Am nächsten Morgen, die Sonne schien, und der kalte Wind war abgeflaut, machte ich mich auf den Weg zu Piero Carafa. Das Haus lag schräg gegenüber dem wuchtigen Kirchenbau von Santi Quattro Coronati auf dem Celio und damit in einer Gegend, die fast nur von Gärten und Weinbergen bedeckt war. Eine vor wenigen Jahren vom Lateran in Richtung Colosseum angelegte, steil abfallende Straße durchschnitt die Grundstücke und war noch nicht überall von Mauern gesäumt, sodass man von der Straße aus an vielen Stellen in die Gärten schauen konnte, aber eben auch keinerlei Deckung hatte. Noch schlimmer war, dass so gut wie keine Menschen auf der Straße unterwegs waren, denn Geschäfte oder Werkstätten gab es hier auch nicht. Für meine Zwecke war das alles sehr ungünstig: Ich konnte nicht lange dort herumlungern, ohne aufzufallen. Also schritt ich ein paarmal mit gleichgültigem Gesicht die Straße auf und ab und schielte nach dem Anwesen.
Piero Carafas Haus war wie die anderen Gebäude in der Nachbarschaft eine schöne kleine Villa mit einem Garten. Vor dem Haus stand ein antiker Sarkophag als Brunnenbecken. Ein Gärtner schnitt an Rosen herum, ohne Notiz von mir zu nehmen. Bei meinem dritten Vorbeimarsch sah ich, wie eine junge Frau, schön wie eine Madonna, mit einem Korb das Haus verließ, vielleicht die Köchin, die Besorgungen zu machen hatte. Auch sie würdigte mich keines Blickes.
Nach einer Runde um die Kirche kehrte ich noch einmal zurück. Diesmal trat ein kräftiger, gutgekleideter Mann vor die Tür, sagte im Vorbeigehen etwas zu dem Gärtner und ging mit energisch ausgreifenden Schritten in Richtung Lateran davon, wahrscheinlich ein Hausverwalter, dem herrischen Gebaren nach zu urteilen. Trotz der Sonne trug er Handschuhe. Piero Carafa konnte es nicht sein, der war noch keine vierzig Jahre alt, während der hier mindestens zehn Jahre älter war und kein bisschen nach dem verzogenen Neffen eines Kardinals aussah, sondern eher nach einem, der gerne auch mal ein paar Kopfnüsse verteilte.
Ich beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen, und begab mich auf den Weg nach Hause.
Ich blieb nicht lange allein. Während ich vor dem Kamin auf und ab ging und darüber nachdachte, wie ich das Haus von Piero Carafa unbemerkt beobachten konnte, klopfte es an die Tür. Es war Mercuria. Sie trug ein helles Leinenkleid, hatte die Haare sorgfältig geflochten und zu einem Knoten gebunden, dennoch sah sie mitgenommen aus, übernächtigt, zerbrechlich.
«Was machst du?», fragte sie nach einem Blick auf den Tisch, wo immer noch die Blätter mit den Meldungen meines Onkels verstreut herumlagen. Normalerweise hätte sie sich die Papiere gleich gegriffen und ungefragt zu lesen begonnen, wie es eben ihre Art war, doch diesmal interessierte sie sich nicht dafür. Es kam mir vor, als hätte sie die Frage nur gestellt, um überhaupt etwas zu sagen. Ich beschloss, vorerst kein Wort über Morones Auftrag zu verlieren.
«Gennaro und ich haben den alten Hausdiener von Venier aufgespürt», sagte ich stattdessen.
«Ach, wirklich?» Mercuria blickte mich gleichgültig an.
«Ja. Und der hat erzählt, dass Antonio Francavilla nach Veniers Flucht tatsächlich noch mal im Haus war und etwas gesucht hat.»
«Was denn?», fragte sie matt.
«Das wissen wir nicht. Und wir wissen auch nicht, ob er es gefunden hat. Danach scheint ihn ja niemand mehr gesehen zu haben.»
«Bis ihr vor zwei Monaten sein Skelett ausgegraben habt.»
«Genau. Aber dafür ist Gabriele Sannazaro dreißig Jahre später bei diesem Hausdiener aufgetaucht und hat Fragen gestellt.»
Schwaches Interesse glomm in ihren Augen auf. «Woher wisst ihr, dass er es war?»
«Das Alter passt. Er wusste über Francavilla Bescheid. Und ihm fehlten zwei Finger.»
Mercuria lachte freudlos auf. «Immer diese Finger», murmelte sie. Dann zeigte sie auf die Papiere. «Und das da?»
«Wir hatten gehofft, dass Sannazaro irgendwo in den Unterlagen meines Onkels aus dieser Zeit noch mal auftaucht. Er scheint während der großen Überschwemmung mit Alba nach Rom gekommen zu sein, kurz nachdem Carlo Carafa den Frieden mit den Spaniern ausgehandelt hatte. Der wiederum läuft uns seitdem ständig über den Weg.»
«Und Sannazaro?»
«Bisher nicht. Aber es gibt noch einiges durchzusehen. Hab ja sonst nicht viel zu tun.»
Sie lächelte dünn. «Keine Gazette in Arbeit?»
«Mir fällt gerade nichts ein.»
Mercuria blickte im Raum umher, seufzte und schien nach einem Stichwort zu suchen. «Mir schon», sagte sie schließlich und erhob sich. «Lass uns an die frische Luft gehen. Ich habe lange genug im Haus gehockt.»
Als wir durch das Tor des Innenhofs auf die Straße traten, atmete Mercuria ein paarmal tief durch. Es war inzwischen Mittag geworden. Die Sonne hatte die Reste der Kälte vertrieben.
Nebeneinander überquerten wir den Campo dei Fiori, auf dem an diesem Tag kein Markt stattfand. Ein paar Leute standen herum und schwatzten, Fensterläden klapperten. Immer noch sagte Mercuria kein Wort, sondern setzte fast vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Als ich zu ihr hinüberschielte, hatte sie die Augen geschlossen und genoss die Wärme. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und ließ es leuchten. Wieder fiel mir auf, wie schön sie war. Und plötzlich fühlte ich mich ihr sehr nahe. Ein merkwürdiger Stolz ergriff mich, ihr Begleiter zu sein, ihr Vertrauter, mit dem sie ihre Wortlosigkeit ebenso selbstverständlich teilte wie das, was sie bewegte.
Wir näherten uns dem Ponte Sisto, allerdings nicht auf dem kürzesten Weg, sondern über die verwinkelten Gassen und Plätze von Regola, als wollte sie eine bestimmte Stelle umgehen.
Mitten auf der Brücke blieb sie stehen. Lehnte sich an das steinerne Geländer. Blickte hinüber zum Hospital von Santo Spirito, hinter dem der Tambour für die Kuppel des Petersdoms aufragte.
Mercuria sah hinunter. Der Tiber führte viel Wasser, die Regenfälle der letzten Wochen hatten den Fluss anschwellen lassen. Der schlammige Uferstreifen glänzte feucht in der Sonne, und kleine Wellen leckten an den Fundamenten der ans Wasser gebauten Häuser. Ein paar Frauen wuschen Wäsche. Ein Fischer zog langsam sein Netz ein. Die schwimmenden Mühlen drehten sich emsig in der Strömung.
«Als Kind bin ich oft hierhergekommen, wenn ich nachdenken musste. Das Wasser bringt meinen Verstand in Bewegung», sagte sie.
Ich spürte, dass es nicht nötig war, etwas zu erwidern.
«Wir wohnten nicht weit von hier, in der Via Giulia», fuhr sie fort. «Die ganze Nachbarschaft, alles Frauen des Gewerbes. Manchmal stand die ganze Straße voll mit Männern. Mein Gott, das war ein Gedränge, vor allem wenn sie mit ihren Kutschen kamen. Trotzdem gab es selten Ärger. Die wussten sich noch zu benehmen.»
Sie lachte, hob einen Zweig vom Boden auf und warf ihn ins Wasser, eine merkwürdige Geste der Verspieltheit, in der vielleicht die kleine Mercuria von damals kurz wieder auflebte. Erneut dachte sie nach. Es war, als müsste sie Anlauf nehmen.
«Später wohnte ich mit meiner Tochter allein dort», sagte sie schließlich. «Nach ihrem Tod habe ich die Häuser in der Via dei Cappellari gekauft und bin weggegangen.»
Wieder warf sie einen Zweig ins Wasser. Und wieder blickte sie mich an.
«Ich werde dir jetzt erzählen, was damals passiert ist», sagte sie mit belegter Stimme. «Kann sein, dass ich dabei anfange zu weinen. Ich habe das in den letzten Jahren viel zu selten getan.»
Sie schniefte. Es ging schon los. Unbeholfen legte ich ihr eine Hand auf den Arm.
«Gut», sagte sie schließlich. «Meine Tochter Severina war das hübscheste Mädchen, das jemals auf dem Antlitz dieser Erde gewandelt ist. Sie war schön, sie war klug, und sie hatte vor nichts und niemandem Angst.»
Mercuria presste kurz die Zähne zusammen, dann fuhr sie fort: «Wie ich schon erzählte, sorgte Isabella Gonzaga während des Sacco dafür, dass ich aus der Stadt gebracht wurde. Man geleitete mich nach Orvieto zu einem Freund. Dort wurde Severina geboren, im August siebenundzwanzig. Im Jahr darauf, als die Soldaten abgezogen waren, kehrte ich mit ihr zurück nach Rom.»
Eine naheliegende Frage drängte sich mir auf, aber ich wagte es nicht, sie zu stellen. Sie sah mich an, und natürlich verstand sie.
«Ihr Vater? Ihr Vater war Notar an der Kurie. Hatte kurz zuvor seinen Abschluss in Bologna gemacht und spekulierte auf eine große Karriere.»
«Und?», fragte ich vorsichtig. «Machte er die?»
Sie lachte auf. «Allerdings», sagte sie. «Und er beschloss, sich ganz darauf zu konzentrieren. Nicht dass eine Tochter mit einer wie mir damals schon ein Problem gewesen wäre, die hatten ja alle Kinder, die irgendwo erzogen wurden. Man erkannte sie an oder schob sie irgendeinem Bruder unter. Aber dieser Notar hatte einfach genug von mir. Kann man sich das vorstellen?»
Wehmütig lächelte sie.
«Nein», sagte ich. Ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen, aber sie stützte sich auf das Geländer und blickte ins Wasser, und ich konnte sie ja schlecht zu mir herüberzerren, um ihr meine Zuneigung zu bekunden.
«So war es aber. Er riet mir, Severina ins Kloster von Santa Caterina dei Funari zu bringen, wenn sie alt genug wäre. Da kamen solche Mädchen hin. Ich weigerte mich, das zu tun, und er weigerte sich, sie anzuerkennen. Aber das war mir egal. Ich brauchte seine Unterstützung nicht. Ich nahm mein Gewerbe wieder auf und verdiente viel Geld. Severina hielt ich da raus, so gut es ging. Viele Frauen haben das anders gehandhabt, aber ich wusste, dass meine Tochter nicht dafür gemacht war. Als Kind saß sie oft bei meinen Favoriten auf dem Schoß oder spielte mit einem meiner Freunde, während ich mit einem anderen oben war. Aber als die Ersten anfingen, ihr lüsterne Blicke zuzuwerfen, unterband ich das. Wie gesagt, sie war furchtlos, und das ist das Letzte, was eine Frau sich in diesem Beruf leisten kann. Und obwohl ich sie vom Gewerbe fernhielt, kostete ihre Furchtlosigkeit sie am Ende das Leben.»
Wieder schniefte Mercuria. Tränen traten in ihre Augen, sie bebte leicht, dann holte sie tief Luft und hatte sich wieder in der Gewalt.
«Mit achtzehn heiratete sie einen Bankier», fuhr sie fort. «Ein gutmütiger junger Kerl aus Florenz, der ihr den Hof machte, bis sie nachgab. Seine Eltern waren nicht begeistert, aber er war der Erste aus der Familie, der es bis ganz nach oben geschafft hatte, also konnten sie nicht viel sagen. Damals begannen die Zeiten für unsereins schwieriger zu werden. Das Konzil hatte gerade begonnen, und die Stimmen, die die Stadt von Sünde und Unzucht reinigen wollten, wurden lauter. Carafa und Ghislieri blähten die Inquisition auf. Die Gefängnisse füllten sich. Man begann, uns zu schikanieren, auch wenn ich davon nicht allzu viel zu spüren bekam, weil ich mich zur Ruhe gesetzt hatte und ein paar mächtige Beschützer ihre Hand über mich hielten. Nach acht Jahren starb Severinas Mann, und sie kehrte zurück zu mir. Sie trauerte nicht lange. Sie war ein lebensfroher Mensch, und ihr Mann hatte ihr wohl nie allzu viel bedeutet. Kinder hatte sie nicht bekommen.»
Ich spürte, dass Mercurias Bericht sich dem Punkt näherte, an dem es schmerzhaft wurde. Sie schluckte, atmete ein paarmal durch und sprach leise weiter.
«Wie gesagt, ich hatte immer noch viele Freunde. Eines Abends war ich zu einer kleinen Gesellschaft bei Kardinal Farnese geladen, und ich nahm Severina mit.»
Ich ahnte, was kommen würde.
«Farnese war entzückt von ihr. Das war keine Überraschung, denn er konnte schönen Frauen nie widerstehen, aber Severina brachte ihn regelrecht um den Verstand. Er überhäufte sie mit Geschenken, und sie genoss es. Alessandro Farnese ist ein ganz anderes Kaliber als dieser gutmütige Bankier aus Florenz. Ein überaus faszinierender Mann, der immer bekommt, was er will. Gutaussehend, gebildet, schlagfertig und unendlich reich. Er ließ ganze Häuserzeilen abreißen, nur damit man das Portal seines neuen Palastes von der Piazza Navona aus sehen konnte. So einer ist Alessandro Farnese.»
Sie wies in Richtung des Palazzo Farnese, der sich als gewaltiger Klotz über die Dächer der Via Giulia erhob.
«Ich weiß», sagte ich.
«Stimmt, dein Vater hat den Kasten ja ausgemalt. Mein Gott, ihr hättet euch dort begegnen können, du und Severina.»
Ich dachte an die langen Tage, die ich als Kind zwischen den Gerüsten im Palazzo Farnese zugebracht hatte, an Salviati und seine Gehilfen, die strammgestanden hatten, wenn der Kardinal hereingerauscht war, um den Fortschritt der Arbeiten zu begutachten. In Begleitung einer jungen Frau hatte ich ihn nie gesehen. Dennoch war der Gedanke befremdlich, dass Mercurias Tochter mir damals vielleicht begegnet war oder auch nur das von meinem Vater in die Freskenpracht geschmuggelte Porträt von mir betrachtet hatte.
«Man konnte förmlich zusehen, wie Severina dem Kardinal verfiel. Was hätte ich tun sollen? Ich hatte sie in diese Gesellschaft eingeführt und konnte sie ja schlecht einsperren. Na ja, andere hätten das getan, aber das wäre nicht meine Art gewesen. Severina wurde seine Geliebte. Natürlich legte er Wert darauf, dass nichts an die Öffentlichkeit drang. Gian Pietro Carafa war inzwischen Papst, und Alessandro Farnese hoffte immer noch, dass er auch noch an die Reihe kommen würde. Er war es sogar gewesen, der Carafas Wahl maßgeblich unterstützt hatte, wahrscheinlich, weil der schon so alt war, dass Farnese bereits auf das nächste Konklave spekulierte. Und bis dahin konnte er keine Skandale gebrauchen. Wenn er meine Tochter sehen wollte, ließ er sie abholen und auf einen seiner Landsitze bringen. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Erst recht nicht, als sie schwanger wurde.»
«Sie wurde schwanger?»
«Ja. Was dieser Florentiner Bankier in acht Jahren nicht geschafft hatte, das gelang Alessandro Farnese in acht Monaten. Mir war die ganze Zeit klar, dass es kein gutes Ende nehmen würde, ich hatte oft genug erlebt, wie solche Geschichten ablaufen. Aber das, was dann passierte …» Mercuria unterbrach sich und schluchzte auf. Diesmal konnte sie die Tränen nicht aufhalten. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. «Severina war im neunten Monat schwanger, als sie ermordet wurde. Vergewaltigt und ermordet. Im neunten Monat.»
Und dann brach der ganze Schmerz aus ihr hervor, wie an unserem ersten Abend. Sie weinte entsetzlich, laut, krampfend und ohne noch weitere Versuche zu unternehmen, den Ausbruch aufzuhalten oder einzudämmen. Ich wandte mich ihr zu, wiegte sie in meinen Armen und weinte mit. Im Hintergrund rauschte der Fluss gleichgültig dahin.
Es dauerte lange, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte. Durch den Schleier meiner eigenen Tränen sah ich ihr Gesicht, das, in einem merkwürdigen Kontrast zu ihren rot geweinten Augen, plötzlich hart geworden war.
«Sie war an diesem Abend noch einmal vor die Tür gegangen, weil das Kind in ihrem Bauch ihr keine Ruhe ließ. Eine Dienerin bot an, sie zu begleiten, aber sie wollte allein sein, furchtlos, wie sie war. Nur ein kleiner Sapziergang, sagte sie. Die Dienerin fragte, ob sie die Hebamme holen sollte, aber Severina meinte, es sei noch nicht so weit.» Ein würgender Laut kam aus Mercurias Kehle, als sie mit aller Macht einen neuen Weinkrampf niederrang. «Man fand sie vor dem Palazzo Farnese. Sie lebte noch. Man trug sie hinein und rief den Arzt von Alessandros Bruder Ranuccio, der sich damals im Palast breitgemacht hatte, aber der konnte auch nichts mehr tun. Meine Tochter Severina, mein schönes, kluges Mädchen, starb am zweiundzwanzigsten Oktober siebenundfünfzig. Vor zwölf Jahren.»
Mercuria wischte sich in einer fast ärgerlichen Geste mit dem Ärmel ihres Kleides das Gesicht ab.
«Und hat man …», fragte ich vorsichtig.
«Ja, hat man. Sofort am nächsten Tag wurde ein entlassener deutscher Söldner verhaftet und gestand, Severina erstochen zu haben, um sie auszurauben. Wie ich später erfuhr, hatte der Arzt festgestellt, dass sie vergewaltigt wurde, und zwar wahrscheinlich von mehreren Männern. Der angebliche Täter wurde noch in Tor di Nona gehängt, was schon merkwürdig genug war, denn normalerweise wurden solche Hinrichtungen öffentlich vollstreckt. Farnese kam am nächsten Tag dazu und wollte den Verdächtigen sehen, aber der war schon hingerichtet worden. Der Kardinal war außer sich und verlangte, den Beamten zu sprechen, der ihn vernommen hatte, doch der hatte sich in Luft aufgelöst. Man zeigte Farnese das Verhörprotokoll. Die Aussage des Beschuldigten ist voller Ungereimtheiten, und von einer Vergewaltigung ist gar nicht die Rede. Alle sagten, der Fall sei erledigt. Der Kardinal verlangte eine Kopie des Protokolls, aber auf dem Weg in die Schreibstube ging es plötzlich verloren. Farnese kochte vor Wut. Er drohte, Carlo Carafa zu informieren und die Sache weiter untersuchen zu lassen. Aber der Staatssekretär war in diplomatischer Mission abgereist.»
«Nach Brüssel», nickte ich.
«Ach ja? Na gut. Jedenfalls kam nichts mehr dabei heraus. Die ganze Sache stank zum Himmel, aber in der Strafjustiz herrschte damals ein großes Durcheinander. Ich war nicht in der Lage, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Und dann habe ich alles tief in mir begraben. Das Haus war bei der Überschwemmung ruiniert worden, es war in jeder Hinsicht höchste Zeit für einen Neuanfang. Ich kaufte die Häuser in der Via dei Cappellari und baute sie um, um mich zu beschäftigen. Ich sah zu, dass mein Leben irgendwie weiterging. Und es ging weiter.» Wieder sah sie mich mit ihren blauen Augen von der Seite an. Ihr Blick war hart. «Ich bin sicher, dass die Männer, die das getan haben, noch frei herumlaufen. In der letzten Zeit habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Ich will, dass der Mord noch einmal untersucht wird. Und vielleicht kannst du mir dabei helfen.»
«Wie?», fragte ich, zu allem bereit.
«Warst du nicht gestern bei Morone?», fragte sie.
Gab es in diesem Innenhof eigentlich nichts, was nicht innerhalb eines Tages alle wussten?
«Ja», sagte ich zögerlich.
Sie machte eine beschwichtigende Handbewegung. «Ich weiß, du sollst nicht darüber reden. Mich interessiert auch gar nicht, was er von dir will. Aber vielleicht kannst du über ihn etwas herausfinden. Er hat selbst im Gefängnis gesessen und kennt diesen Saustall aus nächster Nähe. Und glaubt man Bartolomeo, dann ist er ein durch und durch integerer und anständiger Mann.»
«Angeblich hat Morone gerade selbst Ärger», gab ich zu bedenken.
«Ich hörte davon», sagte sie. «Sein Freund Franco wird morgen gehängt.»
«Morgen schon?»
«Ja. Wie auch immer. Mich würde einfach interessieren, ob er sich an irgendetwas erinnert.»
«Warum sollte er uns helfen?» Uns, sagte ich tatsächlich schon.
«Weil er, wie gesagt, ein integerer und anständiger Mann ist.»
Wieder nickte ich. «Ich werde ihn fragen.»
Sie lächelte dankbar. «Das wäre ein Anfang.»
Eine Weile blickten wir wortlos von der Brücke hinunter. Und dann spülte das Wasser eine weitere Frage nach oben.
«Was wurde aus Severinas Vater? Diesem Notar?»
Sie lächelte amüsiert. «Fragt das der Gazettenschreiber?»
«Wer war er?», fragte ich, bemüht, nicht allzu neugierig zu klingen.
«Der kleine Notar aus Mailand», sagte Mercuria versonnen. «Ich lernte ihn auf einer Karnevalsfeier bei Kardinal della Valle kennen. Er war als Teufel verkleidet und ich als Türke. Mit angeklebtem Schnauzbart. Das machte ihn richtig rasend, seine Augen zuckten die ganze Zeit. Das passierte immer, wenn er nervös war. Seine Vorlieben gingen in eine gewisse Richtung.»
«Und dann?»
«Na, wie gesagt. Er verlor das Interesse an mir, nachdem er bekommen hatte, was er wollte.»
«Ja, aber später?»
«Severina wuchs heran. Man sprach von ihr. Und irgendwann begann er, sich doch für sie zu interessieren. Sie trafen sich manchmal. Sie mochte ihn, warum auch nicht, er war ihr Vater, und er konnte sehr liebevoll und herzlich sein. Ich hatte mich ja nicht mit einem Idioten eingelassen. Vielleicht hätte er sie sogar anerkannt, aber ich legte keinen Wert mehr darauf. Die Wunden waren verheilt. Und ihm war es ganz recht, dass ich nicht darauf bestand. Wie gesagt, er wollte ganz nach oben. Er war inzwischen Kardinal geworden.»
«Was?», fragte ich ungläubig.
Mercuria nickte. «Und das war noch nicht die letzte Sprosse auf seiner beruflichen Leiter.»
«Nein!»
«Doch. Aber als er zweiunddreißig Jahre nach der Geburt seiner Tochter den Heiligen Stuhl bestieg, da war sie schon nicht mehr am Leben.»
Ich starrte Mercuria mit offenem Mund an.
«Ja, schau du nur. Gianangelo Medici war Severinas Vater.»