Ach, Mercuria! Im Nachhinein ist es viel einfacher, sich einen Reim auf all das zu machen: Ihre schreckliche Geschichte drängte an die Oberfläche; aus Gründen, die ich damals noch nicht kannte, war die Zeit gekommen, dass sie zuerst aufgeklärt und dann erzählt wurde, und möglicherweise hatte Mercuria von Anfang an geahnt, dass ich derjenige war, der ihr dabei zur Seite stehen würde. Ja, vielleicht kannte sie mich damals schon besser, als ich mich selbst kannte, denn letztlich war es diese Geschichte, die es mir ermöglichte, über mich hinauszuwachsen. Das wird mir erst jetzt klar, wo ich sie zu Papier bringe und bisweilen kopfschüttelnd auf den windigen Gazettenschreiber zurückblicke, der ich damals war.
Auf jeden Fall hatte ich durch meine belanglose Frage an unserem ersten Abend, ohne es zu wollen, den Riegel vor dem Verlies ihrer Erinnerungen weggesprengt. Dennoch schien sie beschlossen zu haben, die Tür dieses Verlieses nur Stück für Stück zu öffnen. Nach der Erwähnung ihrer Schwangerschaft hatte sie ihr Glas geleert und knapp und aufgeräumt von ihrer Flucht aus der geplünderten Stadt berichtet: auf einem Maulesel reitend wie die Muttergottes auf dem Weg nach Bethlehem, umgeben von einer Abteilung berittener Arkebusiere aus Ferrante Gonzagas Leibwache; durch Spaliere von glotzenden Landsknechten, die zum Gaffen kurz Würfelspiel und Saufgelage unterbrachen; in einen Mantel gehüllt und mit einem Tuch vor dem Gesicht, zum Schutz vor lüsternen Blicken und dem Gestank der überall herumliegenden Leichen. Vor der Porta Flaminia hatte eine Kutsche gewartet, die sie nach Viterbo ins Haus eines Beschützers gebracht hatte, dessen Namen sie uns nicht verriet. Dort endete ihr Bericht. Von einer Entbindung fiel kein Wort, was meine Phantasie natürlich nur umso mehr anstachelte. Die Schwangerschaft und die Geburt mussten ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt haben, nach Rom hatte sie nicht so schnell zurückkehren können, schon wegen der Anwesenheit der Soldaten, die bis zum folgenden Februar dort ihr Unwesen getrieben hatten. Und dennoch hatte sie kein Wort mehr darüber verloren. Siebter Monat. Irgendwann im Hochsommer siebenundzwanzig musste Mercuria ihr Kind zur Welt gebracht haben. Und dann? War der namenlose Beschützer in Viterbo der Vater dieses Kindes gewesen? War dieses Kind die später ermordete Tochter, von der sie gesprochen hatte?
Gennaro und ich saßen nach dem Besuch bei Mercuria noch lange in seiner Werkstatt zusammen. Es widerstrebte mir, mich mit ihm in munteren Spekulationen über Mercurias Offenbarung zu ergehen. Wahrscheinlich saß sie jetzt dort oben, wo wir sie zurückgelassen hatten, und malte sich genau das aus. Vielleicht bereute sie ihre Bemerkung schon.
Doch Gennaro machte es mir einfach. Wenn die Sache mit der Schwangerschaft ihn interessierte, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Vielleicht war er ähnlich befangen wie ich, obwohl Feingefühl ansonsten nicht seine größte Stärke war.
«Wusstest du das?», fragte er nur.
«Nein», sagte ich.
Er nickte stumm. Vielleicht stellte es ihn zufrieden, dass ich nicht mehr wusste als er, der Mercuria so viel länger kannte als ich. Dann wandte er sich wieder Antonio Francavilla zu, dem Sekretär mit den sechs Fingern.
Er murmelte den Namen vor sich hin.
«Ich wüsste gern, was die beiden zu besprechen hatten», sagte er. «Bestimmt ging es um einen Haufen Geld. Vielleicht liegt das noch irgendwo. Stell dir das mal vor!»
«Es muss wichtig gewesen sein», bestätigte ich. «So wichtig, dass Francavilla bereit war, sein Leben zu riskieren, indem er sich verkleidet noch einmal in dieses Inferno stürzte, anstatt im halbwegs sicheren Palast zu bleiben. Wahrscheinlich hat Mercuria schon richtig vermutet: Francavilla wusste von einem Versteck und wollte es ausräumen, bevor die Soldaten es finden würden. Und auf dem Weg wurde er erschlagen.»
«Auf welchem Weg? Auf dem Hinweg oder auf dem Rückweg?», hakte Gennaro nach.
«Gute Frage. Wenn er auf dem Rückweg war, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder er war fündig geworden und hatte dabei, was er gesucht hatte, oder er kam unverrichteter Dinge zurück. Und damit stellt sich gleich die nächste Frage: Hat ihm jemand aufgelauert, der von seinem Vorhaben wusste? Oder war er einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort?»
«Wo war die venezianische Botschaft damals überhaupt?», fragte Gennaro.
«Keine Ahnung», sagte ich. «Wahrscheinlich ein Mietpalast in Parione oder Campo Marzio.»
«Merkwürdig.»
«Warum?»
«Weil das nicht zum Fundort der Leiche passt. Das Skelett liegt im Garten der Colonna, am Hang des Quirinals, also hinter dem Palast. Weiter oben kommt nicht mehr viel, nur noch Villen und Weingärten voller Ruinen. Wenn Francavilla dort erschlagen wurde, wo wir ihn gefunden haben, dann war er nicht auf dem Weg nach Parione oder Campo Marzio und kam auch nicht von dort.»
Das stimmte. Wir dachten beide eine Weile angestrengt nach. Gennaro nahm einen Meißel in die Hand, warf ihn kreiselnd hoch und fing ihn wieder auf.
«Was hätte dein Onkel jetzt getan?», fragte er plötzlich.
Ich musste lachen, fragte mich aber sogleich, was es eigentlich zu lachen gab. Antonietto Sparviero hätte sich in diese Sache verbissen, so wie er sich in alles verbissen hatte, bis seine Fragen beantwortet waren. Und merkwürdigerweise regte sich angesichts dieses Rätsels, das uns da in den Schoß gefallen war, erstmals so etwas wie Ehrgeiz in mir. Die Sache kam mir vor wie eine Probe, die mein Onkel mir aus dem Grab heraus auferlegt hatte, damit ich mit meinen fünfundzwanzig Jahren endlich beweisen konnte, dass ich kein Nichtsnutz war. Jahrelang hatte er mich mitgeschleppt, ohne mich für die Entwirrung politischer Intrigen, die Aufdeckung geheimer Pläne und die Enträtselung verschlüsselter Botschaften begeistern zu können. Und nun, mehr als drei Jahre nach seinem Tod, stolperte ich in eine rätselhafte Angelegenheit, die mich herausforderte. Mit seiner unbedarften Frage hatte Gennaro, ohne es zu wollen, etwas in mir ausgelöst: die Ahnung, dass es nicht nur spielerische Neugier war, die mich antrieb, dem Skelett von Antonio Francavilla sein Geheimnis zu entreißen, sondern die Frage, ob ich es schaffen würde, wenigstens einmal der Wahrheit auf den Grund zu gehen, anstatt auf erfundene Geschichten auszuweichen.
«Hörst du zu oder träumst du?»
«Ich denke nach.»
«Sieht aber nicht so aus.»
«Mein Onkel hätte natürlich versucht, Zeugen aufzutreiben. Wir wissen, dass Sannazaro und Francavilla im Palast der Colonna die Kleider getauscht haben, und wir wissen, dass Francavilla wahrscheinlich kurz darauf im Garten hinter dem Palast erschlagen und verscharrt wurde.»
«Was ist mit Sannazaro? Könnte der noch leben?»
«Er war Soldat. Die leben selten lange.»
«Könnte er noch leben oder nicht?»
«Kommt drauf an, wie alt er damals war.»
Wir grinsten uns an. Keine Minute später hämmerten wir gegen Mercurias Tür.
«Seid ihr noch bei Trost?», fragte sie ungehalten durch den Türspalt.
«Wir sind gleich wieder weg», sagte Gennaro beschwichtigend. «Wie alt war dieser Sannazaro damals so in etwa?»
Die Tür schwang ein Stück auf. Mercuria stand mit gelöstem Haar und in einem Morgenrock aus grüner Seide vor uns im Dämmerlicht. Sie sah mich ungehalten an. «Wenn du dir wieder so eine Räuberpistole zusammenspinnst, dann möchte ich nicht, dass mein Name dabei fällt, haben wir uns verstanden?»
«Ja, ja. Wie alt war er denn nun?»
«Jung. Kaum älter als ich, würde ich sagen, genau wie die meisten anderen. Die ließen sich ja alle die Bärte wachsen, um älter und wilder auszusehen, aber die meisten von denen waren noch halbe Kinder. Lauter eitle Gecken von zwanzig Jahren, die sich für sonst was hielten, weil sie plötzlich mit beiden Händen in vollen Geldtruhen wühlen konnten und Herren über Leben und Tod von zweitausend Geiseln waren. Sannazaro war auch so einer, das habe ich gleich gesehen. Einer, der sich in jedes Getümmel stürzt. Diese Sorte hat’s nicht lange gemacht. Kaum vorstellbar, dass der noch lebt. Kugel, Dolch, Pest oder Strick. So oder so, es wird ihn erwischt haben. Aber viel Erfolg.»
«Was jetzt?», fragte Gennaro, nachdem Mercuria die Tür wieder geschlossen hatte.
«Räum den Tisch frei», sagte ich. «Wir wälzen ein paar Unterlagen. Wenn er mit zwanzig Jahren schon Leutnant war, dann ist er vielleicht aufgestiegen. Kann doch sein, dass er irgendwelche Spuren hinterlassen hat.»
Ich schleppte einige der Kisten meines Onkels in Gennaros Werkstatt und packte sie auf den Tisch. Bis zum Morgengrauen wühlten wir uns durch Gazetten und Meldungen, und es war schon ein ziemlicher Zufall, dass wir dabei tatsächlich auf Sannazaro stießen.
Am vergangenen Samstag zogen mehrere Kompanien päpstlicher Truppen durch die Porta Flaminia in Rom ein, die in Deutschland unter der Führung des Herzogs von Alba an den Kämpfen gegen die Protestanten teilgenommen hatten. Zwei Hauptleute, die sich dabei besonders ausgezeichnet hatten, wurden anschließend vom Papst in einer Audienz empfangen und durch goldene Ketten im Wert von jeweils zweihundert Scudi geehrt: Carlo Carafa, der mit seiner Kompanie in einem entscheidenden Augenblick der Schlacht bei Mühlberg die Elbe durchschwommen hatte, um eine Schiffsbrücke vor der Zerstörung durch den Gegner zu bewahren, und Gabriele Sannazaro, der den Kurfürsten von Sachsen unter den fliehenden Feinden entdeckt, gestellt und nach kurzem Zweikampf zur Aufgabe gezwungen hatte, wobei er durch einen Schwerthieb zwei Finger einbüßte.
Die Menge der Zuschauer beim Einzug der Soldaten hielt sich allerdings in Grenzen, weil am selben Tag zwei Statuen, deren Auffindung in den Caracallathermen im vergangenen Jahr viel Aufmerksamkeit erregt hatte, mit großem Aufwand zum fast fertiggestellten Palast des Kardinals Farnese gebracht wurden: eine sechs Ellen hohe Stierbändigergruppe und ein vier Ellen hoher Herkules, die der Kardinal angeblich in seinem Garten aufstellen lassen will. Für den von einer großen Menschenmenge bejubelten Transport wurde ein Gespann aus zwölf Ochsen eingesetzt. Wie es scheint, bringt das Volk der Schönheit antiker Bildwerke erheblich mehr Interesse entgegen als dem Kampf gegen die Ketzer.
Natürlich versetzte die Erwähnung von Sannazaro uns in helle Aufregung, aber was bedeutete unsere Entdeckung am Ende schon? Gabriele Sannazaro hatte zwanzig Jahre nach dem Sacco noch gelebt, war zum Hauptmann aufgestiegen und hatte eine kleine Heldentat vollbracht, wenn es überhaupt eine war, diesem von allen Seiten bedrängten Kurfürsten in einer ohnehin schon entschiedenen Schlacht zum Schluss noch die Waffen abzunehmen, oder besser gesagt, sie gegen zwei seiner Finger einzutauschen.
«Das ist schon komisch», sagte ich. «Die beiden Finger, die Francavilla von Geburt an zu viel hatte, hatte Sannazaro nach diesem Gefecht zu wenig.»
«Na, dann hatten sie zusammen ja wieder zwanzig», bemerkte Gennaro trocken.
Ich überflog noch einmal den Bericht. «Ist dir aufgefallen, dass da noch ein bekannter Name drinsteht?»
«Carlo Carafa? Der spätere Kardinal? Den sie hingerichtet haben?»
«Ich nehme an, dass er das ist. Er war Söldner, bevor sein Onkel ihn zum Kardinal machte.»
«Na und?»
«Nichts und. Bloß ein komischer Zufall. Über den habe ich neulich erst mit Mercuria gesprochen.»
Er zuckte mit den Schultern.
Leider blieb die kurze Nachricht das einzige Lebenszeichen von Sannazaro, das wir fanden. Gabriele Sannazaro. Ich versuchte ihn mir vorzustellen, wie er seinen Gefangenen abführte: überheblich grinsend trotz seiner Verletzung, voller Selbstzufriedenheit über die Aussicht auf einen Anteil am Lösegeld. Hatte er auch damals noch die Landsknechtstracht bevorzugt, oder war das eine Marotte seiner jungen Jahre gewesen, die er längst abgelegt hatte? Und wie war es mit ihm weitergegangen? Hatte der Krieg ihn zurück nach Italien geführt? Hatte er sich irgendwann zur Ruhe gesetzt? War er gestorben?
Weitere Hinweise fanden wir nicht, allerdings umfassten die Notizen, die mein Onkel nach den Gesprächen mit seinen Zuträgern verfasst hatte, und die Meldungen, zu denen er diese Notizen Woche für Woche zusammengefasst und ins Reine geschrieben hatte, um sie an seine Kunden zu versenden, Tausende von oft schwer leserlichen Blättern. Wenn dort tatsächlich weitere Hinweise versteckt waren, dann würde es Monate dauern, alles durchzusehen, ohne dass wir sicher sein konnten, überhaupt etwas zu finden.
In der nächsten Zeit hatte Gennaro überdies jede Menge anderes zu tun: Der Käufer wartete auf den Hadrianskopf, ein anderer Kunde verlangte eine Kopie von einer Philosophenbüste. Und dann hatte dieser Kunde auch noch eine Tochter, mit der Gennaro sich nachts in den Ruinen der Trajansthermen traf. Ob das zu dieser Jahreszeit nicht ein bisschen kalt sei, hatte ich ihn gefragt. Ob ich so verklemmt sei, dass mir nicht einfiele, mit welcher Art von Betätigung man sich aufwärmen könne, hatte er zurückgefragt, worauf mir nichts eingefallen war. Auf diesem Gebiet hatte ich in letzter Zeit ja nun wirklich gar nichts mehr vorzuweisen.
In den folgenden Tagen arbeitete ich mich also allein weiter durch die Unterlagen, wobei ich so manches Mal die Papiere sinken ließ, um mich zu fragen, wo zum Teufel Antonietto Sparviero diese ganzen vertraulichen Informationen eigentlich herbekommen hatte. Doch trotz stundenlangen Lesens fand ich nichts, was mich wieder auf die Spur von Francavilla oder Sannazaro gebracht hätte.
Wenn mir vom Lesen der Kopf rauschte, machte ich mich auf und durchwanderte die Stadt im Morgennebel, in der Mittagssonne und im Abendrot. Neuerdings wurde wieder an allen Ecken gebaut, gemeißelt und gemalt. Ich streifte durch neu angelegte Straßen, in denen sich die Baugruben für neue Mietshäuser aneinanderreihten, vorbei an eingerüsteten Fassaden und gerade in Betrieb genommenen Brunnen, und vorbei am Petersdom, dessen Tambour in den letzten Jahren in die Höhe gewachsen war, um bald endlich von der größten Kuppel der Welt gekrönt zu werden.
Während Straßenhändler und Taschendiebe mich anrempelten, Kutschen mit hohen Herren mich in Staubwolken hüllten und Gerüche von frisch gesägtem Holz und feuchtem Mörtel mich umwehten, wurde mir bewusst, dass es nicht nur mein Bedürfnis nach Zerstreuung war, das meine Schritte lenkte, sondern auch der Wunsch, mich meinem Vater nahe zu fühlen. In den Jahren der Rastlosigkeit nach seinem Tod hätte mich die Begegnung mit den Erinnerungen von den Füßen gerissen; ich war verloren gewesen in den vielen verwirrenden Anforderungen meines eigenen Lebens, den erwachenden Bedürfnissen, die mir niemand erklärte, dem drängenden Wunsch, mich irgendwie zu behaupten, ohne zu wissen, gegen wen oder gegen was. Nun aber hatte ich dank Mercuria einen Ort gefunden, an dem ich zur Ruhe kommen konnte.
Und als könnte ich die Zukunft erst dann richtig in Angriff nehmen, wenn ich mir die Vergangenheit noch einmal ins Gedächtnis gerufen und abschließend geordnet hatte, steuerte ich auf meinen Spaziergängen auch die Orte an, an die mein Vater mich geführt hatte, um mir seine Arbeit zu erklären. Und ich war überrascht, wie schnell die Erinnerungen an all seine Belehrungen über Zeichnung und Farbe zurückkehrten: In der Markgrafenkapelle der Animakirche, in der mein Vater voller Sorgfalt den eleganten Kopf eines Engels ausgeführt hatte, während Salviati seine Figuren einfach aus älteren Gemälden übernommen und sich dafür hatte feiern und bezahlen lassen; in der Kapelle des Kanzleipalastes, nur ein paar Türen entfernt von dem von Salviatis Busenfreund Vasari in kaum mehr als drei Monaten hingehudelten Prunksaal; im Audienzraum von Kardinal Montepulciano mit seinen Szenen aus dem Leben von König David: nackte Gestalten wohin man blickte, lasziv hingegossen, den Hintern dem Betrachter entgegenstreckend, Batsheba im Bad, befummelt von einer lüsternen Gespielin, ein Geräkel und Gespreize, das jetzt, nur fünfzehn Jahre später, niemand mehr zu malen gewagt hätte. Wie schnell die Zeiten sich ändern können: Man schaut ein paar Jahre nicht hin, und alles, was zuvor noch selbstverständlich war, ist plötzlich ein frecher Verstoß gegen Anstand und Sitte.
Erstaunt stellte ich fest, dass ich eine Gabe besaß, die mein Vater mir offenbar hinterlassen hatte und die ich bis dahin nicht bemerkt hatte, als hätte sie des jahrelangen Brachliegens zur unbemerkten Reifung bedurft: den Blick für Zeichnung und Farbe, für die Herausforderungen an eine Komposition und die Tücken der allzu gefälligen Harmonie, für die Gratwanderung zwischen routinierter Nachahmung und gewagter Erfindung, für die raffinierten Verzerrungen, Verdrehungen und Streckungen der Figuren und für die Balance zwischen diesen Figuren auf der Fläche und im Raum. Ich blickte auf den Engel in der Markgrafenkapelle, der sich über den vom Kreuz abgenommenen Erlöser beugte, die Konturlinien des toten Körpers weiterführte und flankierte, und ich begriff, warum er genau so und nicht anders gemalt worden war. Es war, als würde ich auf diese Weise meinen Frieden mit dem Verlust meines Vaters machen.
Gelegentlich traf ich auf meinen Ausflügen noch einige der Zuträger meines Onkels, die allesamt immer noch recht mitteilsam waren und mir im Plauderton erzählten, was im Bankenviertel so geredet wurde. Auf diese Weise erfuhr ich, dass man den Bischof von Rimini im Haus einer Frau von zweifelhaftem Ruf verhaftet hatte, dass eine Diebesbande in der Wohnung des päpstlichen Hausmeisters eine ganze Kiste mit Juwelen erbeutet hatte, dass gegen die Teuerung Getreide aus Frankreich herangeschafft wurde und dass der Papst unter Inkontinenz litt. Und ich erfuhr von dem Verfahren gegen Alessandro Pallantieri, der, wie Mercuria an unserem ersten Abend berichtet hatte, damals die Anklage im Prozess gegen die Carafa geführt hatte. Jetzt saß Pallantieri also selbst im Gefängnis und wurde beschuldigt, Niccolò Franco, einem landesweit bekannten Schandmaul und Verfasser obszöner Satiren und Sonette, seinerzeit die Akten des Prozesses zugespielt zu haben, damit er sie zu einem geharnischten Pamphlet gegen die Carafa verarbeiten konnte, das unter der Hand die Runde gemacht hatte. Franco saß ebenfalls in Haft, und unter den Eingeweihten gingen wüste Spekulationen um, wie die Verfahren ausgehen würden.
«Die werden sie beide aufhängen», prophezeite einer.
«Pallantieri ist ein Fuchs, der wird sich rauswinden», meinte ein anderer.
«Franco wird von Morone geschützt», wusste ein Dritter.
«Morone wird keinen Finger rühren, gegen den wird selbst gerade ermittelt», hielt ein Vierter dagegen.
«Ach was, wirklich?»
«Sag bloß, das wusstest du nicht!»
Das war die Art von Gesprächen, bei denen mein Onkel sein ganzes Leben lang zugehört und sich Notizen gemacht hatte.
Gleichzeitig ging mir natürlich auch das Skelett nicht aus dem Kopf. Und so machte ich mich daran, dem einzigen möglichen Anhaltspunkt nachzugehen, den ich hatte: der Frage, wo Domenico Venier seinerzeit residiert hatte.
Ich erinnerte mich, zusammen mit meinem Onkel einmal einen der Sekretäre des damaligen Botschafters getroffen zu haben. Da die Venezianer sich in der Zwischenzeit im Palast von San Marco breitgemacht hatten, war er nicht schwer zu finden. Er hieß Pasquale, hatte gierige Glupschaugen und war einer von der Sorte, die für alles eine Gegenleistung verlangt. Als er den Namen Venier hörte, verzog er gequält das Gesicht.
«Ach Gottchen, Domenico Venier, hör mir bloß auf mit dem. Der hat uns damals viel Ärger gemacht.»
Offenbar wollte Pasquale sich ein bisschen wichtigmachen, denn er war höchstens dreißig Jahre alt und kannte die Geschichte daher bestenfalls vom Hörensagen. Doch ich ließ ihn gewähren, denn eine der Lektionen meines Onkels hatte gelautet, dass man die Wichtigtuer unbedingt reden lassen muss. Wenn sie sich erst genügend aufgeblasen haben, können sie nicht mehr zugeben, dass die Gefälligkeit, die man von ihnen verlangt, außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt. Und dann legen sie sich richtig ins Zeug.
Pasquale schwafelte also ein bisschen herum, während wir auf der Treppe zum Obergeschoss des Palastes von San Marco saßen. Er ließ Namen fallen, gab jovial und in schnodderigem Ton ein paar Anekdoten zum Besten, die belegen sollten, dass er mit allen auf vertrautem Fuß stand, die in der Botschaft ein und aus gingen. Währenddessen eilten die ganze Zeit irgendwelche Herrschaften an uns vorbei, die ihm keinerlei Beachtung schenkten.
«Also, kannst du mir helfen?», fragte ich, als ihm das Pulver langsam ausging.
«Sicher. Dauert aber ein paar Tage. Von den Leuten von damals ist keiner mehr dabei.»
«Schaffst du schon.»
«Wann gehen wir mal wieder was trinken?»
Ich musste ein Lachen unterdrücken. Wie gesagt, ich hatte ihn einmal getroffen, und getrunken hatten wir nichts.
«Bald», sagte ich.
«Vielleicht besuche ich dich mal. Du wohnst doch jetzt bei dieser Mercuria, wie man hört.»
Daher also wehte der Wind. Ich war erstaunt, dass er davon wusste, ließ mir aber nichts anmerken.
«Die hat doch bestimmt noch ein paar Kontakte, wenn du verstehst, was ich meine. Für mich darf’s gern ein bisschen jünger sein. Die sehen das hier nicht so gerne, wenn wir uns im Hortaccio herumtreiben. Ist alles nicht mehr so einfach in letzter Zeit.»
«Wem sagst du das», heuchelte ich.
Als ich wieder in das Gewirr der Gassen zwischen Kapitol und Trajanssäule eintauchte, fühlte ich mich tatsächlich ein bisschen wie ein richtiger Novellant.
Ein paar Tage darauf überquerte ich spät in der Nacht auf dem Heimweg von einem Treffen mit einem der Bekannten meines Onkels, einem trinkfreudigen Bankier, die Piazza Navona. Todmüde trottete ich über die verlassene Fläche, vorbei an den Brunnen, in denen das Wasser vor sich hin plätscherte. Ratten stöberten in zusammengekehrten Abfällen. Eine Katze lauerte hinter einem zusammengeklappten Marktstand. Die Glocke von Sant’Agnese schlug.
Durch eine kleine Gasse erreichte ich den Platz vor der Statue des Pasquino. Am Sockel und an der Wand dahinter klebten Fetzen von abgerissenem Papier. Irgendwo begann ein Vogel zu zwitschern und kündigte an, dass der Tag nicht mehr fern war.
Ich bog in einen kleinen Innenhof ein, um mich zu erleichtern. In den Fenstern der umstehenden Häuser brannte kein einziges Licht. Nur die dichte Wolkendecke warf einen schwachen Schimmer zurück.
Plötzlich hörte ich leise Schritte. Ich lugte um die Ecke und sah einen kleinen Kerl im Kapuzenmantel, der sich an der Statue zu schaffen machte.
Mit dem Pasquino ist es eine merkwürdige Sache: Seit die übel zugerichtete Figur vor siebzig Jahren gefunden und aufgestellt wurde, bekommt sie immer wieder nächtlichen Besuch von mehr oder weniger talentierten Satirikern, die sie mit Zetteln voller derber Zeichnungen, Schmähgedichte und gereimter Dialoge bekleben. Wenn diese Werke die Obrigkeit auf allzu beleidigende Weise durch den Dreck ziehen, werden sie am nächsten Tag entfernt und dem Gouverneur vorgelegt. Doch obwohl es einfach wäre, den Pasquino nachts bewachen zu lassen, geschieht gerade das eben nicht. Nach einem ungeschriebenen Gesetz gehört die Nacht dem Pasquino und seinen Dichtern, die nie jemand zu Gesicht bekommt.
Oder fast nie. Denn jetzt hatte ich offenbar einen von ihnen vor der Nase.
Die kleine Gestalt klebte mit schnellen Handgriffen etwas an den Sockel der Statue, dann wandte sie sich um. Ich zog den Kopf zurück und presste mich an die Wand des Durchgangs zum Innenhof. Hatte der Kerl mich gesehen?
Die Schritte näherten sich. Ich hielt den Atem an. Einen Augenblick später huschte er vorbei. Offensichtlich hatte er mich nicht bemerkt, denn er wandte noch nicht einmal den Kopf.
Meine Neugier war geweckt. Ich schlüpfte aus dem Durchgang, schlich zur Statue, löste den vom Kleister noch feuchten Zettel ab, faltete ihn und steckte ihn unter meinen Gürtel. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie die Gestalt hinter einer Biegung der Via di Parione verschwand. Ich schlich natürlich hinterher. Gelichter, das im Dunkeln herumhuscht, weckt meine berufliche Neugier.
Bald sah ich den Kleinen wieder. Mit zügigen Schritten, aber ohne übertriebene Eile, folgte er den Windungen der Straße und blickte sich nicht ein einziges Mal um, auch nicht, als er den Palast des Gouverneurs passierte, der als dunkler Klotz die umstehenden Häuser überragte. Offenbar war er sich seiner Sache sehr sicher, oder er wollte keinen Verdacht erregen, falls eine der dort einquartierten Wachen aus dem Fenster schaute und aus reiner Langeweile auf die Idee kam, verdächtige Passanten anzuhalten.
Ich hielt Abstand, drückte mich an die Hauswände und tauchte, wann immer das möglich war, hinter Vorsprünge und in einmündende Gassen ab. Ab und zu verlor ich ihn in der Dunkelheit aus den Augen, sodass ich meine Schritte beschleunigen musste, um aufzuschließen. Eigentlich hätte er mich hören müssen, aber vielleicht dämpfte seine Kapuze alle Geräusche.
Plötzlich blieb er stehen. Ich ließ mich hinter eine Säule gleiten und wartete ab. Ein Stück die Straße hinunter ragte einer der Ecktürme des Palastkomplexes von Monte Giordano auf, ein verschachteltes Ineinander von Gebäuden, Türmen und Innenhöfen. Hinter diesen Mauern herrschten die Orsini. Angeblich beherbergte und beschäftigte die Familie dort eine ganze Schar von Gesetzlosen und Verbannten, aber niemand wusste das so genau, denn die Schläger, die sie ihren Gegnern ganz ungeniert auf den Hals schickten, waren meistens maskiert.
Und ausgerechnet vor diesem Gebäude war der Kerl nun stehen geblieben. Zum ersten Mal blickte er sich um. Erneut tauchte ich hinter die Säule ab und hielt die Luft an, damit die Atemwolken aus meinem Mund mich nicht verrieten.
Als ich wieder hervorlugte, traute ich meinen Augen nicht: Er kletterte tatsächlich an der Mauer hoch, und das wohl nicht zum ersten Mal, denn er war flink und schien genau zu wissen, wo er nach Vorsprüngen greifen und in welche Lücken er seine Füße stemmen musste. Auf der Mauerkrone blickte er sich ein letztes Mal um. Dann ließ er sich auf der Innenseite hinuntergleiten und verschwand aus meinem Blick.
Ich war verwirrt. War ich einem Einbrecher hinterhergeschlichen? Oder wohnte er dort? Aber warum stieg er dann über die Mauer? War er einer der Gesetzlosen, die da beherbergt wurden?
Nachdem sich eine ganze Zeitlang nichts mehr geregt hatte, beschloss ich, den Heimweg anzutreten, um mir den Zettel bei Licht anzuschauen. Während ich die Via di Parione entlangschlenderte, kehrte die Müdigkeit zurück. Die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Blick auf einen ersten Hauch von Blau frei. Wieder begann ein Vogel zu zwitschern, ein anderer fiel ein.
Ich hatte gerade den Tordurchgang zu unserem Hof passiert, da hörte ich ziemlich dicht hinter mir ein Geräusch.
Ich unterdrückte den Impuls, ins Haus zu fliehen, und blickte mich um. Mein Herz klopfte schneller. Der Durchgang war so dunkel, dass man es eher ahnen als sehen konnte, und doch war ich sicher, dass dort jemand stand. Hatte er da gelauert, während ich halb benommen vor Müdigkeit an ihm vorbeigetappt war? Oder hatte er mich bis hierher verfolgt?
Ich weiß nicht, wie lange ich in die Schwärze des Tors starrte, bereit, einen Sprung rückwärts zu machen und einen der herumliegenden Steinbrocken zu ergreifen, um mich damit notfalls meiner Haut zu erwehren.
Als ich schon dachte, mich getäuscht zu haben, raschelte es, und ein Schatten trat vor das Grau des Hintergrundes jenseits der Durchfahrt, eine kleine Gestalt mit einer großen Kapuze. Er war es. Er hatte den Spieß umgedreht, und offenbar hatte er mehr Talent als ich, andere unbemerkt zu verfolgen.
Eine ganze Weile standen wir so da und belauerten einander. Er schien mich nicht angreifen zu wollen, jedenfalls wirkte seine Haltung keineswegs sprungbereit, abgesehen davon, dass er kleiner war als ich, sodass er mir wahrscheinlich unterlegen gewesen wäre. Meine Anspannung ließ etwas nach. Ich trat wieder in den Torbogen zurück, und so standen wir eine Weile in der Dunkelheit voreinander.
«Gib das Gedicht wieder her», flüsterte er. Seine Stimme klang wie die eines Kindes.
«Warum sollte ich?», flüsterte ich zurück.
«Weil du’s geklaut hast, du Blödmann», war die Antwort, jetzt nicht mehr geflüstert. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff: Vor mir stand eine Frau. Ich war völlig perplex.
«Schau nicht so dämlich!»
Ich musste grinsen. Und weil von ihr offenbar keine Gefahr ausging, kam mir das Ganze auf einmal vor wie ein kleines Spiel. «Kannst du doch gar nicht sehen, ob ich dämlich schaue», sagte ich.
«Ich weiß es. Und jetzt grinst du auch noch. Gib’s her!»
«Erst will ich’s lesen.»
«Kannst du morgen machen, wie alle anderen auch. Her damit!»
Eine weiße Hand löste sich aus dem Umhang und streckte sich mir entgegen. Ich rührte mich nicht. Ihre Frechheit reizte mich irgendwie. «Hol’s dir doch.»
«Den Teufel werd ich.»
«Dann nicht.»
«Pass auf, mein Freund, leg dich lieber nicht mit mir an! Mein Vater schickt ein paar Leute vorbei, die reißen dir den Kopf ab!»
Die Drohung klang irgendwie hilflos, und dennoch hielt ich kurz inne. Vielleicht wohnte sie auf dem Monte Giordano und war nur über die Mauer gestiegen, weil niemand wissen durfte, dass sie sich davonstahl. Wenn sie eine Orsini war, dann war das mit dem Kopfabreißen keine völlig aus der Luft gegriffene Aussicht. Andererseits: Wer auch immer ihr Vater war, er ahnte wohl kaum, dass sie nachts in der Gegend herumschlich.
«Weiß dein Vater denn, was du so treibst?», fragte ich also.
«Klar», sagte sie. Obwohl ich in der Dunkelheit ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, wusste ich selbstverständlich, dass das gelogen war. Doch ganz davon abgesehen hätte ich einiges darum gegeben, das Gesicht zu sehen, das zu dieser dreisten Stimme gehörte. Wenn ich sie lange genug hinhielt, würde es vielleicht hell genug geworden sein.
«Glaube ich nicht.»
«Willst du’s drauf ankommen lassen?»
«Gerne. Wir können ja zusammen hingehen.»
Der Vorstoß war natürlich kein bisschen ernst gemeint, aber er brachte sie aus dem Konzept. Sie schwieg.
«So kommen wir nicht weiter», sagte sie schließlich.
«Und wie kommen wir weiter?»
«Du liest es und gibst es mir zurück.»
«Einverstanden. Morgen.»
«Nein. Sofort.»
«Hier ist kein Licht.»
«Gut. Morgen.»
Das Licht schien sie also zu scheuen. Und bevor ich noch einen Vorschlag machen konnte, wo und wann diese Übergabe stattfinden sollte, hatte sie sich auch schon umgedreht und war verschwunden.
Während ich ins Haus ging, fragte ich mich, warum sie sich überhaupt so plötzlich auf diese Abmachung eingelassen hatte. Wenn dieses Gedicht von ihr war, dann kannte sie es wahrscheinlich ohnehin auswendig; es gab also eigentlich keinen Grund für ihren Vorschlag. Außer einem vielleicht: Sie war genauso neugierig wie ich, zu erfahren, wer ihr da in der Dunkelheit gegenübergestanden hatte.
Ich ging also ins Haus, zündete eine Kerze an, legte das Blatt auf den Tisch und begann zu lesen. Es ging um Giulio Parisani, den kürzlich verhafteten Bischof von Rimini. Und es klang, als hätte Pietro Aretino sich aus dem Grab zurückgemeldet.
Sonett
Parisani, alter Bock! An deinen Rammlerohren
Hat man dich nun aus dem Karnickelbau gezerrt
Und in die Engelsburg bei trockenem Brot gesperrt.
Jetzt hockst du da und bist verzweifelt und verloren.
Zu blöd! Was musstest du dich auch erwischen lassen
Beim Saufen, Fressen, Schlemmen, Kopulieren
Mit Mann, Frau, Ziege, Schaf und andren Tieren,
Beim Lästern, Fluchen, Zocken, Schwelgen, Prassen!
Wärst du doch bloß im schönen Rimini geblieben!
Wo du es zwanzig Jahre ungestört getrieben
In deinem Schweinestall, in dieser Jauchegrube,
Die mal dein Bischofssitz war. Alter Lotterbube!
Jetzt geht’s ins Kloster, und da wirst du gut verwahrt,
Du fette Sau! Viel Spaß beim Beten! Gute Fahrt!