Mercurias Geschichte ging mir den ganzen Rest des Tages im Kopf herum. Sie hatte eine Tochter mit dem späteren Papst gehabt, das wäre in der Tat etwas für Gazettenschreiber gewesen. Doch es war nicht die sensationelle Nachricht, die mich beschäftigte.

Gianangelo Medici musste Mercuria wichtig gewesen sein, er war mehr als ein Freund, Favorit oder Kunde gewesen. Sie hatte ein Kind mit ihm gehabt, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nichts zu bedeuten hatte, denn in ihrem Beruf verstand sie sich ja wohl darauf, genau so etwas zu verhindern. Sie musste dieses Kind gewollt haben, und vielleicht hatte sie sich damals in einem Augenblick der Schwäche der Vorstellung hingegeben, dass ihr Leben auch eine ganz andere Wendung hätte nehmen können, wenn er es auch gewollt hätte. Es berührte mich, dass sie das mir gegenüber so unmissverständlich angedeutet und mich in den dunkelsten Abgrund ihrer Seele hatte blicken lassen. Ich war plötzlich ein Mitwisser ihres Schmerzes geworden, ein Verbündeter ihres Plans, den Tod ihrer Tochter aufzuklären, und vielleicht der zukünftige Komplize ihrer Rache. Nach ihrem Geständnis waren wir nach Hause gegangen, sie hatte wieder ihr Gesicht in die Sonne gehalten und dabei merkwürdig zufrieden gewirkt. Und ich? Ich fühlte den gleichen Stolz wie auf dem Hinweg. Ich hätte alles für sie getan.

«Darf ich Gennaro einweihen?», hatte ich gefragt. Der Gedanke, die Sache hinter seinem Rücken weiterzuverfolgen, behagte mir nicht. Wie richtig diese Ahnung war, das sollte sich bald herausstellen.

«Das mache ich selbst.»

Da saß ich nun also und dachte nach, wie ich die Sache bei Morone zur Sprache bringen sollte. Gleich beim ersten Mal? Oder erst, wenn ich ein paar Erfolge bei der Erfüllung seines Auftrags vorzuweisen hätte? Sollte ich Bartolomeo vielleicht um Rat fragen? Was wusste der eigentlich davon?

 

Am nächsten Tag war das Wetter so schön, dass ich gleich nach dem Aufstehen zu einem kleinen Spaziergang am Flussufer aufbrach, um mir frischen Wind um die Nase wehen zu lassen. Dass genau an diesem Morgen die Vollstreckung des Todesurteils gegen Niccolò Franco stattfinden sollte, fiel mir erst auf dem Weg wieder ein.

Eigentlich hatte ich diese Art von Veranstaltung satt. Unter Ghislieri verging kaum ein Monat ohne die traurigen Gestalten mit den spitzen Papierhüten auf dem Kopf, den Fesseln an Händen und Füßen und den Foltermalen

Niccolò Franco war all das nicht. Er war wegen Hochverrats verurteilt worden, genauer gesagt, wegen der Verbreitung verleumderischer Schriften und lügenhafter Angriffe auf die Obrigkeit.

Und so fand ich mich an jenem Märzmorgen auf dem Platz vor der Engelsbrücke ein, wo der Henker auf Niccolò Franco wartete. Es war die alte Gewohnheit, die mich immer wieder dorthin trieb, wo die Dinge passierten, über die hinterher alle sprechen würden, die Lust, das Geschehen auszuschmücken und mit erfundenen Zwischenfällen zu garnieren. Man lässt eine schwarze Katze fauchend unter dem Scheiterhaufen hervorschießen, und schon kann das Volk aufstöhnen, weil der Beweis erbracht ist, dass der Teufel seine Hand im Spiel hat.

Doch an diesem Tag war ich eher beklommen, und das nicht nur deshalb, weil ich trotz meiner berufsmäßigen Freude an Spektakel und Radau keinerlei Genuss dabei empfand, anderen beim Leiden und beim Sterben

Da kam er auch schon. Der schwere Wagen mit dem Gitterkäfig rollte von Ripetta aus heran, vorneweg eine kleine Schar Maskierter aus der Bruderschaft von San Giovanni Decollato, die ein mit einem schwarzen Tuch verhängtes Kruzifix vor sich hertrugen. Es wehte ein scharfer Wind an diesem sonnigen Morgen; Wolken schoben sich über den blauen Himmel, als wollten sie noch rechtzeitig den Schauplatz des Geschehens verlassen. Der Galgen stand in der Mitte des Platzes, in Verlängerung der Brücke zur Engelsburg, die im Hintergrund aufragte, wie um den Fluchtweg über den Fluss zu versperren.

Der Gouverneur hatte einiges an Knüppelmännern aufgeboten, um die Zuschauer auf Abstand zu dem Podest mit dem Galgen zu halten. Sie hatten eine Kette gebildet und waren offenbar auf alles gefasst. Anders als bei der Auspeitschung von Bona la Bonazza, der ich mit Gennaro knapp zwei Monate zuvor beigewohnt hatte, standen sie nicht gelangweilt herum, sondern suchten mit ihren Blicken die Menge ab, als hielten sie Ausschau nach Rädelsführern eines möglichen Aufruhrs.

Die Menge murmelte vor sich hin. Neben den üblichen Rindviechern, die es sich offenbar zum Beruf gemacht hatten, solchen Veranstaltungen glotzend beizuwohnen, sah ich eine ganze Reihe von Männern, die Franco wohl die letzte Ehre erweisen wollten: Notare und Sekretäre, die gleich wieder in ihre Kanzleien und Schreibstuben zurückkehren würden und ganz offensichtlich nicht einverstanden waren mit dem, was hier gleich geschehen würde. Empörung lag in der Luft, Empörung und ohnmächtige Wut.

Der Henker schob das Spalier der Knüppelmänner auseinander, ging zum Wagen und öffnete umständlich das Schloss. Die Tür schwang auf, und Franco mühte sich aus seinem rollenden Gefängnis. Er war an Händen und Füßen gefesselt – eine völlig überflüssige Maßnahme, die nur der Demütigung diente, denn dieser Mann, der nun unsicher einen Fuß vor den anderen setzte, wäre auch ohne die Ketten nicht weit gekommen. Am Arm des Henkers erklomm er das Schafott. Um seinen Hals baumelte ein Pappschild, das ihn als Verfasser von verleumderischen Schriften auswies.

Die Zuschauer rückten dichter zusammen. Neben mir standen zwei Knilche, die selbst aussahen wie Literaten, wirr und nachlässig gekleidet, der eine hager mit Spitzbart und Hakennase, der andere dick und rotgesichtig von

Als Nächstes trat ein feierlich gekleideter und überheblich einherschreitender Beamter des Heiligen Offiziums auf den Plan, erstieg ebenfalls das Schafott und erhob die Stimme. Die Menge verstummte. Im Hintergrund rauschte der Tiber. Die Sonne kam hinter einer der schnell dahintreibenden Wolken hervor und beleuchtete das Gerüst. Eine Taube ließ sich auf dem Galgen nieder, tippelte ein bisschen herum und flog wieder weg.

Während der Beamte, wohl ein Routinier in seinem Geschäft, in freier Rede vortrug, was Franco zur Last gelegt wurde, waren hier und da Äußerungen des Missfallens zu vernehmen. Plötzlich war auch ein Priester da, der sich vor Franco aufbaute und ihm das Kruzifix vor die Nase hielt.

«Die Priester stecken ihn sich gerne hinten rein», sagte der mit dem Spitzbart neben mir ziemlich laut.

«Dann muss die Sodomie wohl gottgefällig sein», antwortete der Dicke. Ein paar Köpfe wandten sich um. Einige nickten und grinsten. Das Zitat war offenbar bekannt.

Der Priester trat zurück. Der Beamte war fertig und übergab an den Henker, der Franco auf den Hocker unter dem Galgen half und ihm die Schlinge um den Hals legte. Franco schloss die Augen und nuschelte etwas; es war unmöglich zu sagen, ob es ein letzter bissiger Reim war oder vielleicht doch ein Gebet. Dafür, dass er es war, der hier im Mittelpunkt stand, wirkte er ziemlich unbeteiligt.

«Geht und verreckt, ihr Schafsköpfe, ihr dummen!», deklamierte der Spitzbart.

«Ersauft, erstickt, kurz: Lasst euch nicht mehr blicken!», antwortete der Dicke. Sie zelebrierten ihren Dialog regelrecht. Wahrscheinlich hatten sie vorher geübt.

«Ein letzter Wunsch? Ja! Bringt mir was zu …»

Das letzte Wort ging im Aufstöhnen der Menge unter: Der Henker hatte den Hocker weggezogen. Ich wandte mich ab und ließ meinen Blick über die Umstehenden schweifen, die ganz unterschiedliche Reaktionen zeigten: demonstrative Gelassenheit, angewidert zusammengekniffene Augen, vor die Gesichter geschlagene Hände, Finger, die auf das Geschehen zeigten, Erregung, Erbitterung und dann auch ein bisschen Erleichterung, weil es schnell ging. Im Augenwinkel sah ich, wie der Körper kurz zuckte und dann schlaff am Strick hing. Das morsche Genick war offenbar sofort gebrochen, sodass Franco ein unschöner Todeskampf erspart geblieben war.

Als ich wieder nach vorn schaute, hatte der kleine Kerl mit der Kapuze sich zu mir umgedreht.

Ein dreieckiges Gesicht mit spitzem Kinn, schräge, etwas engstehende und ziemlich freche Augen, eine sehr schmale Nase und ein winziger Mund. Giordana.

«Ficken», vollendete sie den Vers. In ihren Augen blitzte die nackte Wut.

«Na, na», sagte der Spitzbart.

«Weg hier», sagte Giordana, nahm meine Hand und führte mich durch die Menge, am Galgen vorbei zur Brücke. Ich folgte völlig überrumpelt.

Das Wasser rauschte und gurgelte. An den Brückenpfeilern bildeten sich Wirbel, in denen Schaum und Abfälle tanzten. Giordana zog mich weiter, bewegte sich zielstrebig wie die Wolken über unseren Köpfen. Ihre schmale Hand lag warm und weich in meiner.

Wir überquerten die Brücke und wandten uns nach links, vorbei an der Torbastion der Engelsburg. Auf der Galerie

Auf der Piazza Scossacavalli zog sie mich auf eine der Bänke vor dem Palazzo Campeggi. Eine Weile saßen wir nur da. Giordana blickte vor sich hin, und ich traute mich nicht, sie anzuschauen. Ich war wie benommen.

Und dann weinte sie. Giordana, dieses abgebrühte und zornige kleine Geschöpf, weinte still vor sich hin. Ich merkte es zuerst nur daran, dass da etwas zuckte, dann schielte ich doch zur Seite und sah, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

«Jetzt ist er hin», sagte sie.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Der Wind pfiff und jaulte über den Dächern. Wolkenschatten und Sonnenlicht wechselten sich ab, als klappte jemand im Himmel riesige Fensterläden auf und zu.

Sie wischte sich die Tränen ab und wusste nicht, wohin mit ihren feuchten Händen.

«Niccolò Franco war mein Freund.»

«Wirklich?»

«Also, eigentlich war er ein Freund meines Vaters. Er war öfter bei uns, und dann schaute er immer bei mir rein. Wir verstanden uns. Wir tauschten Gedichte aus. Ich habe einiges von ihm gelernt.»

«Ich dachte, er hat seit Jahren nichts mehr geschrieben?»

«Von wegen. Es ist bloß seit Jahren nichts mehr gedruckt worden.»

Das erklärte so einiges. Wahrscheinlich hatte Franco

«Es gab nicht viele Leute, die ihn mochten. Er konnte ziemlich widerlich sein; es machte ihm Spaß, andere vor den Kopf zu stoßen. Er scherte sich nicht darum, was man von ihm dachte. Das gefiel mir.»

«Kann ich mir vorstellen», wagte ich zu sagen.

Sie blickte mich von der Seite an. «Was soll das denn heißen?»

«Du scherst dich auch nicht darum, was man von dir denkt.»

Ihr Gesicht wurde verschlossen. Sie funkelte mich an. «Was weißt du denn schon von mir? Ich hätte dich einfach da stehen lassen sollen.»

Ich schwieg eine Weile, damit ihre heranbrandende Wut sich totlaufen konnte. Aber eigentlich war sie gar nicht wütend. Sie war traurig.

«Es stimmt ja», sagte sie schließlich leise. «Ich stoße auch ständig Leute vor den Kopf.»

Ich schüttelte den Kopf, wollte sie beschwichtigen, aber sie fuhr fort: «Absichtlich.»

«Was meinst du damit?»

Sie seufzte auf, als fiele es ihr schwer, eine Antwort über die Lippen zu bringen. «Mein Vater stellt mir ständig irgendwelche Kerle vor, die mich heiraten sollen. Ich will aber nicht. Diese Schwachköpfe und Schwadronierer können mir alle gestohlen bleiben, und je eher sie merken, dass sie sich an mir die Zähne ausbeißen, desto besser.»

«Wer ist denn dein Vater?»

Mehr wollte sie offenbar nicht preisgeben, und ich beließ es dabei. Sie wohnte auf dem Monte Giordano. Das sagte schon einiges.

Doch sie schien noch etwas richtigstellen zu wollen.

«Mein Vater liebt mich sehr», sagte sie. «Nur dass du das weißt. Er zwingt mich zu nichts. Und wenn jemand mir weh tun würde, dann würde er ihn umbringen.»

Dass sie bei diesem Satz wieder meine Hand nahm, irritierte mich schon etwas.

«Wirklich umbringen», schob sie hinterher. «Persönlich.»

Zuerst dachte ich, sie hätte sich in ihren Gedanken verloren, aber sie war nicht in Gedanken. Sie war bei der Sache. Eine ihrer Fingerspitzen begann, ganz vorsichtig meine Handfläche zu kitzeln.

«Zuerst einen Finger nach dem anderen abschneiden.»

Ein zweiter Finger kam dazu. Ein dritter.

«Dann die Augen ausstechen.»

Ich wandte mich ihr zu. Sie hatte mich die ganze Zeit betrachtet.

«Und zuletzt das Herz rausreißen», sagte sie.

Mein Herz klopfte ein bisschen schneller.

Und dann beugte sie sich vor, sodass ihr Katzengesicht ganz dicht vor meinem war, und küsste mich mit ihrem kleinen Mund. Ganz selbstverständlich, auf einer Bank vor dem Palazzo Campeggi an der Piazza Scossacavalli. Ein paar Gesichter wandten sich uns zu.

«Die glotzen schon», sagte ich.

«Mir egal, was die von mir denken», nuschelte sie zwischen den Küssen. «Hast du selbst gesagt.»

Das stimmte, und mir war es auch egal. Ihre Lippen waren kühl wie frisches Wasser. Von mir aus hätte es ewig so

«Ich muss gehen.»

Ich schaute zu ihr hoch. «Sehen wir uns wieder?»

«Sicher.»

So war sie. Tauchte auf und verschwand, wie es ihr gerade passte.

Aufgewühlt ging ich nach Hause, aber nicht über die Engelsbrücke, sondern durch den Borgo und die Via Settimiana. Ich hatte keine Lust, mir das entwürdigende Schauspiel anzusehen, wie sie die Leiche von Niccolò Franco wegschafften.