Eine ganze Weile blickten wir ratlos auf die Gazette.
«Der Botschafter hat mit seinem Anhang im Palast der Colonna vor den Plünderern Zuflucht gesucht», sagte ich und tippte auf die Stelle. «Also war dieser Sekretär wahrscheinlich dabei. Und anschließend ist er verschwunden.»
Wieder tauschte ich einen Blick mit Gennaro, der Bartolomeo nicht entging. Eine Weile sagte niemand etwas. Bartolomeo musterte uns aufmerksam.
«Ihr habt sehr wohl die Leiche gefunden», stellte er schließlich fest.
«Blödsinn», fauchte Gennaro.
«Erzählt mir nichts, ich bin Priester. Seit über vierzig Jahren versuchen die Leute, mich im Beichtstuhl anzulügen, und da sind noch ganz andere Früchtchen dabei als ihr beiden.»
«Na gut», sagte ich nach einem erneuten Blickwechsel mit Gennaro. «Wir haben ein Skelett gefunden, das an jeder Hand sechs Finger hatte. Keine Ahnung, ob es dieser Sekretär war.»
«Wo?»
«Im Garten der Colonna, beim Nerogiebel. Hinter dem Palast.»
«Interessant. Was habt ihr mit dem Skelett gemacht?»
«Wir haben es wieder vergraben», sagte Gennaro.
«Und dabei natürlich ein Gebet für seine Seele gesprochen.»
«Natürlich.»
«Schon wieder gelogen.»
«Mein Gott, das hätte auch nichts mehr gebracht! Es sitzt doch keiner vierzig Jahre lang im Fegefeuer!»
«Du, mein Lieber, wirst noch viel länger drinsitzen.»
«Wo warst du eigentlich damals?», lenkte Gennaro ab.
«Auf dem Pincio. Die Theatiner hatten da ein Haus und eine kleine Kirche. Ich kannte einen der Brüder, und der ließ mich dort unterschlüpfen. Ein frommer Mann versorgte uns mit Essen, aber natürlich stand nach ein paar Tagen auch bei uns eine Bande von Spaniern vor der Tür. Wir hatten uns in die Kirche geflüchtet. Sie traten das Portal ein und hieben mit ihren Schwertern die Lampenseile durch. Es war ein einziges Inferno: der ganze Boden voller brennender Öllachen, überall Rauch, aber wir beteten hustend und röchelnd zwischen den Flammen weiter. Sie schnappten sich Gian Pietro Carafa und folterten ihn, aber es gab nichts, was er hätte verraten können. Wir hatten kein Geld.»
«Moment», unterbrach ich ihn. «Gian Pietro Carafa? Der spätere Papst?»
«Natürlich. Er war die ganze Zeit bei uns. Es war schließlich sein Orden.»
«Du kennst ja Leute», sagte Gennaro. «War der damals auch schon so verkniffen?»
«Er war nicht verkniffen, sondern standhaft. Gian Pietro Carafa ließ sich nicht einschüchtern und bot den Plünderern die Stirn, so wie er später den Ketzern die Stirn geboten hat.»
«Und dann?», drängte ich, um den Streit zu ersticken, bevor er wieder aufflammen konnte.
«Zuerst brachten sie uns in ein Haus an der Piazza Navona, wo die Offiziere residierten, dann schleppten sie uns weiter zum Petersdom und sperrten uns in einen Raum über der Uhr in der Fassade. Wir warteten auf die Lösegeldforderungen, während die Landsknechte nebenan den Papstpalast auseinandernahmen und die Uhr ganz ungerührt die Stunden schlug. Und weil wir nichts zu tun hatten, sangen wir. Ein spanischer Oberst hörte den Gesang und war davon so gerührt, dass er unsere Freilassung erwirkte. Wir wurden zum Hafen geleitet und auf einem Kahn nach Ostia gebracht. Dort besorgte der venezianische Botschafter uns eine Galeere, die uns in Sicherheit brachte.»
«Ach was! Der venezianische Botschafter war mit euch in Ostia?»
«Ja. Isabella Gonzaga war übrigens auch dabei. Ihr Sohn, Ferrante Gonzaga, hatte dafür gesorgt, dass sie und ihr Gefolge Geleitschutz bekamen. Wir mussten in Ostia wegen des schrecklichen Wetters ein paar Tage auf die Schiffe warten. Domenico Venier, so hieß der Botschafter, spielte sich furchtbar auf. Dabei wäre er der Markgräfin auf der Flucht aus der Stadt vor Angst fast unter den Rock gekrochen, wie man hörte.»
«Und …»
«Nein, euer Sekretär war nicht dabei. Irgendjemand sagte, dass er spurlos verschwunden sei, aber danach wurde er nicht mehr erwähnt. In dem ganzen Durcheinander waren so viele Leute verschwunden, dass sich niemand weiter darüber wunderte. Alle waren damit beschäftigt, ihre Haut zu retten.»
«Und was wurde aus Venier?»
«Er wurde abberufen. Er war nicht nur ein Waschlappen, sondern hatte auch als Botschafter versagt. Angeblich hatte er sich im Vorjahr vom Papst bei den Bündnisverhandlungen über den Tisch ziehen lassen und Zugeständnisse gemacht, die nicht mit der Regierung abgestimmt waren. Er reiste mit der Markgräfin nach Mantua. Isabella hatte für sein Lösegeld gebürgt. Sein Dank bestand darin, dass er sich klammheimlich nach Venedig absetzte und in der Versenkung verschwand. Die Markgräfin schrieb ein paar wütende Briefe an die Signoria, aber das Geld sah sie nie wieder.»
Gennaro und ich debattierten ein bisschen hin und her, was dafür und was dagegen sprach, dass es sich bei unserem Skelett tatsächlich um den Sekretär von Domenico Venier handelte.
Bartolomeo ließ uns eine Weile reden und dachte angestrengt nach.
«Dass mir das nicht gleich eingefallen ist», sagte er schließlich leise. «Wisst ihr, wen ihr fragen könntet?»
«Wen?», fragte Gennaro.
«Mercuria. Die war auch bei den Colonna im Palast.»
«Im Ernst?»
«Ja, das hat sie mir mal erzählt. Jeder, der irgendwie Beziehungen hatte, war damals dort untergeschlüpft, und wenn unsere Mercuria eins ja wohl immer schon gehabt hat, dann waren das Beziehungen. Die Colonna waren die wichtigsten Verbündeten des Kaisers. Ihr Palast war das einzige sichere Gebäude in ganz Rom. Wenn ihr was darüber wissen wollt, dann müsst ihr Mercuria fragen. Vielleicht erinnert die sich noch an Venier und seinen Sekretär. Allerdings redet sie nicht gern über diese Zeit.»
Den letzten Satz bekam Gennaro kaum noch mit, so schnell war er zur Tür hinaus. Auch ich war neugierig, doch etwas hielt mich davon ab, ihm gleich hinterherzurennen. Ich dachte an meinen ersten Abend mit Mercuria, an ihren plötzlichen verzweifelten Ausbruch. Es gab tatsächlich Dinge, über die sie nicht sprechen wollte. Und auf keinen Fall wollte ich sie noch einmal in eine solche Lage bringen, indem ich in ihrer Vergangenheit herumbohrte. Als ich mich einen Augenblick später dann doch aufraffte und Gennaro in den Innenhof folgte, trieb mich weniger die Neugier als vielmehr die Sorge, Gennaro könnte mit seinen stürmischen Fragen Schaden anrichten. Ich hatte das Bedürfnis, Mercuria vor ihm zu beschützen.
Bartolomeo machte keine Anstalten, sich mir anzuschließen. Er blieb einfach sitzen. Wusste er mehr? Bereute er es schon, uns überhaupt diesen Hinweis gegeben zu haben?
Doch Mercuria war gar nicht da. Gennaro klopfte noch ein paarmal an ihre Tür, dann gab er es auf. Eine Weile standen wir unschlüssig herum. Gennaro schien keine Lust zu haben, zurück ins Haus zu gehen, nur um dort herumzusitzen und sich womöglich wieder mit Bartolomeo zu streiten. Also beschlossen wir, eine Runde über den Campo dei Fiori zu drehen und uns anschließend ein bisschen die Kehle anzufeuchten.
Kaum waren wir auf die Straße getreten, da merkten wir schon, dass auf dem Campo etwas vor sich ging. Leute strebten dem Platz zu, fast ausschließlich Männer, lüsternes Grinsen in den Gesichtern, Augen voller Schadenfreude und Geilheit.
«Gibt’s eine Hinrichtung?», fragte Gennaro.
«Viel besser», antwortete einer im Vorbeigehen.
Gennaro machte ein angewidertes Gesicht. «Wollen wir uns das antun?»
«Haben wir das nötig?», fragte ich zurück.
«Gott bewahre. Aber manchmal schaue ich mir ganz gerne diese Schwachköpfe an und freue mich, dass ich nicht so einer bin. Nur deswegen.»
«Natürlich», sagte ich. «Nur deswegen.»
Vielleicht sollte ich das kurz erklären. Nach drei Jahren unter dem Pontifikat von Ghislieri waren die Leute damals schon einigermaßen abgestumpft gegen die Art von Theater, die uns nun wieder einmal bevorstand. In seinem Eifer, das Laster zu bekämpfen, begnügte sich Pius nämlich nicht damit, die Kurtisanen in den Hortaccio zu sperren, nein: Er ließ sie auch für jede Kleinigkeit inhaftieren und auspeitschen. Es reichte, dass eine bei Nacht das eingemauerte Wohngebiet verließ, an Feiertagen oder während der Fastenzeit ihre Dienste anbot oder gegen das Kutschenverbot verstieß. Die Züchtigungen wurden auf öffentlichen Plätzen vollzogen und hatten in den ersten Jahren noch viel Volk angezogen. Doch inzwischen waren wir so sehr an das routinierte Schnarren der Ankläger, das Knallen der Peitsche und die Schmerzensschreie der Verurteilten gewöhnt, dass sich immer weniger Schaulustige einfanden. Am Ende kamen nur noch die, die noch nie einen nackten Hintern zu Gesicht bekommen hatten, und solche, die sich nicht daran sattsehen konnten, wie diese Frauen, deren Dienste sie sich nie hätten leisten können, öffentlich gedemütigt wurden. Sie lungerten auf den Plätzen herum, brachten sich mit derben Kommentaren in Stimmung, kriegten Stielaugen, wenn es so weit war, und machten sich noch nicht einmal die Mühe, wenigstens ein bisschen empört zu tun.
Und genau zwischen dieser Sorte von Leuten standen wir kurz darauf in der ersten Reihe vor dem Gerüst in der Mitte des Platzes. Wie gesagt: nur, um uns diese Schwachköpfe anzuschauen.
Es war ein kalter Januartag. Atemwolken stiegen auf. Die Sonne stand im dunstigen Blau des Himmels über den Häusern, die den Platz säumten, und aus den Seitengassen roch es nach Feuerholz und Garküchen. Viele Leute waren nicht gekommen, vielleicht zweihundert Männer und eine Handvoll Frauen, dazu ein paar Priester, die sich am Rand der Menge herumdrückten. Einige hatten sich etwas zu essen mitgebracht und schmatzten vernehmlich. Der Gouverneur hatte ein paar Leute geschickt, die, auf ihre Knüppel gestützt, miteinander schwatzten. Gespräche waberten durch die Luft. Einer rülpste. Ein anderer antwortete mit einem lauten Furz.
Wie sich zeigte, war die Hauptperson des Spektakels eine alte Bekannte: Bona la Bonazza. Als der Wagen mit dem gelangweilten Büttel auf dem Bock sich aus der Richtung des Gefängnisses von Tor di Nona näherte, reckten alle die Hälse. Ich hatte sie seit der Messe in Santissimi Apostoli nicht mehr gesehen, aber das wäre auch nicht nötig gewesen, um sie zu erkennen. Sie war schön, auch ohne das prachtvolle Kleid mit dem unverschämten Ausschnitt, auch ohne Perlenketten und Schminke. Eigentlich brachte das lange Leinenkleid, das sie jetzt trug, ihre Reize nur noch besser zur Geltung, weil jeder sehen konnte, was sie auch ohne die ganze Ausstattung hermachte. Ihre prachtvollen dunkelbraunen Haare hatte sie mit einer Klammer im Nacken gebändigt. Bona la Bonazza war schlicht und einfach eine atemberaubende Frau, die sich die Rolle des vulgären, zu allem bereiten Luders zugelegt hatte, obwohl sie auch jede andere hätte spielen können. Jeder sah das, und einige der glotzenden Kerle schienen gerade deshalb das Bedürfnis zu verspüren, sie bestraft zu sehen.
Der Wagen pflügte langsam durch die Menge. Eigentlich hätte Bona la Bonazza frieren müssen, aber die Kälte konnte ihr offensichtlich nichts anhaben, oder die in ihr kochende Wut hielt sie warm. Mit vor der Brust verschränkten Armen saß sie auf dem Wagen und blickte angewidert zum Himmel. Sie zitterte kein bisschen. Und das war schon ihr erster Sieg.
Der Wagen hielt vor dem Gerüst. Bona la Bonazza würdigte den Pöbel immer noch keines Blickes. Der Büttel wuchtete seinen in einen dicken Wollmantel gehüllten Körper vom Bock und geleitete sie die Treppe hinauf. Ein zweiter Büttel schälte sich aus der Menge, klemmte sich seine Peitsche zwischen die Zähne, kletterte von der Seite auf das Gerüst und schwang sich über das Geländer. Er nickte zur Begrüßung und wies auf den schartigen Holzblock. Bona la Bonazza nickte mit spöttisch hochgezogener Augenbraue zurück. Einige der Schergen waren bekannt dafür, besonders hart zuzuschlagen, anderen wiederum war anzusehen, welchen Widerwillen ihnen die Misshandlung der Frauen bereitete. Dieser hier war offenbar einer von den Harmlosen.
Bona la Bonazza raffte ihr Kleid und beugte sich über den Klotz. Ein Aufstöhnen ging durch die Zuschauer, als ihr makelloses Hinterteil in der Nachmittagssonne aufglänzte.
«Lass knacken, zu Hause wartet Kundschaft», sagte sie über die Schulter.
Die paar Kerle, die mit uns ganz vorne standen, hatten es gehört und stießen sich grinsend an.
«Ich hol gleich auch meine Peitsche raus», sagte einer. Die Antwort seines Nebenmannes war nicht zu verstehen, denn der zweite Büttel hatte begonnen, stockend und mit jedem Buchstaben kämpfend, die Anklage von einem Zettel zu verlesen, den er sich dicht vor die Augen hielt: Bona la Bonazza war nach dem Avemarialäuten außerhalb des Hortaccio aufgegriffen und für dieses Vergehen zu zwanzig Peitschenhieben verurteilt worden. Man werde nun zur Vollstreckung der Strafe schreiten, zur Läuterung der besagten Person und zur Mahnung an die versammelte Zuschauerschaft.
«Leg los!», schrie einer.
Die Vollstreckung vollzog sich in vollendeter Routine. Die Peitsche schwirrte durch die Luft und klatschte auf die nackte Haut, die Menge zählte mit, und einige machten sich einen Spaß daraus, jede Zahl doppelt zu grölen, um das Schauspiel zu verlängern. Obgleich der Büttel sich angestrengt konzentrierte, kam er am Ende durcheinander und blickte nach dem neunzehnten Hieb ratlos um sich.
«Einer noch», half ihm Bona la Bonazza.
Er verdrehte die Augen und schlug noch einmal zu, etwas fester diesmal, als wollte er bekräftigen, dass es nun aber auch gut war. Knallrote Striemen zogen sich kreuz und quer über die entblößte Haut, doch insgesamt war die Bestrafung vergleichsweise mild abgelaufen, ohne Blut und ohne Schreie, wobei Bona la Bonazza, stolz wie sie war, wahrscheinlich noch nicht einmal dann einen Laut von sich gegeben hätte, wenn man ihr bei lebendigem Leib die Haut abgezogen hätte. Mit gleichgültigem Gesichtsausdruck richtete sie sich auf. Das Kleid fiel herunter und bedeckte ihre Blöße.
«Ab heute kostet’s doppelt», resümierte sie.
«Danke, du Arsch!», rief einer in Richtung des Büttels.
Und dann ging sie. Ohne irgendjemanden noch eines Blickes zu würdigen, stieg Bona la Bonazza kerzengerade und erhobenen Hauptes die Stufen hinab. Im Gehen griff sie sich in den Nacken und zog mit einem weit ausholenden Schwung die Klammer heraus. Die befreiten Haare flossen ihr die Schultern und den Rücken hinunter, ein Sturzbach aus dunkler Seide. Die Menge teilte sich vor ihr, und manch einer schien sich plötzlich zu schämen. Kurz darauf war sie verschwunden, und die Zuschauer begannen, sich schwatzend zu zerstreuen.
«Habt ihr das nötig?», fragte eine vertraute Stimme hinter uns.