Mach dich nicht mitschuldig an fremden Sünden, bewahre dich rein! Dieser Ausspruch aus dem ersten Timotheusbrief sei all denen eine Mahnung, die da glauben, leichtfertiges Spiel mit ihrem Heil treiben & den Wonnen des Fleisches auf der Erde gegenüber den Freuden der Seele im Paradies um den Preis ihrer ewigen Verdammnis den Vorzug geben zu können. Doch weil die Worte der Prediger allein allzu schnell wie Blütenstaub im Wind verwehen, schickt uns der Herr von Zeit zu Zeit heilige Männer & Frauen, auf dass sie unter uns Sündern weilen & uns mit ihrem täglichen Beispiel an die Endlichkeit des irdischen Treibens & die Gewissheit des kommenden Strafgerichtes gemahnen.
So lebte einst in Rom ein frommer Mann mit dem Namen Michael, schön von Wuchs & Gestalt, der schon in jungen Jahren weit über die Grenzen der Stadt hinaus für die Reinheit seines Lebenswandels & die Weisheit seiner Worte geschätzt & geachtet wurde, so sehr, dass man ihm den Beinamen Angelus gab. Die Festigkeit seines Glaubens war so groß, dass er, anstatt in ein Kloster einzutreten & Einkehr in der Gemeinschaft frommer Brüder zu suchen oder als Eremit in der Einsamkeit des Waldes oder durch die Mühen der Pilgerschaft Erleuchtung zu finden, gleichsam als Lamm unter den Wölfen in der Stadt blieb, in der damals Sünde & Unzucht ihr Unwesen trieben & deren Bewohner des Herrn durch die Missachtung Seines Wortes spotteten. Dem Beispiel Jesu folgend, der unter Zöllnern & Dirnen geweilt hatte, da diese der Erlösung am dringendsten bedurften, lebte Michael Angelus in Gemeinschaft mit den übelsten Sündern & Lästerern, um sie durch das Beispiel seiner unerschütterlichen & gottgefälligen Frömmigkeit zur Umkehr zu bewegen. Dabei ertrug er ihren Spott in der Gewissheit, dereinst im Himmelreich den gerechten Lohn für seine Standhaftigkeit zu erlangen.
Doch der Satan, der sein verderbliches Werk in Gefahr wähnte, beschloss, Michael Angelus, der in seiner Kammer täglich durch Gebet & Geißelung die Begierden des Fleisches niederrang, in Versuchung zu führen, um auf diese Weise auch seine Hausgenossen vom Pfad der Tugend fernzuhalten. Denn wie sollten sie der Sünde überhaupt noch zu widerstehen gewillt sein, wenn ein so frommer Mann vor ihren Augen ins Straucheln geriete?
Und so erlagen diese allzu bereitwillig den Einflüsterungen des Teufels & beschlossen, Michael Angelus auf die Probe zu stellen. Eines Abends luden sie ihn zu einem Gastmahl, & nachdem sie ihn mit köstlichen Speisen & allerlei Spezereien betört & mit süßem Wein berauscht hatten, entfernten sie sich auf ein Zeichen & ließen Michael Angelus allein mit einer Frau zurück, die mit ihrer Schönheit schon viele ins Unglück gestürzt hatte & in der ganzen Stadt durch ihren liederlichen Lebenswandel bekannt war. Sie tanzte in durchsichtigem Gewand vor seinen Augen, warf sich ihm an den Hals & wisperte ihm schamlose Worte ins Ohr, & obgleich er mit lauter Stimme den Herrn um Beistand anflehte, ließ sie nicht von ihm ab. Da Gott sah, dass sein Diener trotz aller Standhaftigkeit in schwere Nöte geriet, ließ er ihn zur Statue erstarren, kaum dass es der Dirne gelungen war, ihn gegen sein beharrliches Widerstreben zu entblößen. Sie aber setzte ihr Werk unbeirrt fort, entschlossen, wenigstens ihre eigenen abscheulichen Gelüste zu stillen, da sie schon nicht ihn auf den Pfad der Sünde zu locken vermocht hatte. Plötzlich aber erschien in strahlendem Licht die Heilige Agathe, welche einst als Märtyrerin in ein Freudenhaus gezwungen worden war & selbst an einem solchen Ort allen Lastern widerstanden hatte. Das bloße Erscheinen der Heiligen ließ den Dämon aus dem Leib der Dirne fahren, sie floh aus der Kammer, bereute ihre Sünden & erzählte allen, was ihr widerfahren war, sodass die ganze Hausgemeinschaft schon am folgenden Tag gelobte, fortan ein Leben in Demut & Enthaltsamkeit zu führen. Michael Angelus aber wurde alsbald von seiner Starre erlöst, pries noch viele Jahre den Herrn & bekehrte zahlreiche Sünder & Lästerer, dem Wort Gottes zu folgen.