend Sit-ups täglich – helfen ihm dabei ebenso wie die Eismaske, die Lotion mit Tiefenwirkung, das wasseraktive Reinigungsgel, das Honig-Mandel-Körperpeeling, die Kräuter-Minze-Maske, das Aftershave, der Anti-Falten-Augenbalsam und die feuchtigkeitsspendende Schutzlotion.

Von welchen Kosmetikunternehmen die Produkte stammen, erfahren wir nicht, erst im Laufe des Films werden wir eingeführt in die feinen Unterschiede der Marken, die Bret Easton Ellis in der literarischen Vorlage dazu dienen, Personen zu zeichnen, die keine Persönlichkeit haben. Daraus macht Bateman keinen Hehl: »Es gibt eine Vorstellung von einem Patrick Bateman, die abstrakt ist, aber es gibt kein wahres Ich«, erläutert er cool, während er sich die transparente Gesichtsmaske wie eine zweite Haut abzieht. Und auch wenn wir zu spüren meinen, dass unser Lifestyle dem seinen gleiche, sagt Bateman uns: »Ich bin ganz einfach nicht da.« Er spricht zu uns im Vertrauen – deshalb die Ehrlichkeit, die einem Influencer, dessen Kapital die Illusion eines authentischen Ich sowie die vermeintlich unmittelbare Nähe zu uns ist, nicht über die Lippen kommen kann. In American Psycho sind wir Zuschauer jedoch nicht Kunden, sondern Komplizen. Im Gegensatz zu Batemans Kollegen wissen wir, dass der Investmentbanker sich nachts in einen Serienkiller verwandelt, der seine Opfer mit der gleichen Akribie zerstückelt, mit der er sich selbst achtsam pflegt. Auf die hässliche, untergründige Seite des Kapitalismus deuten die Morgenroutinen der Influencer auf den ersten Blick nicht hin, aber es gibt sie – ahnen wir, wenn wir an die prophetische Kraft des Kinos glauben, das die Influencer antizipierte, bevor wir sie kannten.

In den neunziger und frühen nuller Jahren war das Kino, das inzwischen weniger Geld umsetzt als die Gaming-Industrie, vielleicht ein letztes Mal popkulturelle Avantgarde. Es bildete nicht bloß den Zeitgeist ab, sondern formte ihn, griff Diskurse auf und dachte sie konsequent weiter. Heute, da alles noch schnelllebiger geworden ist, hinkt das Kino oft hinterher, wenn es versucht, aus Youtubern Filmstars zu machen, die vergleichsweise teuer produzierten Filme jedoch häufig weniger Zuschauer erreichen als ein simples, mit dem Smartphone gedrehtes Video. Damals war das Kino noch das wichtigste Referenzmedium, von dem andere Branchen lernen wollten: Produktwerbung, wiederholt heute nahezu jeder Marketingstratege, benötigt ein gutes Storytelling, um die richtigen Kaufanreize zu setzen.

Die Drehbuchautoren, die in den vergangenen Jahrzehnten in diversen Ratgebern freudig Auskunft gaben über die Möglichkeiten, das Publikum durch raffiniertes Erzählen zu manipulieren, bei dem die Emotionen der Zuschauer präzise zu dieser oder jener Figur gelenkt werden, wurden unfreiwillig zu Pionieren einer neuen Form von Werbung. Denn diese Lenkung kann selbstredend gleichermaßen zu Produkten führen: Rette die Katze!1 heißt etwa einer der bekanntesten Ratgeber fürs Drehbuchschreiben, womit laut Verfasser Blake Snyder zugleich eine goldene Regel benannt ist: Sollen die Zuschauer mit dem Helden von der ersten Minute an sympathisieren, muss dieser gezeigt werden, wie er etwas Gutes tut, zum Beispiel eine Katze aus einer brenzligen Situation retten. Schon lange wird dieses Drehbuchgesetz in der Werbung auf Produkte angewendet, wenn diese als Retter in der Not erscheinen: So erblickt Anfang der nuller Jahre ein im brennend heißen Wüstensand verlorener Anhalter, der stundenlang vergeblich auf eine Mitfahrgelegenheit wartet, vor einer heruntergekommenen Tankstelle einen Coca-Cola-Automaten. Hastig trinkt der junge Mann eine Flasche, während just in dem Moment ein Auto, ein Truck und ein Linienbus hinter ihm vorbeibrausen. Der Genuss des Kaltgetränks scheint ihn vom Eigentlichen abgelenkt zu haben, doch dann treten unvermittelt zwei Latina-Schönheiten auf die Terrasse, die ihn mit in die nächste Stadt nehmen. Der Mann küsst dankbar seine Coke.

Auch erfolgreiche Influencer beherrschen das Storytelling, wenn sie die zu bewerbenden Produkte in vermeintlich alltägliche Erzählungen integrieren. Dass man bei Instagram von einer »Story« spricht und damit die Aneinanderreihung 15-sekündiger, nach 24 Stunden wieder verschwindender Bild- und Videoschnipsel meint, ist bezeichnend. In den Storys wird dann wie zufällig beim Aufstehen vom geruhsamen Schlaf erzählt, um zu einer Sleep-Tracker-App zu verlinken. Für die heute anstehende Partnersuche wird die entsprechende Dating-Plattform beworben, und der Liebesfrust wird mit Schokolade eines Schweizer Herstellers bekämpft. Eben Geschichten, die das Leben schreibt. Dabei machen sich auch die Influencer das Prinzip »Rette die Katze!« zu eigen, wenn sie sich für diese oder jene gute Sache einsetzen – immer gibt es einen »woken« Zug, auf den es sich aufzuspringen lohnt.

Besonders effektiv ist jene Werbung, die gar nicht danach aussieht. Dabei hilft ein raffiniertes Storytelling, und auch hier ist das Kino der Vorreiter: Das Product-Placement in Filmen, bei dem die Waren in die Narration eingebettet sind, ließ früh schon offenbar werden – sofern es elegant und nicht zu aufdringlich geschah –, dass unsere Welt weniger durch den Logos als durch die Logos dominiert wird. Wenn James Bond seit Jahrzehnten je nach Werbekooperation mal Brioni, mal Tom Ford trägt, Bollinger oder Dom Pérignon trinkt, seinen Durst zwischendurch mit Heineken löscht, im Aston Martin, BMW oder Audi seinen Verfolgern entwischt, wird dabei eine Filmfigur zum Testimonial, das zu Identifikation und Nachahmung einlädt. Hohes Prestige, weltweite Bekanntheit und ein konsumaffiner Lebensstil machen Bond zum perfekten Influencer, zumal dieser von Ian Fleming geschaffene Charakter den Begriff buchstäblich ausfüllt: Bond hat (männliche) Zuschauer mehrerer Generationen beeinflusst. Der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer stellte bereits in den zwanziger Jahren fest, Filme seien »der Spiegel der Gesellschaft« und würden häufig Künftiges antizipieren. Fand Kracauer im Kino der Weimarer Republik bereits viele Hinweise (die er später in Von Caligari zu Hitler kompilierte) auf die Faschisierung Deutschlands, zeichnen die Filme der neunziger und nuller Jahre den Aufstieg der Influencer vor. Das heißt, Filme sind zwar Waren, doch zugleich drücken sich in ihnen die kapitalistischen Verhältnisse aus: »Um die heutige Gesellschaft zu erforschen, hätte man also den Erzeugnissen ihrer Filmkonzerne die Beichte abzunehmen. […] Der Inbegriff der Filmmotive ist zugleich die Summe der gesellschaftlichen Ideologien.«2

Die Bond-Filme spiegeln die Gesellschaft jedoch nicht nur wider, sie gestalten sie, sie sind Vergrößerungs- und Zerrspiegel, die Figur Bond selbst ist ein Spiegelbild, in dem sich der Zuschauer wiederzuerkennen glaubt, ja, mit dem er sich verwechselt. Zusätzlich ist der Doppelnullagent der erste Reise-Influencer, was Tourismusämter in aller Welt früh erkannt haben. Dafür, dass Spectre mit einer langen Action-Sequenz in Mexiko-Stadt beginnt und 007 später auf die Frage seines Vorgesetzten, was er in Mexiko gemacht habe, antwortet: »Einen längst überfälligen Urlaub«, soll die Produktionsfirma vom mexikanischen Staat Förderungen in Millionenhöhe erhalten haben. Dass Bond eine fiktive Figur ist, mindert die erwünschte Glaubwürdigkeit keineswegs, ragt doch der Geheimagent im Auftrag Ihrer Majestät (und der Konzerne) weit über die Leinwand hinaus. Die großen Bond-Darsteller – von Sean Connery bis Daniel Craig – verschmelzen irgendwann mit ihrer Rolle. Wo sie auftreten, sind sie immer auch Bond, weshalb Pierce Brosnan als Agent a. ‌D. das Werbegesicht von Brioni blieb – wenngleich ein Hauch des Fiktionalen diese Werbung umweht und damit mehr und mehr aus der Zeit fällt, da Authentizität das Hochwertwort der Stunde ist, nicht nur im Marketing. Die Bond-Reihe, die von Anfang an auf Product-Placement setzte, um die aufwendige Produktion zu finanzieren, und früh eigene lizensierte Produkte wie Deodorants herausbrachte, war Die Truman Show avant la lettre, nur dass Truman zum Influencer wider Willen wurde – ahnungslos, unschuldig wie heute niemand mehr von uns.

Peter Weirs Mediensatire von 1998 zeigt eine abgeschlossene Welt in der Welt – wie bei der wenig später anlaufenden Reality-TV-Show Big Brother, allerdings mit dem fundamentalen Unterschied, dass der Protagonist Truman Burbank (Jim Carrey) nicht weiß, dass er als Baby von einer Produktionsfirma adoptiert wurde und in gigantischen Studiokulissen aufgewachsen ist. Erst kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, als plötzlich Scheinwerfer vom Himmel fallen und versteckte Kameras sichtbar werden, dämmert ihm, dass ein Millionenpublikum sein Leben wie in einer Daily Soap oder in einer Insta-Story verfolgt hat. Finanziell gestemmt wird die Show durch Product-Placement, bei dem die wissenden Mitspieler, etwa Trumans Frau oder sein vermeintlich bester Freund, Markennamen fallen lassen, freudestrahlend Produkte in die Kamera halten oder Truman auf der Straße so geschickt abpassen, dass im Hintergrund ein Werbeplakat zu sehen ist. Truman bleibt bei all dem der reine Tor, während um ihn herum niemand ohne Kalkül agiert: Jeder spielt sowohl die emotionale Nähe zu Truman als auch zu den Produkten. Influencer versuchen, beides zu sein, indem sie sich unverfälscht und arglos geben, aber gleichzeitig clever ihre Werbeverträge erfüllen.

Die Truman Show endet mit der Flucht des Helden, der gegen alle Widerstände der Produktionsfirma die Tür im Pappmascheehorizont öffnet und hinaustritt. Ein Außen aber, ahnen wir, die wir in mehreren Szenen die TV-Zuschauer als fernsehsüchtig und passiv vorgeführt bekommen haben, gibt es nicht mehr – oder wie Jean Baudrillard einst schrieb: »Disneyland existiert, um das ›reale‹ Land, das ›reale‹ Amerika, das selbst ein Disneyland ist, zu kaschieren.«3 Das im Film präsentierte Reality-TV-Publikum, das allabendlich in der Badewanne, auf der Couch oder in einem Nachtwächterhäuschen vor dem Fernseher sitzt, flieht aus seinem banalen Alltag in den ebenso banalen Alltag von Truman – wie den Influencern gefolgt wird, nicht weil sie eine Gegenwelt auftun, sondern weil sie die Welt ihrer Follower verdoppeln; lediglich etwas geglättet, gefiltert, per Photoshop aufgehübscht, damit die unendliche Langeweile im Spätkapitalismus nicht ganz so sehr auffällt.

Dennoch treibt die Sehnsucht nach einem Jenseits der Konsumwelt das Neunziger-Jahre-Kino um. Nicht nur Truman, auch Neo will hinter die Kulissen blicken, wenn er in Matrix die ihm angebotene rote Pille schluckt, um zu erkennen, dass er sein Leben in einer Simulation zugebracht hat. Nun begibt er sich auf die Suche nach einem Ausgang aus der unverschuldeten Unmündigkeit. Ein Wunsch, den auch Influencer bisweilen hegen, wenn sie sich zu Digital Detox entscheiden, daraus jedoch sofort wieder ein Social-Media-Ereignis machen, indem sie es erst wortreich ankündigen und hinterher ausführlich davon berichten. Selbst Unternehmen haben die Unterbrechung, die Sendepause, als Werbemöglichkeit entdeckt; so lud im Januar 2020 ein Energiekonzern Influencer dazu ein, 24 Stunden nicht ins Netz zu gehen (und so nebenbei Strom zu sparen), aber am Tag danach ihre Erfahrungen – inklusive Verlinkung auf das Firmenprofil – zu posten.

Radikaler mutet dagegen David Finchers Fight Club an, in dem der Protagonist (Edward Norton) zunächst sein Leben nach dem Ikea-Katalog einrichtet, bis eines Tages der rätselhafte Tyler Durden (Brad Pitt) erscheint, um zu spotten über die Welt der Calvin-Klein-Models und die Dienstleistungsgesellschaft, in der Männer – anders als es der American Dream verheißt – dazu verdammt sind, als unterbezahlte Servicekräfte zu versauern:

 

Eine ganze Generation zapft Benzin, räumt Tische ab und schuftet als Schreibtischsklaven. Durch die Werbung sind wir heiß auf Klamotten und Autos, machen dann Jobs, die wir hassen, und kaufen dann Scheiße, die wir nicht brauchen. Wir sind die Zweitgeborenen dieser Geschichte, Leute. Männer ohne Zweck, ohne Ziel. Wir haben keinen großen Krieg, keine große Depression. Unser großer Krieg ist ein spiritueller. Unsere große Depression ist unser Leben. Wir wurden durch das Fernsehen in dem Glauben aufgezogen, dass wir alle mal Millionäre werden, Filmgötter, Rockstars. Werden wir aber nicht, und das wird uns langsam klar! Und wir sind kurz, ganz kurz vorm Ausrasten,

 

predigt Tyler Durden den männlichen Modernisierungsverlierern.

Als Gegenwelt zur Hochglanzästhetik der Werbeindustrie errichtet Durden mit seinen Gefolgsleuten Clubs im Untergrund, wo Mann noch das sein darf, wovon man annimmt, dass es wahrer Männlichkeit entspricht: Mit bloßen Fäusten kämpfen sie gegeneinander in der Hoffnung, zu einem Wesenskern zu gelangen, was allerdings lediglich noch tiefer in die Aporien des Konsums führt: Um die Fight-Clubs zu finanzieren, stellen die Männer Seife aus abgesaugtem Menschenfett her und errichten für den Vertrieb eigene Shops, die bald zu einem globalen Franchise-System ausgebaut werden. Auf Instagram und Youtube werden Influencer dies unbewusst aufgreifen, wenn sie in Motivationscoachings jenen einen Ausstieg aus dem Hamsterrad versprechen, die bereit sind, einen eigenen Onlineshop zu gründen, »Founder« zu werden, um sich aus der Lohnabhängigkeit (häufig tatsächlich im Servicesektor) zu befreien. Dass dabei ein durchtrainierter Körper, wie Tyler Durden ihn hat, ebenso wenig fehlen darf wie eine gewisse Härte gegenüber einer angeblich effeminierten Gesellschaft, ist eine weit verbreitete Ansicht, die wiederum zu einer Inflation der Fitness-Influencer führt. Tyler Durden und die Influencer machen selbst noch aus der Konsumkritik ein lukratives Geschäft.

Luden Filme wie Fight Club und Die Truman Show zu – weithin kommensurabler – Negation ein, betrieben andere Produktionen die totale Affirmation eines Lebensstils, der das von Francis Fukuyama diagnostizierte »Ende der Geschichte« zwar akzeptierte, aber möglichst bunt gestalten wollte – nicht zuletzt, um die melancholische Schlussthese des einflussreichen Essays aus dem Sommer 1989 zu nivellieren:

 

Das Ende der Geschichte wird eine sehr traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein abstraktes Ziel zu riskieren, der weltweit geführte ideologische Konflikt, der Wagemut, Courage, Vorstellungskraft und Idealismus aufblühen ließ, werden durch ökonomische Kalküle, durch das endlose Lösen technischer Probleme, durch Umweltängste und die Befriedigung verfeinerter Konsumwünsche ersetzt werden. In der posthistorischen Periode wird es weder Kunst noch Philosophie geben, nur noch die unablässige Pflege des Museums der menschlichen Geschichte. Ich fühle in mir, und nehme das auch in den Menschen um mich herum wahr, eine mächtige Nostalgie nach der Zeit, als die Geschichte noch existierte.4

 

Mit den von Fukuyama prognostizierten »Jahrhunderten der Langeweile« wollen sich neun Jahre später Carrie, Samantha, Charlotte und Miranda nicht abfinden. Ihr Gegenmittel: Shopping. In der Serie Sex and the City folgten Abermillionen Zuschauer vier Freundinnen auf dem Weg zum persönlichen Glück, das sich aus beruflichem Erfolg, einem aufregenden Sexleben, einer erfüllten Liebe (nur Samantha wird nicht heiraten, um ihre ausgeprägte Libido zu bewahren), vor allem aber aus dem Erwerb von Luxusprodukten zusammensetzt. »Jahr für Jahr kommen junge Frauen nach New York wegen der zwei Ls: Labels und Liebe«, konstatiert die Lifestyle-Kolumnistin Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker) am Anfang des gleichnamigen Films zur Serie, der 2018 anlief, um ein bisher nie dagewesenes Product-Placement auf der großen Leinwand zu betreiben. Mehr als siebzig Marken der Mode-, Auto- und Alkoholindustrie wurden in den knapp 140 Minuten untergebracht. Regisseur Michael Patrick King erklärte seinen Film zur »teuersten Frauenzeitschrift der Welt«.

Mit dem Slogan »Schrei vor Glück« machte der 2008 gegründete Onlineversandhändler Zalando von sich reden, dieser Aufforderung kommen Carrie und ihre Freundinnen bereits Ende der neunziger Jahre nach. Gewiss, ekstatisch geht es mitunter auch in den Sexszenen zu, doch wahrhaft orgiastisch werden die Shoppingtouren zelebriert. Der »letzte Schrei« der Mode – hier wird er hörbar. Óscar de la Renta, Christian Lacroix oder Louis Vuitton sind nicht selten treuere Partner als die männlichen Bekanntschaften, passförmiger sind sie auf alle Fälle. Ob die Damen den Marken Charakter verleihen oder umgekehrt, vermag man nicht zu entscheiden, zumal viele Szenen durch nichts als die Lust am Shopping motiviert sind. Dezent ist es kaum, wenn die Kamera auf Logos zoomt oder der Apfel auf Carries Laptop verheißungsvoll leuchtet. Subtilität ist letztlich gar nicht gewollt, schließlich wird auch eine Modezeitschrift nicht trotz, sondern wegen der Werbeanzeigen gekauft.

Die vier Serienfiguren und die sie verkörpernden Schauspielerinnen wurden rasch zu Proto-Influencerinnen, insofern sie Millionen Frauen beeinflussten und den Konsum der zur Schau gestellten Modemarken ankurbelten. Keineswegs war es bei der Serienproduktion so, dass es sich überwiegend um bezahlte Werbekooperationen handelte, oft bestand das Sponsoring allein darin, dass die Unternehmen ihre Produkte gratis zur Verfügung stellten. Mit einem Budget von gerade einmal 15 ‌000 Dollar pro Folge sollte Ausstatterin Sabrina Wright auskommen, häufig blieb sie dank der edlen Kleiderspenden deutlich darunter, was sich für die Konzerne gewinnbringend auszahlte. Speziell kleinere Independent-Labels verstanden früh, dass die Serie eine ideale Werbeplattform bot.

Besonders bemerkenswert ist der Fall Manolo Blahnik: Der Hersteller von Luxusdamenschuhen war in der Modewelt bereits seit den siebziger Jahren ein Begriff, doch erst durch die Serie gelangte er zu internationaler Bekanntheit. Leitmotivisch tauchen die verschiedenen High Heels immer wieder auf, so wenn Carrie sich ein Paar kauft, um damit einer Nebenbuhlerin auf Augenhöhe begegnen zu können, oder wenn sie von einem bewaffneten Straßenräuber überfallen wird, der es selbstverständlich auch auf ihre Stöckelschuhe abgesehen hat. Im Kinofilm wird ein Paar Manolo Blahniks gar zu dem, was Alfred Hitchcock als »McGuffin« bezeichnete: ein Objekt, das keine wirkliche Bedeutung hat, aber die gesamte Handlung antreibt. Als Carrie endlich gemeinsam mit Mr. Big, dem ewigen Traummann seit Staffel 1, eine mondäne Wohnung bezieht, wird der extra für sie eingerichtete begehbare Kleiderschrank mit einem blauen Paar Manolo Blahniks, Modell: Satin Pumps133, eingeweiht. Doch die geplante Hochzeit, die zwar aus Liebe, aber nüchtern ökonomisch abwägend, ohne vorangegangenen romantischen Antrag geschlossen werden soll, platzt, als Mr. Big auf dem Weg zum Standesamt kehrtmacht, weil er plötzlich Bedenken hat, schließlich wäre es seine dritte Ehe. Carrie ist untröstlich, Samantha, Miranda und Charlotte können sie nur mit einem Kurztrip nach Mexiko wieder aufbauen. Nach einigen RomCom-typischen Irrungen und Wirrungen treffen sich Mr. Big und Carrie schlussendlich wieder in ihrem begehbaren Kleiderschrank, nun kniet er vor ihr und macht seinen Antrag. Er steckt ihr jedoch keinen Ring an den Finger, sondern zieht ihr die Manolo Blahniks an, in denen sie auch heiraten wird. Carrie wird Cinderella, Kostenpunkt: ca. 1000 Euro das Paar.

Die Figuren sprechen gern in Onelinern: »Meine erste eigene Louis Vuitton«, jauchzt etwa Carries Assistentin. »Dieser Ring ist mein schmuckgewordenes Ich«, erklärt Samantha. In Sex and the City 2 aus dem Jahr 2010 nimmt sie Carrie, Charlotte und Miranda mit zu einem Trip nach Abu Dhabi. Eingeladen wurde die PR-Managerin von einem Scheich, um eine Werbestrategie für sein neues Hotel zu entwickeln. In vier weißen Maybachs geht es in das Fünfsterne-Luxusresort, schon bald warten die ersten Abenteuer. So darf – wie bei den Reise-Influencern – ein Basarbesuch ebenso wenig fehlen wie das Kamelreiten in der Wüste. Für jeden Anlass gibt es ein eigenes Outfit.

Versammelt werden hier in zwei Stunden nahezu sämtliche Bildwelten, die wenig später Instagram – die Plattform wird im selben Jahr gegründet – prägen sollten. Der Film zeigt zudem eine globalisierte Welt, in der die westliche Hegemonie noch intakt ist: In einer Karaokebar singen die vier Frauen Helen Reddys feministischen Hit »I am Woman« von 1971 – das Publikum bilden Einheimische, Touristen, Bauchtänzerinnen und eine Fußballmannschaft. Emanzipation wird dabei gleichgesetzt mit Konsum, was bedeutet, dass man sie sich leisten können muss. Sex and the City ist eine frühe Form dessen, was Feministinnen wie Nancy Fraser als »1-Prozent-Feminismus« bezeichnen.5 Dabei wird die popkulturelle Vorherrschaft der USA unbekümmert zur Schau gestellt, selbst die Niqabs hat die Konsumindustrie unterwandert: Als Carrie und die anderen auf dem Basar vor wütenden Traditionalisten, die sich an der Offenherzigkeit der Touristinnen stören, in einen Laden für Trockenblumen flüchten, werden sie von vier verschleierten Frauen in ein Hinterzimmer geführt. Die Muslimas öffnen bald stolz ihre Gewänder, und darunter, wie Carrie selbst aus dem Off kommentiert, »versteckt unter vielen hundert Jahren Tradition, zeigte sich die diesjährige Frühjahrskollektion« der omnipräsenten Modekonzerne.

In die Fußstapfen von Carrie und ihren Freundinnen will 2009 in Shopaholic – Die Schnäppchenjägerin die Journalistin Rebecca Bloomwood (Isla Fisher) treten, jedoch ist ihre ökonomische Situation eine andere. Sie besitzt zwar ein halbes Dutzend Kreditkarten, aber diese hat sie allesamt überzogen, was ihre Shoppinglust mitnichten bremst. Zu einem Leben auf Pump stiften auch die Influencer tagtäglich an, nicht zuletzt, da sie ihre Posts häufig mit Rabattcodes versehen, die binnen weniger Stunden eingelöst werden müssen. Der Follower soll sich zur Not verschulden, keinesfalls aber darf er sich die Chance auf ein einmaliges Angebot entgehen lassen. Überdies glauben nicht wenige, dass die erfolgreiche Instagram-Karriere über die vorläufige Verschuldung führt. So kaufen Möchtegern-Influencer sich selbst teure Mode, um in Posts und Storys vorzugeben, von den Luxuslabels gesponsert zu sein – in der Hoffnung, eines Tages tatsächlich zu denen zu gehören, für die das Matthäus-Prinzip gilt: »Wer hat, dem wird gegeben.«

Der Protagonistin aus Shopaholic steht im Jahr 2009 ein solcher Weg noch nicht offen, noch ist Instagram nicht gegründet. Als die kaufsüchtige Rebecca in einer Nobelboutique plötzlich zu zweifeln beginnt, ob sie diesen hauchdünnen türkisfarbenen Schal angesichts all ihrer Schulden wirklich braucht, fängt die Schaufensterpuppe auf einmal zu reden an: »Nun, wer benötigt schon einen Schal?«, fragt sie spöttisch. »Eine alte Jeans um den Hals würde dich auch warmhalten, das ist, was deine Mutter raten würde. Doch das Entscheidende an diesem Schal ist, dass er ein Teil deiner Psyche sein wird«, fährt sie freundschaftlich fort – mit Erfolg. Die sprechenden Schaufensterpuppen, das sind heute die Influencer, die ihre Follower tagtäglich zum Kauf überreden. Rebecca erhofft sich von dem neuen Schal mehr Erfolg beim anstehenden Vorstellungsgespräch. »Investieren Sie« in dieses oder jenes Kleidungsstück, ermuntert das Nobelkaufhaus Breuninger seine Kunden bei besonders hochpreisigen Teilen. Diesem Leitsatz folgen auch Rebecca und die Influencer in ihren Lehrjahren.

Mit dem massiven Aufkommen der Influencer in den zehner Jahren schwindet die Wirkmacht des Kinos: Plötzlich häufen sich Artikel auf den Panorama-Seiten der Zeitungen, in denen von Influencern die Rede ist, die für Massenaufläufe inklusive Verkehrschaos und Großeinsatz der Polizei sorgen, da sie via Youtube oder Facebook (das damals noch für junge Leute relevant war) zu einem spontanen Fantreffen aufriefen, während Filmstars wie Robert Pattinson oder Emma Watson sich immer unbehelligter in der Öffentlichkeit bewegen können – die Paparazzi sind in der Selfie-Ära ohnehin weitgehend obsolet geworden. Sie erlebten ihre letzte Hochphase mit It-Girls wie Paris Hilton, Nicole Richie oder Lindsay Lohan (die deutschen Varianten waren mit Jenny Elvers, Kader Loth oder Ariane Sommer naturgemäß weniger glamourös) in den nuller Jahren. Doch auch hier hatte sich ein Paradigmenwechsel in der Aufmerksamkeitsökonomie bereits vollzogen: Während Lohan ursprünglich durch ihre Schauspielerei Berühmtheit erlangt hatte, verdankten die anderen ihre Prominenz rein performativen Akten auf roten Teppichen: Wer als Star auftritt, muss einer sein. Die It-Girls waren die Vorhut der Influencer, da sie zu Stilikonen erklärt wurden, die nicht nur lukrative Werbedeals unterzeichnen konnten, sondern auch eigene Produktlinien herausbrachten. Wesentlich unmittelbarer als das Kino, von dem sie sich jedoch die etablierten Pathosformeln des Startums borgten, beeinflussten sie ein junges Publikum, das sich täglich auf Internetseiten wie der des Boulevardmediums TMZ oder des Bloggers Perez Hilton (eigentlich Mario Armando Lavandeira Jr.) herumtrieb, um zu erfahren, wer mit wem gerade Sex hatte, Party machte oder Drogen nahm – und vor allem: wer dabei welches Kleid trug.

Die Diskussion, inwiefern ein Film oder eine Berichterstattung zur direkten Nachahmung animiert, ist müßig. Fakt ist, dass im März 2010 in der Vanity Fair die aufsehenerregende Reportage »The suspects wore Louboutins« über Teenager aus der Mittelschicht erschien, die in den Hollywood Hills in die Häuser der It-Girls eingebrochen waren, um den bewunderten Sternchen nahe zu sein, deren Kleidung, Schmuck und Louboutin-Schuhe zu stehlen und um sich mit den erbeuteten Fashion-Artikeln auf Facebook zu inszenieren.6 Die Teenager waren Follower im wahrsten Sinne des Wortes. 2013 setzt Sofia Coppola mit ihrem Film The Bling Ring, so der Name der Gang aus vier Mädchen und einem Jungen, ein Denkmal, mit dem das Kino allerdings auf einen Trend nur noch reagierte und ihn nicht mehr selbst setzte. Coppolas Ästhetik aber, die gekonnt auf Weichzeichner, zartrosafarbene Filter und Überbelichtung setzt, ist visionär, wenn die Figuren in ihren völlig austauschbaren Jugendzimmern inszeniert werden, wie sie sich die Kleider der Stars anlegen, für Fotos posieren, in kurzen Videos zu dröhnender Popmusik Faxen machen, als seien die Versprechen der Konsumindustrie wirklich wahr. Immer wieder zeigt Coppola in kurzen, mit lauter Musik untermalten Szenen die mit Haute Couture behangenen Protagonisten, die die Straße wie einen Catwalk entlanggehen oder auf dem Bett tanzend die Arme in die Luft werfen. Die chinesische App Tiktok lädt heute ihre mehr als zwei Milliarden Nutzer ein, ebensolche Videoschnipsel mit dem Smartphone zu produzieren. Auch diese Plattform haben die Influencer bereits erfolgreich erobert, und da Musik und Tanz keine Sprachbarrieren kennen, können nun nichtenglischsprachige Influencer noch besser internationale Popularität erreichen.

Die Mitglieder der Bling-Ring-Gang sind bei aller Skrupellosigkeit mehr Opfer als Täter, da sie dem schönen Schein wie Kleptomanen erlegen sind. Inwiefern auch die Influencer im »Verblendungszusammenhang« (Adorno) gefangen sind, wird noch zu untersuchen sein. Sie verhalten sich jedenfalls, zumindest vermitteln sie glaubhaft den Eindruck, nicht anders als Rebecca oder Carrie, indem sie selbst ihre besten Kunden zu sein scheinen. Womit die Influencer ein Grundproblem der Werbebranche lösen, das 2000 Nancy Meyers Film Was Frauen wollen noch mit einem hanebüchenen Plot zu meistern suchte: Mel Gibson spielt in der romantischen Komödie den kreativen Kopf einer Werbeagentur, die es bislang versäumt hat, Werbekonzepte für Produkte mit spezifisch weiblicher Zielgruppe (Lippenstifte, BHs etc.) zu entwerfen. Durch einen Stromschlag aber kann Gibson plötzlich die Gedanken von Frauen lesen und konzipiert eine gelungene Kampagne. Sich in den Kunden hineinversetzen will die Werbeindustrie seit je, Disziplinen wie die Psychologie, die Neurolinguistik und die Verhaltensforschung sollen dabei helfen. Mit den Influencern, die oftmals als gewöhnliche Kunden ihre Karrieren gestartet haben, lässt sich auf viel unmittelbarere Weise sagen, »was Kunden wollen«, und auch beeinflussen, was sie künftig wollen sollen.