Das Problem der Kapitalbesitzer, Waren nicht nur zu produzieren, sondern ihren Wert auch zu realisieren (sie also zu verkaufen), beschrieb Karl Marx bereits im zweiten Band des Kapitals. Erst wenn die Ware einen neuen Besitzer gefunden hat und gegen Geld eingetauscht worden ist, kann der Kapitalist aufatmen – passiert dies nicht, wird das investierte Kapital entwertet, und die Lagerung der überschüssigen Ware kostet zusätzlich. Liegt im Produktionsprozess die Macht auf Seiten des Kapitals, verhält es sich im Realisationsprozess genau umgekehrt, weshalb der Kunde dem Verkäufer voller Spott begegnen kann, wenn dieser ihm sein Leid klagt. So schildert Marx das Verkaufsgespräch zwischen Kunden und Warenbesitzer:
Der schließliche Käufer würde ihn [den Verkäufer] auslachen, wenn er sagte: Meine Ware war während sechs Monaten unverkaufbar, und ihre Erhaltung während dieser sechs Monate hat mir nicht nur soundso viel Kapital brachgelegt, sondern außerdem x Unkosten verursacht. Tant pis pour vous [Um so schlimmer für Euch], sagt der Käufer. Da neben Euch steht ein andrer Verkäufer, dessen Ware erst vorgestern fertig geworden ist. Eure Ware ist ein Ladenhüter und wahrscheinlich mehr oder minder angenagt vom Zahn der Zeit. Ihr müßt also wohlfeiler verkaufen als Euer Rival.1
Dieses Realisationsproblem des Kapitals versucht die Werbebranche seit ihrer Entstehung zu beantworten. Keine Stockung darf auftreten, kein Nachfragemangel soll herrschen, und so erweist sich das Werbegeschäft für die kapitalistische Produktionsweise als ebenso überlebenswichtig, wie es selbst von dieser abhängig ist. Zwar gab es bereits lange vor der industriellen Revolution Frühformen der Werbung (so wie auch schon vor der Herausbildung des Kapitalismus Waren für den Tausch produziert wurden, ohne dass deshalb die Tauschform gegenüber der Subsistenzwirtschaft ökonomisch dominant geworden wäre), doch erst mit dem Anbruch des industriellen Zeitalters konnte die Wirtschaftswerbung zu ihrer vollen Reife gelangen. So schreibt Hanns Buchli in seiner Geschichte der Reklame,
daß schon im Juli 1734 in Paris eine polizeiliche Verordnung erschienen ist, welche das Verteilen von gewerblichen Flugblättern verbot, und zwar ist dieses Verbot zweifellos auf die damals noch bestehenden Zunftordnungen und weiteren Einschränkungen der gewerblichen Freizügigkeit zurückzuführen.2
Preisunterbietungen, die heute wohl als Wettbewerbsmittel zum Vorteil der Konsumenten gedeutet würden, sollten durch dieses Verbot verhindert werden. Erst als die Fesseln der feudalen Produktionsweise gesprengt waren, konnte sich mit dem Kapitalismus auch die Werbung entfalten.
Hierbei spielten gedruckte Zeitungen eine entscheidende Rolle. Buchli zufolge »publizierte der ›Moniteur Universel‹, wohl als erste Zeitung der Welt, am 5. Mai 1789« – im Jahr der Französischen Revolution also – »seine Inseratenpreise«. Nur zwei Jahre später, im Jahr 1791, wurde dann in Frankreich »ein Gesetz erlassen, welches die unbeschränkte Freiheit der Arbeit, Industrie und der Ausnützung jedes Gewerbes gewährte, und es war damit allen anderen Staaten weit voraus«.3
Von Inseraten bis hin zur Produktwerbung: Gemeinsam mit der Marktwirtschaft war eine neue Branche im Entstehen begriffen, die sich langsam zu einer eigenständigen entwickelte und zur Aufgabe hatte, die frohe Kunde der schönen Warenwelt omnipräsent werden zu lassen. Große Kampagnen in Zeitungen, im Radio und Fernsehen, auf der Litfaßsäule oder auf dem Smartphone sind seitdem ständige Begleiter des Kapitalismus, so dass sich eine neue Form der Ästhetik herausbildete, die Wolfgang Fritz Haug in den frühen siebziger Jahren als »Warenästhetik« analysiert hat.4
Für sie ist ein Widerspruch konstitutiv, der bereits früh von Marx im Kapital analysiert wird: die Unterscheidung zwischen Tausch- und Gebrauchswert. Der Käufer interessiert sich für die Ware, da sie für ihn einen praktischen Nutzen – mit Marx gesprochen: einen Gebrauchswert – hat. Praktisch meint hier nicht bloß den basalen Zweck einer Ware (etwa »Wärmt der Schal ausreichend?«), sondern auch, dass der Schal den Käufer jünger, erotischer oder modischer aussehen lässt.
Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache,
stellt Marx fest.5 Anders verhält es sich jedoch beim Warenbesitzer: Für ihn besitzt die Ware keinen praktischen Nutzen – täte sie dies, würde er sie wohl kaum verkaufen –, außer dass sie Trägerin von Tauschwert ist. Dieser Widerspruch ist der Ausgangspunkt von Haugs Kritik der Warenästhetik:
Vom Standpunkt des Gebrauchswertbedürfnisses ist der Zweck der Sache erreicht, wenn die gekaufte Sache brauchbar und genießbar ist. Vom Tauschwertstandpunkt ist der Zweck erfüllt, wenn der Tauschwert in Geldform herausspringt. Soweit die Logik des Tauschs bestimmend ist, gilt dem Verkäufer das, was dem andern Lebensmittel ist – die materiellen und immateriellen Dinge, deren dieser zum Leben bedarf –, ja fungiert praktisch das Leben des andern als bloßes Medium und Instrument, um an den Tauschwert zu kommen.
Dieser Widerspruch zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen Tausch- und Gebrauchswert, findet in der Warenästhetik eine »Scheinlösung«. Sie schafft ein »Gebrauchswertversprechen«,6 das den Kunden davon überzeugen soll, dass der Kauf der Ware seinem Wohlbefinden – und nicht der Bereicherung des Verkäufers – dient. Dies geschieht durch das ansprechende Design der Waren sowie die Verwandlung der Ware in eine Marke.
»Vergessen Sie einfach das Wort Banane!« inserierte 1967 die United Fruit Company (UFC) in der Bundesrepublik. »Merken Sie sich Chiquita!« Es gibt Warengattungen, für die den Menschen in den gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften keine Gebrauchswertbegriffe mehr zur Verfügung stehen.
»An ihre Stelle«, resümiert Haug, »ist der gesetzlich geschützte Warenname getreten.«7
Für die Entstehung der Marke ist die Werbung konstitutiv, das von ihr erzeugte Gebrauchswertversprechen fällt jedoch selten mit dem realen Gebrauchswert zusammen, vielmehr handelt es sich um »ästhetischen Schein«: Die Ware wird gewissermaßen doppelt produziert: »erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes«.8 So inszenieren Fernsehspots eine Verbindung zwischen der Nutzung eines Parfums und sinnlicher Liebe – wohlwissend, dass sich Letztere in der Realität selten durch das bloße Einsprühen mit einem Duftstoff einstellt.
Durch diesen Schein soll sichergestellt werden, dass nicht zum Ladenhüter wird, was unter Kapitaleinsatz und unternehmerischem Risiko produziert wurde. Und wie das Kapital permanent akkumuliert und reinvestiert wird, muss auch die Werbung dauerhaft neue Bedürfnisse kreieren, damit es zu keiner Stockung kommt. Zur Illustration beschreibt Haug die in die Krise geratene westdeutsche Modeindustrie der sechziger Jahre, die zu drastischen Mitteln griff, um neue Anzüge zu verkaufen:
Das Ergebnis waren Slogans, die Angstpotenziale mobilisierten, um am geltenden Standard des Aussehens des anständigen, ordentlichen und gepflegten Bürgers zu rütteln. »Wer Grau trägt, ist feige«, wurde proklamiert. »Alte Mäntel machen dick!« – »Alte Anzüge machen Männer müde!« – »Immer denselben Mantel tragen, ist wie aufgewärmtes Essen. Langweilig.« Alt – und das hieß konkret: älter als eine Saison – und Grau sollten gleichbedeutend werden mit feige, dick, müde und langweilig.9
Nicht immer sind die Kampagnen dermaßen nötigend, dennoch ist die Funktion der Werbung im Kapitalismus bis heute dieselbe: Sie soll die ständige Reproduktion des Kapitals absichern, indem den Konsumenten neue Waren schmackhaft gemacht werden, selbst wenn die alten vom Standpunkt des Gebrauchswerts ihre Funktion noch vollständig erfüllen. Und wie die Warenästhetik immer wieder die Erneuerung der Produktpalette besingen muss, wurde auch sie im Zuge der aufkommenden Massenmedien in immer kürzeren Zyklen revolutioniert.
So war die Werbebranche seit der Jahrtausendwende bereits mehrfach gezwungen, auf Änderungen im Medienkonsum zu reagieren: Als etwa die Bedeutung von Fernsehspots abnahm, wurde ab Beginn der nuller Jahre das Product-Placement zur bevorzugten Werbeart. Dies lag vor allem daran, dass durch Aufzeichnungen, aber auch durch Pay-TV-Angebote die Möglichkeiten der Mediennutzer gewachsen waren, Werbeunterbrechungen zu umgehen.10
Ab nun band man Waren immer stärker in Sendungen, Serien und Filme ein, wodurch die Wirkmächtigkeit verstärkt wurde. Ohne Gefahr zu laufen, die Zuschauer könnten umschalten, blieb der werbende Faktor erhalten, das Produkt wiederum wurde mit der Sendung assoziiert. Doch dieser Effektivitätsschub ist kaum zu vergleichen mit demjenigen, der durch die Kommerzialisierung des Internets ermöglicht wurde.
Nun wurde real, was der Werbeindustrie lange Zeit wie ein ferner Zukunftstraum erschienen war: die personalisierte Werbung, die gezielt Interessenten ansprach und nicht nur in der Breite (und damit an vielen vorbei) warb, wie es im Falle von Fernsehspots und ganzseitigen Zeitungsanzeigen der Fall gewesen war. Digitale Großunternehmen haben sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte darauf spezialisiert, Nutzerdaten zu sammeln und auszuwerten, um effektiver als je zuvor werben zu können.
Die Krönung dieser Entwicklung der Onlinewerbung stellen zweifelsohne die Influencer dar. Wer werben will, muss nicht mehr umständlich herausfinden, wie die Zielgruppe anzusprechen ist: Ein Produzent von Nahrungsergänzungsmitteln muss lediglich einen Fitness-Influencer finden, der sich kooperativ zeigt und einer Produktplatzierung in seinem Onlinealltag zustimmt. Die Entlohnung der lebenden Litfaßsäule kann dann sogar vom Erfolg ihrer Werbewirkung abhängig gemacht werden (etwa mit sogenannten Affiliate-Links, durch die Firmen zur Kenntnis nehmen, wenn Nutzer vom Profil eines Influencers in den Webshop weitergeleitet werden), so dass große Enttäuschungen und Fehlinvestitionen vermieden werden. Die Social-Media-Stars wiederum schaffen durch die Bebilderung ihres Alltags Intimität, ohne aufdringlich zu werden, sie erscheinen wie Freunde, die ihren Followern voll guter Absichten ein Produkt empfehlen. In Wahrheit helfen sie vor allem sich selbst – und dem krisengebeutelten System bei der Realisation des Kapitals.
Denn es kann kein Zweifel daran herrschen, dass die kapitalistische Produktionsweise – zumindest in den westlichen Staaten – in einer seit einem halben Jahrhundert andauernden Krise steckt. Diese bittere Diagnose stellen keineswegs nur die Kritiker, sondern auch die Anhänger des Kapitalismus ihrem Patienten. So sprach der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers 2013 von einer »säkularen Stagnation« und einem »Dauerzustand langsamen Wachstums«11 in den kapitalistisch verfassten Staaten. Diese erlebten zwar in den Nachkriegsjahrzehnten einen in der Menschheitsgeschichte einmaligen Anstieg des allgemeinen Wohlstands, doch spätestens mit der letzten großen Finanzkrise im Jahr 2008 wurde offenkundig, was lange Zeit verdrängt worden war: nämlich dass seit dem Einbruch der Wachstumsraten in den siebziger Jahren die Krisenbewältigungsstrategien der demokratischen Regierungen nur dazu gedient hatten, dem geschwächten System Zeit zu kaufen.
Wenn Philipp Staab heute die Herausschälung eines »genuin digitalen Kapitalismus«12 spätestens auf die Jahre nach 2008 datiert, ist dies also kein Zufall. Seither hat sich mit dem Siegeszug der großen Netzplattformen ein neues Akkumulationsregime etabliert.13 Den damit einhergehenden Aufstieg der Influencer kann nur verstehen, wer den jüngsten historischen Übergang in der Geschichte des Kapitalismus mitsamt seinen Neuerungen und Kontinuitäten begreift.
Das fordistische Wirtschaftsmodell der Nachkriegsjahrzehnte hatte in vielen westlichen Staaten für einen Boom gesorgt. Langlebige Konsumgüter wurden in Masse produziert und konsumiert, viele Haushalte konnten sich zum ersten Mal einen Fernseher oder ein Auto leisten. Millionen Menschen wurden aus der Armut herausgehoben,14 die Zuwächse der Arbeitsproduktivität und des geschaffenen Wohlstands waren konstant hoch und wurden auch an die Arbeitenden weitergegeben: in Form an die Produktivitätssteigerung gekoppelter Lohnerhöhungen und kürzerer Arbeitszeiten. Ab Beginn der siebziger Jahre kam dieses Akkumulationsregime jedoch ins Stocken. Das Problem: Die Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern wurde geringer, als beinahe jeder Haushalt über Kfz und Waschmaschine verfügte. Die »Saturierung der Märkte und die wachsenden Unterkonsumptionsprobleme in der Gesamtökonomie«15 wurden somit zum Fallstrick für die kapitalistischen Industriestaaten, deren Aufschwungsstrategie sich erschöpft hatte. Auch die Bewältigungsversuche der Regierungen schufen jahrzehntelang kein aussichtsreiches Modell, das mit vergleichbaren Aufstiegschancen für eine breite Bevölkerungsmehrheit verbunden gewesen wäre. Stattdessen wurde die Nachfragekrise immer wieder verschoben, zuletzt durch die steigende Verschuldung privater Haushalte, der eine Liberalisierung und Expansion der Finanzmärkte vorausgegangen war.16 Stagnierende Löhne, steigende private Verschuldung – diese Wachstumsstrategie konnte nicht von Dauer sein, und sie nahm immer absurdere Züge an: So berichtete das Handelsblatt 2004, der durchschnittliche US-Bürger verfüge über sechs (!) Kreditkarten.17
Diese Versuche, die Nachfrage durch einen »privatisierten Keynesianismus« (Colin Crouch) zu stimulieren, stießen mit der US-Häuserkrise ab 2006 an ihre Grenzen, als massenweise Kredite mit geringer Bonität ausfielen, was eine Reihe globaler Finanz-, Währungs- und Wirtschaftskrisen nach sich zog. Dies war der (vorläufige) Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten angebahnt hatte und die immer wieder verschoben worden war. Der digitale Kapitalismus stellt eine Reaktion auf sie dar, aber keine Lösung.
Eine solche wäre nämlich ein neues Akkumulationsregime, das einen mit dem der Nachkriegsjahrzehnte vergleichbaren materiellen Aufschwung mit sich bringen würde – und damit Quelle einer dringend notwendigen Relegitimation des Kapitalismus wäre. Doch von einer solchen Erneuerung ist, gerade mit Blick auf die digitalen Giganten, bis heute nichts zu sehen. Abgesehen von Apple, dessen Hauptgeschäft tatsächlich in der Produktion von Hardware besteht, verfügen die übrigen drei Gafa-Unternehmen (Google, Amazon, Facebook) derzeit über kein Geschäftsmodell, das eine breite Wohlstandsmehrung mit sich bringen könnte. Bis auf AWS, den Cloud-Dienst von Amazon, verdienen sie vor allem durch die Werbung für Güter (Google, Facebook) bzw. durch den Verkauf ebendieser (Amazon). Zugespitzt gesprochen: Sie sind in einem materiellen Sinne »unproduktiv« und leben fast ausschließlich von Werbung und von Renten, das heißt von Margen, die sie aufgrund ihrer Machtposition im kommerziellen Internet beziehen können.
Diese »Vermachtung« des Internets führt Philipp Staab auf die Entstehung neuer Märkte zurück, die er als »proprietäre Märkte« beschreibt. Staab zufolge funktionieren diese wie ein »Marktplatz in Privatbesitz«,18 so dass die Marktbesitzer den Zugang kontrollieren können, aber auch selbst ihre Gewinnmargen bestimmen:
Was beispielsweise hält Google oder Apple davon ab, statt dreißig Prozent vierzig Prozent der App-Store-Umsätze für sich zu reklamieren? Wer seine Margen selbst bestimmt, kann sich auch unter Bedingungen der Stagnation satte Gewinne und exorbitantes Wachstum leisten.19
Genau deshalb sind die Digitalkonzerne bei Anlegern so beliebt, sie erscheinen wie eine letzte ertragreiche Anlagequelle in einer Wüste der Stagnation. Insbesondere bei Google und Facebook ist jedoch erkennbar, dass sie bis heute kein Geschäftsmodell entwickelt haben, das über die Sammlung und Auswertung von Nutzerdaten und personalisierte Werbeanzeigen hinausgeht. Diese von Anlegern immer wieder monierte Abhängigkeit vom Werbegeschäft wird in den Quartalsberichten der Oligopolisten deutlich: Die darin aufgeschlüsselten Umsätze lassen etwa erkennen, dass weit über 80 Prozent der Alphabet-Umsätze durch Google- und Youtube-Werbung generiert werden (im Jahr 2019 entstammten 134,8 der von Alphabet eingenommenen 161,8 Milliarden US-Dollar dem Advertisement). Noch dramatischer ist die Abhängigkeit Facebooks von Werbegeldern: Im dritten Quartal 2020 entstammten 21,221 von 21,470 Milliarden umgesetzten US-Dollar dem Werbegeschäft – eine Quote von fast 99 Prozent.20
Diese digitalen Großunternehmen konzentrieren sich also nicht auf die Produktion eigener Güter,21 sondern vermitteln vorrangig Unternehmenswerbung an potenzielle Kunden. Somit reagieren sie durchaus auf die Nachfragekrise, in der sich der Kapitalismus seit Jahrzehnten befindet, optimieren die Werbewirkung und generieren so gewiss Umsätze für die werbenden Unternehmen. Das grundsätzliche Problem der Marktsaturierung und des allgemeinen Nachfragemangels durch stagnierende Löhne wissen sie jedoch nicht aufzulösen. So gesehen »erscheint die Plattformökonomie letztlich eher als eine Zuflucht für Überschusskapital in einer Zeit ultraniedriger Zinsen sowie trüber Investitionsaussichten und nicht so sehr als eine Avantgarde, die den Kapitalismus neu beleben wird«, wie Nick Srnicek feststellt.22
Mit der Kommerzialisierung des Internets geht auch der Aufstieg der Influencer einher. Sie optimieren die Rolle der digitalen Kapitalrealisateure. Zwar können die großen Plattformen durch ihre Fähigkeit, gigantische Datenmengen zu erheben und zu analysieren, Konsumwünsche gezielt ansprechen. Dennoch handelt es sich dabei im Regelfall um klassische Werbeanzeigen, während die Influencer das perfektionierte Testimonial sind. Mit diesem Begriff wird in der Marketingliteratur eine Werbeform bezeichnet, in der Prominente Produkte empfehlen und die vor allem von der Glaubwürdigkeit ihrer Protagonisten lebt. Diese Methode ist zwar älter als das kommerzielle Internet – die ikonische Haribo-Werbung des Fernsehmoderators Thomas Gottschalk ist nur ein berühmtes Beispiel von vielen –, doch durch den digitalen Kapitalismus konnte das Testimonial zur entscheidenden Werbeform der Gegenwart aufsteigen. Ob Fernsehmoderatoren tatsächlich zur Süßigkeit greifen, muss den Zuschauern zwangsläufig ein Geheimnis bleiben, bei den Influencern verhält es sich anders. Sie filmen sich und ihre Produkte täglich selbst – Fitness-Influencer beim Anrühren und Trinken von Proteinshakes, Beauty-Influencer beim Schminken usw. –, so dass die Glaubwürdigkeit des digitalen Testimonials gegenüber der Fernsehwerbung mit Prominenten deutlich höher ist. Und noch in einer weiteren Hinsicht sind die Influencer klassischen Formen der Werbung überlegen: Das Modell der Anzeigenwerbung im Netz ist immer stärker von sogenannten Ad-Blockern bedroht. Nutzern werden dann keine Werbeanzeigen mehr angezeigt, wodurch das klassische Geschäft von Google oder Facebook in die Krise geraten könnte.23 Die Influencer lassen sich jedoch nicht mit einem Ad-Blocker entfernen, da sie lediglich »Content« generieren, in den die Produkte eingebunden werden – und die Nutzer wollen sie auch gar nicht blockieren, da sie die Influencer nicht als Störung, sondern als Bereicherung wahrnehmen. Die Welt scheint auf den Kopf gestellt: Wurde Werbung früher als lästig empfunden – von Unterbrechungen spannender Filme in Fernsehausstrahlungen bis hin zu blinkenden Werbeanzeigen am Rande von Onlineartikeln –, ist dies auf Youtube und Instagram nicht der Fall. Stattdessen sehen sich die Nutzer sozialer Medien täglich die banalen Szenen des mit Produkten ausstaffierten Influencer-Alltags, sprich: reine Dauerwerbesendungen an. Gerade die alltäglichen Momente sind es, die den Schein der Authentizität erzeugen und den Konsum der Ware als etwas Selbstverständliches, fast schon Natürliches erscheinen lassen.
Auf Instagram sind diese Szenen meist in die Story eingebunden. Storys wurden ursprünglich vom Konkurrenten Snapchat entwickelt und dann von Instagram kopiert: In ihnen lassen sich kurze Videoclips und Fotos hochladen, die nach 24 Stunden automatisch gelöscht werden – so sind die Fans ihren Idolen immer tagesaktuell nah. Zwar kann man auch dauerhaft abrufbare Beiträge auf Instagram stellen, doch die Einbindung der Produkte in den flüchtigen Alltag ist für Werbepartner die perfekte Mischung aus Product-Placement und Testimonial. Zudem werden die Zuschauer durch die automatische Löschung der Story-Beiträge dazu animiert, täglich die Profile ihrer Idole aufzurufen, um keinen Moment zu verpassen. Snapchat-Gründer Evan Spiegel, der sich von Instagram betrogen fühlt, erklärt sein Tool folgendermaßen: »Jeden Tag aufzuwachen und einen neuen Tag vor sich zu haben, aber nicht daran gemessen zu werden, wie man sich noch gestern dargestellt hat, ist wirklich lebensbejahend und anregend.«24 Und es ist verkaufsfördernd: Täglich können neue Produkte beworben werden, vergessen ist ohnehin, womit sich der Influencer letzte Woche noch die Lippen pflegte oder die Haare wusch.
Sind die Influencer besonders umtriebig, müssen sie auf Instagram nicht nur für fremde Produkte werben. Ganz besonders Beauty-Influencer tun sich bei der Produktion eigener Marken hervor und vertreiben Kosmetika unter ihrem Namen, die häufig von der Community euphorisch aufgenommen werden. Neben diesen materiellen Produkten können aber auch E-Books (häufig mit Fokus auf Themen wie Finanzen, Beauty und Selbsthilfe – oder wie es neuerdings heißt: Selbstliebe) und Instagram-Filter (sogenannte Presets) erworben werden, die die Nutzer über ihre Bilder legen können, um ihren Idolen etwas ähnlicher zu werden.
Auf Youtube sind die Möglichkeiten, Werbeeinnahmen zu generieren, noch größer: Zuallererst werden die Influencer von Google an den Einnahmen beteiligt, die der Konzern durch die den Videos vorgeschalteten Spots generiert. Aber auch im Video kann geworben werden, etwa durch Sponsorings und Product-Placements in Vlogs, die den Alltag der Influencer zeigen. Nicht selten enthalten die Videobeschreibungen unzählige Links zu anderen Websites. Jedes einzelne Kleidungsstück, jedes Besteckset, jede erwähnte Marke wird verlinkt, häufig mit Verweis auf Rabattcodes. Gekrönt wird die Youtube-Werbung durch Videos, die nur Produkte enthalten. Bei den Nutzern sind Unboxing-Videos, die das Auspacken von Produkten in Szene setzen, ebenso gern gesehen wie Beiträge, in denen die Protagonisten auf Shopping-Tour gehen – meist in Verbindung mit lustig anmutenden Herausforderungen (oder im digitalen Neusprech: »Challenges«): »1 Minute Zeit um 500 € auszugeben!«, »Jeden PINKEN Artikel den ich sehe, muss ich kaufen« und »Das komplette Alphabet bestellen!« heißen nur drei Videos der berühmtesten Beauty-Youtuberin Deutschlands, die den Einkauf mit Entertainment verquicken.
Es ist, als hätten Millionen junge Zuschauer Teleshopping-Kanäle zu ihren liebsten Fernsehsendern erkoren. Die Influencer haben die Werbung perfektioniert und konkurrieren nun sogar mit den Netzgiganten auf deren eigenen Plattformen. Youtube gehört schon seit 2006 zu Google, Instagram wurde 2012 von Facebook aufgekauft. Die Influencer graben den Großunternehmen so einen immer größeren Teil ihrer Einkünfte ab, die ohnehin stark durch Ad-Blocker gefährdet sind. (Diese Werbeblocker werden bei Instagram ausgebremst, da die Plattform nach wie vor als Smartphone-App konzipiert ist, die sich an PCs nur eingeschränkt nutzen lässt.) Das Verhältnis zwischen den Influencern und den Besitzern der Plattformen ist daher ein ambivalentes. Google und Facebook sind auf jeden »Content-Creator« angewiesen, der Nutzer auf ihre Plattformen lockt – gleichzeitig konkurrieren sie mit ihm um Werbekunden.
Diese Dynamik kommt auch in Machtspielen zwischen beiden Parteien zum Ausdruck. So erläutert eine erfolgreiche Youtuberin zu Beginn eines ihrer Videos (in welchem erklärt wird, wie das Dekolleté ansprechend drapiert wird), dass sie nicht von »Brüsten« sprechen dürfe, da ihr Video ansonsten weniger Nutzern angezeigt werde. Durch scharfe (und häufig prüde) Nutzungsbedingungen werden die Netzstars gezwungen, sich den Vorgaben der Betreiber anzupassen. Wer nicht spurt, wird vom Algorithmus bestraft und droht, in Vergessenheit zu geraten.
In Extremfällen gehen die Plattformen sogar dazu über, Kanäle zu sperren, wenn sich deren Betreiber nicht an die Nutzungsbedingungen halten. Die Idealvorstellung, die Influencer würden über ihre Produktionsmittel25 vollends selbst verfügen, ist daher realitätsfern. Zwar sind sie im Besitz ihrer Smartphones und Instagram-Accounts, aber sie hängen dauerhaft von der Gnade der Plattformen ab, auf denen sie sich präsentieren. Die wichtigsten Produktionsmittel für das Influencer-Business, nämlich die Plattformen selbst, liegen in den Händen der digitalen Großkonzerne, weshalb diese den Influencern die Spielregeln diktieren können. Auf den Netzprominenten lastet somit die permanente Bedrohung, sie könnten als Nächstes schlechter gerankt, seltener angezeigt oder gar gesperrt werden. Trotz ihres mitunter exorbitant hohen Einkommens ist ihre Lage prekär.