Am nächsten Tag hatte Gianluca es eilig, mich aus dem Haus zu komplimentieren, bevor Antonella aufgestanden war; wahrscheinlich wollte er nicht, dass ich sah, wie sie im Hemd herumhüpfte, auch wenn nach den Ereignissen der vergangenen Nacht in dieser Hinsicht wohl kaum neue Einblicke zu erwarten gewesen wären, ganz abgesehen davon, dass meine Finger ein paar Wochen zuvor schon an ganz anderen Stellen gewesen waren.
Ich hatte die Nacht auf ein paar Decken im unteren Zimmer verbracht und war bei jedem Knacken der Holzbalken und bei jedem irgendwo im Wind schlagenden Fensterladen hochgeschreckt, obwohl Gianluca die Haustür verrammelt und einen Stuhl unter die Klinke geschoben hatte.
Nachdem ich einen Blick in mein Haus geworfen hatte, schleppte ich mich todmüde zu Mercuria, die auch an diesem Morgen schon wieder Obst schnippelte. Der Frühstückstisch schien neuerdings der Ort zu sein, an dem wir unsere Angelegenheiten besprachen. Doch an diesem Morgen konnte ich verständlicherweise kaum klar denken.
«Farnese steckt dahinter», sagte ich finster, während sie liebevoll ein paar Apfelscheiben auf einem Teller für mich drapierte.
«Kann ich mir nicht vorstellen», antwortete sie nachdenklich. «Das ist einfach nicht sein Stil.»
Warum nahm sie den Kardinal eigentlich immer noch in Schutz? Er war völlig außer sich gewesen, weil ich seinen Arzt ausgefragt hatte, er hatte Erkundigungen über mich einholen lassen, um herauszufinden, wo ich wohnte, und nur ein paar Tage später lauerte mir ein finsterer Mordgeselle in meinem eigenen Haus auf, also ehrlich, da musste man sich doch wohl ganz schön anstrengen, keinen Zusammenhang zu sehen. Aber Mercuria ließ sich nicht davon abbringen, dass Farnese nichts mit dem Überfall zu tun hatte. Wollte sie sich nicht eingestehen, dass ihre Tochter sich mit einem Mann eingelassen hatte, der Attentäter in der Gegend herumschickte? Ich dagegen traute dem Kardinal alles zu, und auch die Möglichkeit, dass er irgendwie in den Mord an Severina verstrickt war, kam mir nicht völlig abwegig vor. Seine ergebnislosen Nachforschungen nach ihrem Tod erschienen mir bei genauerem Nachdenken verdächtig halbherzig. Schön und gut, er hatte den ganzen Gouverneurspalast zusammengebrüllt, um an das verschwundene Verhörprotokoll zu kommen, aber was hieß das schon? Hatte er es bekommen? Nein. Kam Mercuria nicht in den Sinn, dass das alles vielleicht nur Theater gewesen war?
«Wer könnte ein Interesse daran haben, dass du aus dem Verkehr gezogen wirst?», fragte Mercuria. «Piero Carafa?»
«Natürlich, aber der weiß noch nicht mal, dass es mich gibt.»
«Giordanas Vater?»
«Der hoffentlich auch nicht», sagte ich.
Sie lachte spöttisch auf. «Du bist mir ein Herzchen. Ihr seid nach Niccolò Francos Hinrichtung am helllichten Tag händchenhaltend durch die Stadt spaziert. Und auf der Piazza Scossacavalli? Was genau habt ihr da noch mal gemacht?»
«Ist ja gut», sagte ich.
«Nein, es ist nicht gut. Was ist, wenn er seine Tochter beschatten lässt, sobald sie einen Fuß vor die Tür setzt? Man könnte es ihm noch nicht einmal verdenken. Da steht der Ruf der ganzen Familie auf dem Spiel!»
«Welcher Familie? Sie hat mir nichts über ihre Familie erzählt.»
Außer, dass ihr Vater viel zu sagen hat und jeden umbringen würde, der seiner Tochter zu nahe tritt, dachte ich bei mir, sagte aber nichts.
«Stell dich nicht dumm», setzte Mercuria nach. «Sie wohnt auf dem Monte Giordano! Warum trägt sie diesen Namen? Sie ist eine Orsini! Du bandelst mit einem Töchterchen aus der Familie des berüchtigtsten Wüterichs im ganzen Kirchenstaat an und wunderst dich, dass sie dir aufs Dach steigen? Die schnippen einmal mit den Fingern, und du hast eine ganze Armee von Meuchelmördern auf dem Hals!»
«Es war aber nur einer», sagte ich bockig. Ich wollte nicht, dass der Anschlag etwas mit Giordana zu tun hatte.
«Stimmt», sagte sie ungnädig. «Und wahrscheinlich wollte er dir mit seinem Dolch auch nur die Fingernägel sauberkratzen.»
Ich sagte nichts. Die Vorstellung war beängstigend und leider auch ein bisschen aufregend. Ich sah mich schon wegen Giordana in einer Blutlache liegen. Jedenfalls war es wahrscheinlich keine gute Idee, irgendwelche Nachrichten auf dem Monte Giordano zu hinterlassen.
Mercuria drehte nachdenklich an einem kleinen Rubinring, den sie am Finger trug. Ich fragte mich, ob das der Ring war, den ihr der junge Bischof vor über vierzig Jahren geschenkt hatte.
«So kommen wir nicht weiter», sagte sie. «Wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.»
Mit diesen Worten stand sie auf und ging nach nebenan. Sie kramte ein bisschen herum und kam mit einem engmaschigen und innen mit Stoff gefütterten Drahtgestell zurück, das wie ein gepolsterter Geflügelkäfig aussah.
«Was soll das denn sein?»
«Ein Panzerwams. Hat vor Jahren mal jemand bei mir liegengelassen. War gar nicht so einfach, ihn da rauszuschälen. Das ziehst du von jetzt an mal besser an, wenn du vor die Tür gehst. Außerdem besorge ich uns einen Nachtwächter für den Innenhof.»
Ihre Fürsorge rührte mich. Sie grinste.
«Der hatte genau deine Statur.»
Ich zog mein Hemd aus und quetschte mich in das steife Kleidungsstück, wobei sie mich aufmerksam beobachtete.
«Aber nicht dein Format.»
«Danke.»
«Macht dich ein bisschen stattlicher», sagte sie, als ich das Hemd wieder übergezogen hatte.
Na dann, dachte ich und stolzierte ein bisschen im Zimmer auf und ab. Das Ding scheuerte auf den Hüften, an den Schultern und am Halsausschnitt, und ich konnte mir denken, wie meine Haut an diesen Stellen nach einem Tag aussehen würde. Aber natürlich war es besser als eine Klinge zwischen den Rippen.
«Vielleicht war es doch Piero Carafa», sagte Mercuria nachdenklich, als ich schon auf der Treppe war. «Du solltest Morone mal fragen, ob außer ihm irgendjemand von deinem Auftrag weiß.»
Und als hätte die Erwähnung des Namens genügt, um die Dinge wieder in Bewegung zu bringen, fand ich beim Betreten meines Hauses einen versiegelten Brief. Er lag unter dem Stuhl, den der Angreifer beim Versuch, mir nachzustellen, beiseite geschleudert hatte. Auf dem Papier war ein Fußabdruck zu erkennen. Offenbar war der Brief nicht erst an diesem Morgen unter der Tür durchgeschoben worden.
Ich erbrach das nachlässig aufgedrückte Siegel. Es war dieselbe Schrift wie in den Instruktionen zu Piero Carafa, die der Kardinal mir mitgegeben hatte – wahrscheinlich Morones eigene Hand, denn es war ja wohl nicht anzunehmen, dass er diese Angelegenheit einem Sekretär anvertraute.
Nur zwei Sätze: Er hat angebissen. Geh zu seinem Haus und behalt ihn im Auge.
Verdammt, dachte ich. Wenn der Brief vom Vortag war, dann war es vielleicht schon zu spät, und Piero Carafa hatte die geforderten Dokumente mit triumphierendem Grinsen bereits abgeliefert. Andererseits konnte ich ja schlecht tatenlos hier sitzen bleiben, schließlich war es noch früh am Morgen. Also machte ich mich erneut auf den Weg nach Santi Quattro Coronati. Ich schlug ein paar Haken, blieb stehen und blickte mich um, um zu sehen, ob irgendwo hinter mir ebenfalls jemand anhielt, tauchte in menschenleere Seitengassen ab und lauerte in Hauseingängen auf um die Ecke biegende Verfolger, machte dann und wann unversehens kehrt und ging ein Stück in die entgegengesetzte Richtung. Als ich beim Colosseum anlangte, hätte ich schwören können, dass mir niemand gefolgt war, doch ganz sicher fühlte ich mich trotzdem nicht, schließlich konnte man nie wissen, was für Tricks einer auf Lager hatte, der sich für so etwas bezahlen ließ.
Als ich durch das Portal der Klosteranlage trat, liefen mir Matteo und Lorenzo über den Weg, die mich beiläufig begrüßten, als gehörte ich hier schon zum Inventar. Glücklicherweise stellten sie keine Fragen.
Ich nahm meinen Platz ein. Das Haus von Piero Carafa lag friedlich und wie verlassen da. Aus der Kirche drang das Klimpern der Meißel herauf, mit denen die Steinmetze neue Steinplatten für den Boden zurechtschlugen.
Piero Carafa ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Entweder er verließ das Haus nicht, oder er war schon weg. Der Gedanke, dass er vielleicht gerade in diesem Augenblick die Dokumente aus irgendeinem Versteck holte, machte mich ganz verrückt. Wie sollte ich Morone diesen Misserfolg bloß erklären? Und was, wenn die ganze Zeit über niemand im Haus war und ich gerade die beste Gelegenheit verpasste, mich dort umzusehen? Fast hoffte ich, dass sich wenigstens einer der Angestellten zeigen würde, damit ich sicher war, hier nicht meine Zeit zu vertun.
Die Sonne zog ihre Bahn, der Schatten des Glockenturms wanderte über den Innenhof. Ein junger Kerl mit farbverschmierten Händen erschien, wahrscheinlich der Maler, der die Kapelle mit einem Fresko verzieren sollte. Er trug ein paar Utensilien in den Klausurbereich und blieb verschwunden.
Die Zeit dehnte sich. Ich dachte an Giordana und stellte mir vor, wie sie plötzlich auftauchte, um mich auf dem Glockenturm zu verführen, den ich anschließend gegen die heraufstürmenden Meuchelmörder würde verteidigen müssen, die ihr Vater geschickt hatte. Weil niemand kam, sagte ich leise ihre Gedichte auf.
Jede volle Stunde schlug die Glocke. Ab und zu drangen Gesänge aus der Kirche herauf. Das Panzerwams lastete schwer auf meinem Brustkorb, aber ich wagte nicht, es abzulegen. Irgendwann gegen Nachmittag machte die schöne Köchin sich mit dem Korb auf den Weg. Und dabei kam mir eine Idee: Der Grieche suchte ein Modell für eine Madonna? Warum nicht diese hier?
Die Glocke schlug erneut. Piero Carafas Köchin kam zurück. Eine Schwester fegte den Innenhof. Die Steinmetze erschienen, schubsten sich übermütig herum wie ein Knäuel balgender Welpen und verschwanden. Besonders anstrengend schien ihre Arbeit nicht zu sein.
Während die Dämmerung hereinbrach, stieg ich ernüchtert von meinem Turm. Als ich an Piero Carafas Anwesen vorbeikam, trat plötzlich der Verwalter vor die Tür und blickte sich um, als erwartete er jemanden. Zum Glück kam genau in diesem Augenblick, angeführt von einem Priester, eine schwatzende Pilgergruppe auf dem Rückweg vom Lateran vorbei und blieb auf ein Handzeichen des Geistlichen genau vor dem Tor stehen, um sich von ihm eine begeisterte Zusammenfassung der an diesem Tag erlangten Sündenablässe anzuhören. Sie scharten sich um ihn wie eine Rinderherde um den Leitbullen. Ein paar misstrauische Blicke trafen mich, als ich mich dazugesellte. Wahrscheinlich argwöhnten sie, ich könnte ein Taschendieb sein, also tat ich ein bisschen interessiert, während ich zum Haus hinüberschielte.
Immer noch stand dort der Verwalter, wenn er das überhaupt war, und ließ seinen Blick über den Garten schweifen, die Hände mit den Handschuhen in die Hüften gestemmt. Unter der engen Hose zeichneten sich die Muskeln ab. Kontrollierte er die Arbeit des Gärtners? Oder wartete er darauf, dass der Hausherr zurückkehrte? War er etwa in die Erpressung eingeweiht? Waren sie Komplizen? Oder arbeitete er gar nicht für Piero Carafa, sondern war nur ein Freund oder Verwandter, der hier beherbergt wurde, um beim Verprassen des ergaunerten Geldes zu helfen?
Eigentlich sah er nicht aus wie jemand, der sich von anderen aushalten ließ. Schon seine straffe Haltung verriet, dass er nicht gern herumsaß, sondern zupackte. Er war kräftig, obwohl er, den Falten in seinem harten Gesicht nach zu urteilen, die fünfzig schon weit überschritten haben musste. Breitbeinig stand er da wie ein Faustkämpfer in Erwartung des Gegners. Er hatte einen grauen Stoppelbart und einen kurzgeschorenen, ebenfalls grauen Haarkranz um den kahlen Schädel. Nur die Augenbrauen waren pechschwarz und in einem steilen Bogen geschwungen, was seinem ohnehin schon argwöhnischen Blick eine beunruhigende Gereiztheit verlieh. Er sah aus, als wartete er nur darauf, provoziert zu werden. Von dem wollte man auf keinen Fall bei einem Einbruch überrascht werden. Umso schlimmer, dass Gennaro ausgefallen war. Wenn dieser Kerl mich erwischte, würde er mich wahrscheinlich in der Latrine ertränken, da half auch kein Panzerwams.
Die Pilgergruppe setzte sich wieder in Bewegung. Um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, ließ ich mich mit der Herde treiben, bis sie in einer Herberge verschwand wie die Rinder im Stall. Auf dem Heimweg mied ich unbelebte Gassen und blickte mich ständig um. Unbehagen, Enttäuschung und Müdigkeit überschwappten mich abwechselnd. Hätte ich geahnt, was diese Nacht noch für mich bereithalten würde!
Aus dem Durchgang zu unserem Innenhof drang ein flackernder Lichtschein. Vorsichtig näherte ich mich. Mercuria hatte ein paar Fackeln aufgestellt, und nicht nur das: Neben einer der Säulen ihres Altans stand ein bulliger Kerl in voller Soldatenmontur. Brustharnisch, Helm auf dem Kopf, Säbel in der Hand, Messer im Gürtel, und zu allem Überfluss lehnte auch noch eine Arkebuse hinter ihm an der Wand, als rechnete er mit dem Angriff einer ganzen Kompanie. Er war offenbar im Bilde und nickte mir nur kurz zu. Mein Blick fiel auf die Arkebuse. Der Besitz solcher Waffen war streng verboten.
«Sondergenehmigung», sagte er. Es blieb das einzige Wort, das ich von ihm zu hören bekam.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hatte schon gefürchtet, eine weitere Nacht ohne Schlaf zubringen zu müssen, aber an diesem Kerl würde niemand vorbeikommen. Wer von dem einen Kinnhaken bekam, der würde bis zum Mond fliegen.
Bei Mercuria brannte noch Licht, also klopfte ich an ihre Tür. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie, schon im Nachthemd, herunterkam und mir öffnete. Als ich ihr Gesicht sah, hätte ich fast einen Schritt rückwärts gemacht. Sie war so aufgewühlt, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ihre Augen flackerten, fast als wäre sie dem Irrsinn verfallen.
«Ich weiß jetzt, was Farnese verheimlicht», sagte sie mit rauer Stimme. Sie klang, als hätte sie drei Nächte lang durchgezecht.
Ich folgte ihr nach oben. Die Treppe schien ihr Mühe zu bereiten.
Auf dem Tisch lagen die Papiere meines Onkels, teils verstreut, teils auf verschiedene Stapel sortiert. Ein Blatt lag für sich allein da.
Es trug eine Art Zeichnung: ineinandergefügte Quadrate aus roten Linien, dazu Beschriftungen, Symbole und Zahlen. Ein Horoskop. Über dem großen roten Quadrat, das die anderen umgab, stand ein Name, doch um ihn entziffern zu können, hätte ich mich vorbeugen müssen. Ich wagte kaum, mich zu rühren. Meine Gedanken rasten.
Mercuria blickte aus dem Fenster. Sie sah älter aus, als sie mir jemals vorgekommen war.
«Sagt dir der Name Clelia Farnese etwas?»
«Nein.»
«Clelia Farnese ist eine Tochter des Kardinals», sagte sie heiser, «die er seit ihrer Geburt bei irgendwelchen Verwandten aufziehen lässt. Vor ein paar Jahren hat er sie legitimiert und mit einem Cesarini verlobt. Die Sache war für kurze Zeit Stadtgespräch, dann haben sich alle wieder beruhigt. Die Hochzeit soll nächstes Jahr stattfinden. Sie ist das einzige Kind, das er jemals anerkannt hat. Wie viele er sonst noch hat, weiß er wahrscheinlich selbst nicht.»
Mercuria griff nach dem Blatt auf dem Tisch. «Das hier ist ein Horoskop, das er von irgendeinem dieser überbezahlten Pfuscher hat erstellen lassen. Es war zwischen den Unterlagen deines Onkels. Ich nehme an, dass er es für einen seiner Berichte kopiert hat. Diese Art von Hokuspokus war wahrscheinlich unter der Würde von Antonietto Sparviero. Eine der vielen Spielereien, für die Herrschaften wie Alessandro Farnese ihr Geld zum Fenster hinauswerfen.»
Sie reichte mir das Blatt. Über dem Ganzen stand Illustrissima Domina Clelia Farnesia. Ich blickte auf die Quadrate und Rauten, die Tierkreiszeichen und Zahlen und kam zunächst tatsächlich nicht darauf, was das sollte.
«Das Geburtsdatum», sagte sie ungeduldig.
«Zweiundzwanzigster Oktober fünfzehnhundertsiebenundfünfzig.»
Als ich begriff, was sie meinte, setzte mein Herz einen Schlag aus.
«Das Todesdatum deiner Tochter», flüsterte ich.
«Meiner hochschwangeren Tochter, die sterbend zu Farneses Arzt gebracht wurde», sagte Mercuria. «Einem hervorragenden Chirurgen.»
«Wann hast du das entdeckt?»
«Gerade eben.»
Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wie das damals abgelaufen war. Für den Kaiserschnitt hatte der Arzt wahrscheinlich höchstens ein paar Minuten gehabt. Dafür hatte er bei dem Eingriff keine Rücksicht mehr auf die Mutter nehmen müssen. Es war eine grauenhafte Vorstellung.
Mercuria war deutlich anzusehen, dass sie kurz vor einem Weinkrampf stand. «Ich muss mich hinlegen», sagte sie mit belegter Stimme und verschwand nach nebenan. Eine Weile stand ich unschlüssig herum. Wollte sie allein sein? Sollte ich mich herausschleichen? Durch die angelehnte Tür sah ich, dass sie sich aufs Bett hatte fallen lassen. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht in einem Kissen verborgen, unter dem sie ihre Hände verschränkt hatte. Ihre Schultern zuckten.
«Jetzt komm schon her.» Ihre Stimme war kaum zu verstehen.
Zögernd trat ich ins Schlafzimmer, nahm auf der Bettkante Platz und streichelte linkisch ihren bebenden Rücken, unschlüssig, was ich denn nun tun sollte. Ihre Hand kam unter dem Kissen hervor und zog mich heran. Ich legte mich neben Mercuria und nahm sie in die Arme. Wäre in diesem Moment irgendjemand hereingekommen, hätte sich ihm das Bild eines ineinander verschlungenen Liebespaares geboten. Aber das waren wir nicht, obwohl ich ihr in diesem Augenblick wahrscheinlich näher war als jeder, mit dem sie dieses Bett zuvor geteilt hatte.
Nach einer Weile drehte sie mir das Gesicht zu. Ihre verweinten Augen begannen zu lächeln, und auf einmal wirkte sie nicht mehr zerbrechlich, sondern so unerschrocken, wie ich sie kennengelernt hatte. Und ich begriff, dass sie in ihrem unerschütterlichen Glauben an das Gute zu der Erkenntnis gekommen war, dass ihr etwas geschenkt worden war.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dalagen. Es war befremdlich und vertraut zugleich. Schließlich stand sie auf, richtete ihr Nachthemd und zog mich an der Hand hinter sich her in das Zimmer über dem Altan, als hätte sie beschlossen, dass es etwas zu feiern gab.
Sie griff nach einer Weinkaraffe und füllte zwei Pokale.
«Soll ich denen jetzt dankbar sein oder sie zum Teufel wünschen?»
Darauf hatte ich auch keine Antwort.
«Wahrscheinlich beides», sagte sie nachdenklich. «Der Arzt hat meine Enkelin gerettet, der Kardinal hat sie mir vorenthalten. Sie hätte bei mir aufwachsen müssen. Aber das konnte er natürlich nicht zulassen.»
«Was willst du jetzt machen?»
«Ich knöpfe ihn mir vor. Ich will sie sehen. Wenn er mir das verweigert, erfährt die ganze Stadt von der Geschichte. Das wird ein gefundenes Fressen für seine Gegner bei der nächsten Papstwahl.»
Lange sagte sie nichts. Dann hob sie ihren Pokal. Sie hatte feuchte Augen, aber sie lächelte.
«Worauf sollen wir trinken?»
«Auf das Leben», sagte ich.
«Einfallsloser geht’s ja wohl nicht. Auf das Leben trinken meistens die, die am wenigsten Ahnung davon haben. Aber diesmal passt es. Also von mir aus.»
Als wir anstießen, liefen ihr wieder die Tränen über die Wangen. Meine Mercuria.
Wir tranken aus. Ich war todmüde.
Mit einem Kopfnicken wies sie in die Richtung des Tordurchgangs. «Den Kerl da unten hat mir ein alter Freund empfohlen. Der ist noch dümmer, als er aussieht, aber wenn sich heute Nacht noch einmal jemand in der Tür irren sollte, dann wird er von ihm zu Hackfleisch gemacht.»
«Das war deine Instruktion?»
«Nagel mich nicht fest. Vielleicht hab ich auch Mettwurst gesagt.»
«Danke», sagte ich gähnend.
«Heute Nacht wirst du ruhig schlafen können», erwiderte sie mütterlich.
Das war ein Irrtum.
Ich verabschiedete mich und ging herüber. Nachdem ich die Tür verschlossen hatte, leuchtete ich mit einer Kerze in jeden Winkel des Hauses und legte ein Messer neben dem Bett auf den Boden. Dann legte ich mich hin, ohne mich auszukleiden.
Trotz meiner Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Wieder und wieder drängten sich die Bilder von den schauerlichen Geschehnissen vor zwölf Jahren vor mein inneres Auge: Severinas blutiger Körper auf dem Pflaster, das hektische Gerenne der Hausangestellten, die sie in den Palast trugen, der abgebrühte Chirurg, der sofort gewusst hatte, was zu tun war. War sie schon tot gewesen, als sie auf seinem Tisch landete? Hatte er ihren letzten Atemzug abgewartet, bevor er das Messer angesetzt hatte? Oder war es am Ende der Kaiserschnitt gewesen, der sie getötet hatte?
Während solche Gedanken mich quälten, hörte ich von unten plötzlich ein gedämpftes Rumpeln. Von einem Augenblick auf den anderen war ich hellwach, griff nach dem Messer und lauschte in die Dunkelheit. In weniger als einer Sekunde spielte ich meine Möglichkeiten durch. Es wäre naheliegend gewesen, nach dem Wächter zu brüllen, aber dann wüsste der Eindringling, dass ich ihn gehört hatte, außerdem war die Tür verrammelt, sodass nicht so schnell Hilfe zu erwarten war. Also gab ich zunächst keinen Laut von mir, sondern lauschte angespannt in die Schwärze hinein.
Mein Herz hämmerte. In der Nacht zuvor war alles so schnell gegangen, dass ich die Angst gar nicht richtig gespürt hatte. Erst jetzt machte ich Bekanntschaft mit der Todesangst in ihrer ganzen Gewalt, weil sie die Gelegenheit bekam, mich vollständig auszufüllen.
Eine Weile passierte gar nichts, sodass ich fast schon glaubte, mich im Halbschlaf getäuscht zu haben. Dann aber quietschte es leise, und ich begriff: die kleine Tür unter der Treppe, hinter der sich das Holzlager befand! Er musste irgendwie von hinten in den winzigen Hof gestiegen sein, und jetzt kroch er dort unten heraus, um mir den Dolch zwischen die Rippen zu jagen. Ich sprang aus dem Bett, schnappte mir einen Schemel und postierte mich am Treppenaufgang, um den Vorteil zu nutzen, den die enge Stiege mir bot.
«Ich bin’s», wisperte es. Das waren nun wirklich nicht die Worte, mit denen ein Meuchelmörder seinen Anschlag ankündigte. Und plötzlich begriff ich, wer da über das Holzlager in mein Haus geschlichen kam.
Die schmale Silhouette erschien am Fuß der Treppe. Es knackte und knirschte leise, als sie eine Stufe nach der anderen nahm.
Dann stand sie vor mir. Meine Todesangst war in grenzenlose Erregung umgeschlagen, und wahrscheinlich lässt sich dieser gleitende Übergang nur dadurch erklären, dass die Erregung von der Todesangst die meisten körperlichen Reaktionen gleich übernehmen konnte: Herzklopfen, Zittern und ein Kribbeln auf der Haut wie von tausend Nadeln.
Weitere Worte fielen nicht. Als ich etwas sagen wollte, legte sie mir den Finger auf den Mund, bevor ich überhaupt Luft geholt hatte. Wie bei unserer letzten Begegnung war sie es, die die Führung übernahm und die Richtung bestimmte, aber diesmal gab es kein Vorspringen und Zurückweichen, keinen Wechsel aus Liebkosungen und Krallenhieben, keine Unentschlossenheit, die sich als Verspieltheit ausgab. Es war, als hätte sie Anlauf genommen und wäre von ihrem eigenen Schwung mitgerissen worden.
Sie küsste mich, zuerst behutsam, dann fordernd, und schließlich gab sie mir einen Schubs, sodass ich rücklings auf das Bett fiel. Es raschelte, dann schlüpfte sie zu mir, meine Hände ertasteten nur noch nackte Haut, während sie mich weiter mit Küssen bedeckte, so schnell und huschend, dass ich sie kaum erwidern konnte. Ihre Haare fielen auf mein Gesicht, sie wand und bog sich, ihre Haut war kühl und glatt wie aufgespannte Seide, die Muskeln darunter strafften und lockerten sich im Rhythmus ihrer Bewegungen. Sie zog mir das Hemd über den Kopf, während ich mich aus meiner Hose strampelte, und dann war sie auf mir, wölbte sich mir entgegen und warf sich zurück in die Dunkelheit. Wie von selbst fanden wir ineinander. Ihr Atem ging schnell, aber regelmäßig; fast schon kontrolliert, und als wollte sie sich selbst bremsen, stieß sie mit spitzen Lippen die Luft aus, mal direkt an meinem Ohr, dann weit entfernt über mir, ohne dabei mehr als ein Keuchen von sich zu geben, ganz mit sich selbst beschäftigt und doch eins mit mir, und genau in dem Augenblick, in dem auch ich nur noch Sterne sah, spannte sie sich an, ihre Finger krallten sich in meinen Nacken, und sie sank auf mich nieder.
«Das war das erste Mal, dass ich das wirklich wollte», sagte sie, während sie auf mir lag, viel schwerer, als ihre zarte Gestalt das hätte vermuten lassen.
Die schreckliche Bedeutung, die sich hinter diesen Worten verbarg, begriff ich vor lauter Benommenheit nicht.
Noch in der Nacht stahl sie sich davon. Wortlos suchte sie in der Dunkelheit ihre Sachen zusammen und zog sich an. Zum Abschied nahm sie meinen Kopf in die Hände und küsste mich, als wollte sie verhindern, dass ich noch etwas sagte.
«Sehen wir uns wieder?»
«Sicher.»
So war sie. Tauchte auf und verschwand.
Ohne einen Laut schlich sie die Treppe hinunter, noch nicht einmal das leiseste Knacken und Knirschen war zu hören, als wäre sie in der Zwischenzeit noch leichter geworden. Ich hörte wieder das Quietschen der Tür zum Holzlager und das gedämpfte Rumpeln, als sie über die gestapelten Scheite stieg, um anschließend an irgendeiner Mauer hochzuklettern und über die Dächer zu entschwinden wie ein Eichhörnchen.
Ich versperrte die Tür zum Holzlager mit einem Seil, das ich zwischen Klinke und Geländer festband, und stellte einen Stuhl mit einer Karaffe aus Keramik davor. Kein unüberwindliches Hindernis, aber wenn jemand versuchen sollte, die Tür zu öffnen, würde es ordentlich scheppern.
Natürlich konnte ich danach kein Auge schließen. Es war, als hätte Giordana eine leere Stelle in meinem Bett hinterlassen.
Als ich endlich doch einschlief, zwitscherten draußen schon die Vögel. Das Bett roch noch nach Giordana, und mein letzter Gedanke war: Hoffentlich kommt sie wieder, bevor der Geruch verfliegt.