Hinter dem Tor zum Park von Kardinal Este begann eine andere Welt. Der stadtseitige Hang des Quirinals war aufgeschüttet und mit Mauerwerk abgestützt worden, sodass die ganze Anlage von außen wie eine Burg aussah und von innen wie ein über der Erde schwebender Paradiesgarten. Hohe Mauern grenzten das Grundstück ab. Über mir wölbte sich der wolkenlose Himmel.
Kardinal Este liebte es regelmäßig. Fast alle Wege verliefen schnurgerade, trafen in rechten Winkeln aufeinander und grenzten von niedrigen Hecken gesäumte Rasenflächen ab, deren Mitte durch Brunnen oder Pavillons markiert wurde. Nur wo es sich gar nicht vermeiden ließ, wurde diese Geometrie aufgelöst und ging in einen Saum aus Gebüschen über. Zwei große Gartenvillen beherrschten die weite Fläche, dazu kam eine ganze Reihe von Nebengebäuden, die vor die Mauer gesetzt waren, damit sie das Ensemble möglichst wenig störten. Statuen und Büsten auf Sockeln flankierten Wege und Mauern: Estes berühmte Sammlung, aufgestellt in wohldurchdachter Anordnung. Ausgestreckte Gliedmaßen lenkten den Blick von einer Statue zur anderen, alles schien eine Bedeutung zu haben.
Ich machte mir wenig Hoffnung. Die ganze Sache war jetzt dreiundvierzig Jahre her. Wahrscheinlich war der Gärtner, von dem ich noch nicht einmal den Namen kannte, längst gestorben oder in andere Dienste getreten. Andererseits war dieser Park so groß, dass es mehr als einen Bediensteten brauchte, um ihn in Schuss zu halten. Es war also immerhin möglich, dass irgendjemand sich wenigstens an ihn erinnerte.
Zwischen den Grünanlagen und den Gebäuden herrschte reger Betrieb. Offenbar wurde irgendeine Veranstaltung vorbereitet, denn vor der größeren der beiden Villen wurden Fässer und Säcke abgeladen, und überall stutzten fleißige Helfer an Hecken und Büschen herum.
Und schon kam einer auf mich zu, ein vielleicht fünfzigjähriger Diener mit verquollenem Säufergesicht, der ein Bündel Fackeln unter dem Arm trug und nicht den Eindruck machte, es besonders eilig zu haben. Vielleicht war es der Blick, mit dem ich die Statuen betrachtete, jedenfalls schien er mich für einen Künstler zu halten, der hier etwas abzeichnen wollte, und da mir diese Rolle in der letzten Zeit ganz gute Dienste geleistet hatte, setzte ich meinen Kennerblick auf und ließ ihn in diesem Glauben. Unaufgefordert wies er auf die schönsten und kostbarsten Stücke, erklärte mir, wo sie gefunden worden waren und wie viel der Kardinal dafür ausgegeben hatte. Schließlich nutzte ich eine Pause in seinem Redeschwall und fragte ihn nach einem alten Gärtner.
Er wirkte enttäuscht. «Wegen des Gartens bist du hier?»
«Könnte man so sagen», antwortete ich unbestimmt.
«Frag Alberto. Der behauptet seit über vierzig Jahren, dass er wegwill, ist aber immer noch hier und frisst sein Gnadenbrot. Der kennt hier jeden Grashalm und jedes Blatt.»
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Vielleicht war dieser Alberto der, den ich suchte.
«Wo finde ich ihn?»
Er wies mit dem Kopf in eine abgelegene Ecke, in der zwischen ein paar Bäumen eine Holzhütte stand. Und tatsächlich: Dort saß ein weißhaariges Männchen auf einer Bank und hielt das Gesicht in die Sonne.
Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg.
Der Alte war schon ziemlich klapprig, seine Finger hatte die Gicht zu Krallen gekrümmt, und schwerhörig schien er auch zu sein, denn er öffnete die Augen erst, als mein Schatten auf sein faltiges Gesicht fiel.
«Alberto?», fragte ich vernehmlich.
«Geh mir aus der Sonne.»
Das fing ja gut an. Ich trat einen Schritt zur Seite. Seine trüben Augen blickten weiter geradeaus.
«Was willst du? Schon wieder die Rosen? Ihr habt sie zu dicht an die Mauer gesetzt und wässert sie zu wenig, darum trocknen sie aus. Ich hab’s euch tausendmal gesagt, also beschwert euch nicht, wenn der Kardinal euch wieder die Ohren langzieht.»
«Ich bin nicht wegen der Rosen hier», sagte ich.
Er streckte eine Klaue nach mir aus. «Setz dich mal, und gib mir deine Hand.»
Erst jetzt begriff ich, dass er blind war. Ich nahm neben ihm Platz und reichte ihm die Hand. Er betastete meine Finger.
«Du bist kein Gärtner.»
«Nein. Bin ich nicht.»
«Diese Schwiele am Mittelfinger. Du bist einer, der schreibt oder zeichnet.»
«Stimmt», sagte ich und fragte mich, wie er das eigentlich ertastet hatte, bei dem bisschen, was ich zu Papier brachte.
Eine Weile saßen wir ohne ein Wort nebeneinander. Alberto schien nicht besonders neugierig auf mein Anliegen zu sein, und so hatte ich Zeit zu überlegen, wie ich das Gespräch eröffnen könnte. Immerhin stand ich im Begriff, eine Todesnachricht zu überbringen.
Schließlich fragte ich vorsichtig: «Vor über vierzig Jahren hatten Sie einen Freund, der bei der venezianischen Botschaft gearbeitet hat.»
Sein Kopf wandte sich sehr langsam in meine Richtung. Es war, als hätte er jahrzehntelang damit gerechnet, dass eines Tages jemand kommen und ihn darauf ansprechen würde.
«Ist Antonio tot?», fragte er leise.
«Ja.»
Er blickte verbittert vor sich hin. «Lass mich raten. Du bist sein Sohn, und er hat dich auf dem Totenbett beauftragt, mir die Nachricht zu überbringen, nachdem er es dreiundvierzig Jahre lang nicht für nötig befunden hat, auch nur ein Lebenszeichen von sich zu geben. Ist es so?»
Die Frage überraschte mich. «Nein. Er ist beim Sacco ums Leben gekommen.»
Lange gab er kein Wort von sich. Die Verbitterung in seinem Gesicht machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Schließlich sagte er: «Also habe ich ihm die ganze Zeit über unrecht getan.»
«Inwiefern?»
Alberto griff wieder nach meiner Hand. «Ich war überzeugt, er hätte sich davongemacht.» Er schüttelte langsam den Kopf. «Gott, Antonio. Wenn ich das gewusst hätte.»
«Was meinen Sie?»
«Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Wir wollten weg, ihn kannten hier zu viele Leute, und es wurde schon geredet. Wir hatten Geld in Aussicht und malten uns aus, wie wir uns damit in Florenz niederlassen würden. Dort wurde unsereins weitgehend in Ruhe gelassen. Aber als er dann plötzlich spurlos verschwand, da dachte ich, er hätte kalte Füße gekriegt und das Durcheinander genutzt, um irgendwo ohne mich neu anzufangen, weil er die ganze Heimlichtuerei nicht mehr ertragen konnte. Ich war überzeugt, er hätte sich eine Frau gesucht, redete sich ein, dass unsere Freundschaft nur Spielerei war, und führte irgendwo ein zurückgezogenes Leben. Er fiel ja sowieso schon immer und überall auf. Er hasste das eigentlich.»
Ich war überrascht, wie offenherzig Alberto mit einem Unbekannten wie mir über seine verbotene Freundschaft redete. Die Tatsache, dass ich ihn aufgesucht hatte, schien ihm als Beweis für meine Vertrauenswürdigkeit zu genügen.
Nach einer weiteren längeren Pause fragte er: «Woher weißt du, dass er tot ist?»
«Seine Leiche wurde gefunden.»
Er nickte. Natürlich war ihm klar, woran der Tote zu erkennen gewesen war. Nach einem schweren Seufzer begann er, nach den Einzelheiten zu fragen. Ob ich es gewesen sei, der Antonios Leiche entdeckt hätte? Wo das gewesen sei? Ob er bestattet worden sei? Wie ich ihn, Alberto, gefunden hätte? Ich beantwortete seine Fragen, vermied es aber, Sannazaro zu erwähnen. Er nickte bei jeder Antwort, als hätte er das alles schon geahnt. Seine Niedergeschlagenheit steckte mich an; sein ganzes Leben lang hatte er wegen eines Irrtums getrauert, und sicherlich hätte er schon viel früher seinen Frieden mit dem Verlust seines Freundes machen können, wenn er die Wahrheit rechtzeitig erfahren hätte.
«Kann es sein, dass er zu Ihnen wollte?», fragte ich schließlich.
«Nein. Ich war nicht in der Stadt. Ich bin ein paar Tage vor dem Sacco zu Verwandten aufs Land geflohen.»
Ich schluckte meine Enttäuschung herunter. Doch dann fiel mir eine seiner Bemerkungen wieder ein.
«Sie sagten, Sie hätten Geld in Aussicht gehabt.»
Er lächelte betrübt. «Das war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Es war nur eine unausgegorene Idee, ich weiß nicht, ob er das wirklich gemacht hätte. Es wäre riskant gewesen.»
Mit einem Mal ahnte ich, was kommen würde.
«Er hätte dafür seinen Dienstherrn bestehlen müssen. Der hatte im Keller ein Versteck für Geld und Schmuck unter einer Bodenplatte, und Antonio wusste davon. Wir hatten uns sogar schon ausgemalt, wo wir die Beute verbergen wollten, bis Gras über den Diebstahl gewachsen sein würde. Eine Stelle, an der wirklich niemals jemand gesucht hätte.»
Ich zerquetschte ihm vor Aufregung fast die Hand. «Wo?»
Er lächelte versonnen. Für einen kurzen Augenblick waren seine Erinnerungen so gegenwärtig, dass sie seine Traurigkeit überdeckten. Er schien sich noch nicht einmal über meine Frage zu wundern.
«Hier im Garten.»
Meine Gedanken überschlugen sich. Wenn Francavilla tatsächlich erst auf dem Rückweg vom Quirinal erschlagen worden war, dann lag das, was er aus Veniers Haus geholt hatte, vielleicht noch immer in diesem Versteck.
«Als ich gerade hier angefangen hatte, wurde bei Ausschachtungen dort drüben eine Statue gefunden. Ein Priapos, bei dem das Prachtstück abgebrochen war.» Er kicherte wie ein kleiner Junge. «Ein Bildhauer wurde beauftragt, es zu ersetzen, was er auch tat. Kurz darauf kam bei einer weiteren Grabung das fehlende Gemächt zum Vorschein, und man wies ihn an, die beiden Stücke auszutauschen. Der Bildhauer war ein bisschen enttäuscht, weil er fand, dass sein Werk besser zu der Statue passte. Eines Nachts meißelte er einen Hohlraum in den Sockel, legte es hinein und setzte eine Platte davor, sodass es wie eine ganz gewöhnliche Ausbesserung aussah. Er freute sich diebisch, dass sein Stück für immer bei der Skulptur bleiben sollte, für die er es gemacht hatte. Ein rührender Gedanke. Wie die heimliche gemeinsame Bestattung zweier Liebender.»
Seine Augen wurden feucht. Ich wartete eine Weile, bevor ich die nächste Frage stellte. Ich fühlte mich wie ein gnadenloser Verhörbeamter, der ein unschuldiges Opfer nach den Einzelheiten einer grausamen Tat befragt, um das vorgeschriebene Protokoll schnell und vollständig abzuarbeiten.
«Woher wussten Sie davon?»
«Ich habe ihn erwischt, als er dabei war, das Fach wieder zu verschließen, da hat er’s mir erzählt. Aber sonst wusste niemand davon. Und als Antonio und ich später herumgesponnen haben, wo man die Beute verstecken könnte, da fiel mir die Statue wieder ein.»
Mein Blick hetzte über die Skulpturen im Garten.
«Wo ist sie?»
«Weg. Nachdem die Farnese die Villa übernommen hatten, wurde sie irgendwann verkauft. Ich weiß nicht, wo sie heute steht. Aber wen interessiert das schon noch? Vielleicht taucht sie irgendwann wieder auf. Wie die Leiche von Antonio.» Tränen liefen ihm über die Wange. Immer noch hielt er meine Hand.
«Wussten Sie, was Francavilla bei Venier stehlen wollte?», fragte ich vorsichtig.
«Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau. Irgendein Geschmeide, sehr wertvoll, aber schwer zu Geld zu machen. Darum brauchten wir ja auch ein sicheres Versteck.»
Ich musste mich zusammenreißen, um ihm meine Hand nicht zu entziehen. Es dauerte lange, bis er sie freiwillig losließ.
Zum Abschied bat er mich, ihm noch einmal genau die Stelle zu beschreiben, an der das Skelett von Antonio Francavilla lag. Er werde sich um die Bestattung kümmern. Kardinal Este werde ihm diese Bitte nicht ausschlagen.
Ich ließ meinen Blick ein letztes Mal von einer Statue zur anderen schweifen. Kein Priapos.
Als ich in unseren Innenhof zurückkehrte, sah ich durch das geöffnete Tor der Werkstatt des Griechen, dass er mit Mercuria in eine Diskussion verwickelt war. Auf einem großen Tisch lagen Zeichnungen, Gipsfigürchen und halbfertige Gemälde verstreut; er zeigte hierhin und dorthin und war offenbar mitten in einem seiner detailreichen Vorträge. Neben dem Tisch stand eine Staffelei mit einem unvollendeten Gemälde, das die Austreibung der Händler aus dem Tempel zeigte: Ein asketischer, fast unbeteiligter Jesus im grellrosa Gewand und mit leuchtend blauem Überwurf prügelte sich vor einer Kulisse aus wuchtigen Säulen mit der Peitsche den Weg durch die Menge der Händler frei, die vor ihm zurückwichen, umkippten, wegsackten, einknickten und übereinanderstürzten, flankiert von Figuren, die in ihren verdrehten Posen an die Nackten auf dem Deckenfresko der Sixtina erinnerten. Michelangelo trieb den Griechen offenbar schon seit einiger Zeit um, denn diese Komposition konnte er kaum über Nacht auf die Leinwand gebracht haben.
«Schau dir das mal an», rief Mercuria und winkte mich heran. Ihre Fröhlichkeit wirkte ein bisschen aufgesetzt, aber das bekam der Grieche wahrscheinlich gar nicht mit. Man musste sie schon kennen, um es zu merken, und außerdem war er viel zu sehr mit seinem Werk beschäftigt.
Ich trat ein und betrachtete das Bild näher. Wütende Pinselstriche konturierten die Gewänder, der Stoff schien von innen zu leuchten, jedenfalls war nicht zu ersehen, woher das ganze Licht überhaupt kommen sollte, das der Grieche in unvermischten Pigmenten aufgetragen hatte. In einer Bogenöffnung war der Widerschein eines abendlichen Sonnenuntergangs zu sehen, Wolken wie Rauchschwaden über einer untergehenden Welt. Im rückwärtigen Bereich des Tempels huschten ein paar unscharf hingezeichnete Gestalten durch das Bild.
«Wie es scheint, haben wir uns schon wieder so einen Ketzer ins Haus geholt», sagte Mercuria. «Die Tempelreinigung. Jesus mistet den Saustall aus, den die Priester aus seiner Kirche gemacht haben. Luther hätte seine Freude daran gehabt.»
Der Grieche protestierte zwar nicht gegen die Unterstellung, aber er wollte etwas richtigstellen. «Es geht nicht um die Kirche», sagte er.
«Natürlich nicht», sagte Mercuria ungnädig. «Es geht um dich. Du willst zeigen, was du kannst.»
«Nein. Ich will zeigen, was Jesus angetrieben hat, als er die Händler aus dem Tempel gejagt hat. Was andere daraus machen, ist nicht mein Geschäft. Mein Geschäft ist die Botschaft.»
Mercuria verdrehte die Augen. «Hör doch auf! Was meinst du, wie oft ich das schon gehört habe! Das hat vielleicht vor fünfzig Jahren mal gestimmt, als ihr Künstler euch noch nicht getraut habt, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Inzwischen geht es euch nur noch um euch selbst, und das ist euer Geschäft. Es gibt inzwischen einfach zu viele von eurer Sorte, also müsst ihr auf euch aufmerksam machen. Wahrscheinlich lacht ihr euch heimlich halb tot, wenn ihr den ganzen Blödsinn hört, der über eure Werke erzählt wird. Ihr seid eitle Virtuosen, sonst nichts.»
Der Grieche zuckte mit den Schultern. Mercurias Unterstellung schien für ihn nicht unbedingt ein Vorwurf zu sein. Ich dachte an das Jüngste Gericht in der Sixtina und wusste, dass sie unrecht hatte, aber das war ihr wahrscheinlich selbst bewusst. Sie liebte die Provokation einfach zu sehr, als dass sie vor Zeugen eingestanden hätte, dass man sich aus einem inneren Antrieb quälen konnte, ohne nach außen mit dem Ergebnis dieser Qualen glänzen zu wollen.
Mercuria betrachtete wieder das Bild. Sie war sichtlich beeindruckt vom Talent des Griechen, schien aber noch ein bisschen weitersticheln zu wollen. Sie zeigte auf einen bärtigen alten Mann mit einer schwarzen Kappe, der unten rechts in das Gemälde hineinragte und nachdenklich mit dem Rücken zum Geschehen ins Leere blickte. «Tizian, oder?»
«Gut erkannt.»
Mercuria lachte auf. «Was für eine Geste! Mal doch noch Michelangelo und Raffael dazu, dann ist für jeden Geschmack etwas dabei. Und vielleicht noch Clovio, der fühlt sich geschmeichelt und führt dich bei Farnese ein.»
«Den brauche ich dafür nicht», sagte der Grieche selbstbewusst. «Für Farnese habe ich schon gearbeitet.»
Mercuria zog die Augenbrauen zusammen. «Ach, wirklich?»
«Ja. Er gab uns ab und zu Aufträge für Porträts. Er schickte die Zeichnungen nach Venedig, und wir malten die Bilder danach. Einige davon hat Tizian selbst ausgeführt, andere hat er mir übertragen. Es war nicht die beste Art zu arbeiten, aber Farnese war zufrieden.»
Seine Bemerkung hatte sie offenbar hellhörig gemacht. «Wen habt ihr denn für ihn porträtiert, dein Freund Tizian und du?», fragte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen.
«Vor allem den Kardinal selbst. Dann einmal seinen Bruder und einmal seine Tochter.»
Mercuria starrte ihn fassungslos an. «Clelia? Alessandro Farnese hat seine Tochter Clelia von Tizian malen lassen?»
«Nicht von Tizian. Von mir. Und das Bild war nicht für ihn, sondern für die Familie, in die sie einheiraten soll.»
«Cesarini», flüsterte Mercuria.
«Kann sein. Farnese hatte noch das Konklave abgewartet, bevor er die Verlobung bekanntgab, und nachdem Ghislieri die Wahl gewonnen hatte, rechneten wir damit, dass er den Auftrag zurücknehmen würde, um die Reformer nicht gegen sich aufzubringen. Aber das tat er nicht. Sie muss ihm viel bedeuten.»
Mercuria lachte bitter auf. «Der einzige Mensch, der Alessandro Farnese etwas bedeutet, ist Alessandro Farnese.» Und nach einer Pause fragte sie leise: «Hat er etwas über ihre Mutter gesagt?»
«Nein. Aber es gibt verschiedene Gerüchte. Die einen sagen, sie sei Wäscherin gewesen.»
«Das wird immer gern behauptet. Wenn eine Wäscherin mit einem Kardinal ins Bett geht, dann sieht sie zu, dass sie schwanger wird. Und was sagen die anderen?»
«Dass sie eine Kurtisane war.»
«Natürlich. Kurtisanen gehen ständig mit Kardinälen ins Bett, sehen aber zu, dass sie nicht schwanger werden. Ich weiß, wovon ich rede.»
Der Grieche blickte sie mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis an, schien das Thema aber lieber nicht weiter vertiefen zu wollen.
«Also ist das Porträt jetzt bei den Cesarini?», fragte Mercuria.
«Das Original schon. Aber ich mache Kopien von allen meinen Bildern.»
Ich sah, dass Mercuria kaum an sich halten konnte.
«Zeig es mir», sagte sie rau.
Der Grieche hatte wohl gemerkt, dass es hier nicht um irgendeine neugierige Spielerei ging, und er machte sich hurtig daran, einen an die Wand gelehnten Stoß von gerahmten Gemälden durchzusehen, bis er gefunden hatte, was er suchte: das Porträt eines Mädchens mit rosa Wangen und vollen Lippen, nicht mehr ganz Kind und noch lange nicht Frau, anmutig und skeptisch zugleich. Das Gesicht hatte sie im Dreiviertelprofil dem Betrachter zugewandt, und nur der strenge Spitzenkragen, der ihren Kopf fast vom Rest des Körpers abtrennte, bändigte die Frechheit ein wenig, die ihr aus den Augen sprang. Für ein Verlobungsbild war das eigentlich nicht unbedingt geeignet: Das war keine anmutige Gattin, die beim Bankett dekorativ neben dem Hausherrn sitzen würde. Dieser Blick verhieß Eigenwillen und Widersetzlichkeit.
Mercuria betrachtete das Bild lange mit ausdruckslosem Gesicht, ohne ein Wort zu sagen. Erkannte sie ihre Tochter darin wieder? Sich selbst? Welches ihrer Gefühle hatte die Oberhand gewonnen? Überwog nun das Glück, dass dieses Mädchen überhaupt existierte, oder die Verbitterung, dass sie das Kind nicht hatte aufwachsen sehen dürfen? Schmiedete sie Pläne, sich an Kardinal Farnese für seinen Betrug zu rächen? Oder wollte sie ihn zwingen, ihrer Enkelin endlich reinen Wein einzuschenken und sie zu ihr vorzulassen?
Zum Glück hatte der Grieche gemerkt, dass es sich für Mercuria nicht um irgendein Porträt handelte, und er war einfühlsam genug, sie nicht bei ihrer Betrachtung zu unterbrechen, und so standen wir herum und wussten nicht, wohin wir schauen sollten. Am liebsten hätte ich ihm einen Wink gegeben, Mercuria mit dem Bild allein zu lassen, aber ich wollte mich nicht in die Verlegenheit bringen, mich vor der Tür seinen Fragen auszusetzen.
«So war ich auch», sagte sie schließlich. «Damals.»
Der Grieche nickte, als hätte er alles begriffen, dabei hatte er natürlich nichts begriffen, wie denn auch. Sein Malerblick taxierte Mercuria. Es hätte wohl nicht viel gefehlt, und er hätte den Zeichenstift herausgeholt.
«Starr mich nicht so an», sagte sie. «Ich erkläre es dir gleich. Wenn einer von euch mal so freundlich wäre, uns einzuschenken. Ich brauche jetzt einen kräftigen Schluck.»
Der Grieche holte eine Karaffe und drei Gläser heran und goss großzügig ein. Schließlich lehnte Mercuria das Bild behutsam an die Wand
Und dann weihte sie den Griechen ein, so knapp wie möglich, aber ohne etwas auszulassen. Die Wahrheit, die das Horoskop ihr offenbart hatte, hatte sie inzwischen angenommen, und sie wusste, wie sie damit umzugehen hatte. Wieder war ich überrascht, mit welcher Gefasstheit sie inzwischen über den Tod ihrer Tochter sprechen konnte. Zwischendurch ging sie nach drüben und holte die Nachricht meines Onkels, in der von Severinas Ermordung die Rede war, wie zum Beweis, dass das alles tatsächlich passiert war. Als sie endlich geendet hatte, war der Grieche von ihrer Offenheit wie erschlagen, gleichwohl auch ein bisschen geschmeichelt, dass er ins Vertrauen gezogen worden war.
Mercuria griff noch einmal nach dem Blatt. «Mir ist da etwas aufgefallen, das mir keine Ruhe lässt.»
Sie hielt mir das Papier unter die Nase. «An welchem Wochentag hat dein Onkel seine Meldungen rausgeschickt?»
«Immer am Samstag», sagte ich. «Samstags geht die Postkutsche nach Bologna ab.»
«Eben», sagte sie. «Und jetzt lies das.» Sie zeigte mit dem Finger auf den ersten Satz, den ich inzwischen auswendig kannte.
Am gestrigen Samstag brach Kardinal Carafa nach Beichte und Kommunion und einem Abschiedsbesuch beim Papst gegen Nachmittag in Richtung Pisa auf.
«Und?», fragte ich.
«Das Datum», sagte sie ungeduldig.
«Dreiundzwanzigster Oktober fünfzehnhundertsiebenundfünfzig.»
«Nach der Datierung dieser Meldung hätte das ein Sonntag sein müssen. Es war aber ein Samstag, denn Severina ist in der Nacht von Freitag gestorben. Entweder er hat sich um einen Tag vertan, oder er hat die Meldung absichtlich falsch datiert. Warum?»
Ich verstand, was sie meinte. Ab und zu war es vorgekommen, dass mein Onkel seine Nachrichten nicht mehr rechtzeitig hatte fertigstellen können, weil noch etwas Mitteilenswertes passiert und die Postkutsche schon abgefahren war. Die Meldung hatte er dann entweder mit einem Eilboten hinterhergeschickt und über die Extrakosten geflucht oder der nächsten Postkutsche anvertraut, aber immer auf den Samstag datiert, weil die Kunden eine solche Regelmäßigkeit erwarteten. Bei dieser Meldung hatte er offenbar versehentlich den richtigen Wochentag unter dem falschen Datum gelassen, ohne dass es ihm aufgefallen war. Als mir klarwurde, was das bedeutete, wurde mir fast schlecht.
«Carlo Carafa war noch nicht abgereist, als Severina ermordet wurde», sagte Mercuria mit einer Stimme wie aus Eis. «Es ist auf seiner Abschiedsfeier passiert. Und was er in dieser Nacht getan hat, das hat er mit Sicherheit nicht gebeichtet.»