Mein Name ist Michelangelo, und damit eins hier gleich ganz klar ist: Ich kann weder mit dem Meißel noch mit dem Pinsel umgehen. Als ich geboren wurde, war mein unsterblicher Namenspatron schon um die siebzig Jahre alt und hatte gerade das Jüngste Gericht an der Altarwand der Sixtina fertiggestellt, um das später so viel gestritten wurde. Mein Vater verehrte ihn wie einen Gott und hatte mir nicht zufällig diesen gewaltigen Namen mitgegeben, aber wenn er Hoffnungen auf eine entsprechende Laufbahn an diese Wahl geknüpft hatte, so wurden sie schon bald enttäuscht. Mein Talent liegt eher auf dem Gebiet des Erzählens, doch auch diese Gabe verschleuderte ich zunächst, so wie ich in meinen jungen Jahren als gedankenloser Tunichtgut alles verschleuderte, was ich in die Hände bekam, und ich kann noch nicht einmal anderen die Schuld dafür geben, denn es lässt sich beim besten Willen nicht behaupten, dass ich mich in schlechter Gesellschaft bewegt oder die falschen Freunde gehabt hätte. Kurz und gut: Ohne Mercuria wäre ich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang der windige, durch sein Leben taumelnde Gazettenschreiber geblieben, der ich war, als diese Geschichte beginnt. Und darum ist sie ihr gewidmet, diese Geschichte.
Mercuria war der aufrichtigste Mensch, dem ich jemals begegnet bin; sie hasste die Lüge, und die Lüge war damals mein Beruf, wobei man, wollte man es etwas freundlicher formulieren, auch sagen könnte, dass ich den Leuten eben die Geschichten auftischte, die sie lesen wollten. Man könnte überdies einwenden, dass auch Mercurias Arbeit in ihren besten Zeiten zu einem guten Teil darin bestanden hatte, ihren Kunden zu sagen, was sie hören wollten, aber letztlich wurde sie im Gegensatz zu mir ja nicht für Worte bezahlt, sondern für Taten.
Als wir uns über den Weg liefen, hatte sie sich längst zur Ruhe gesetzt, schließlich war sie damals schon an die sechzig Jahre alt, aber im Gegensatz zu den meisten Frauen ihres Gewerbes hatte sie es zu Wohlstand gebracht, anstatt als menschliches Wrack im Armenhaus zu landen oder sich an einen Ehemann zu verkaufen, der sie behandelte wie den letzten Dreck. Nein, sie war mehr als wohlhabend, sie war reich: reich nicht nur an Geld, sondern auch an Freunden, die ihr die Treue hielten, während die Pharisäer begannen, über ihresgleichen die Nase zu rümpfen. Über Mercuria aber rümpfte man nicht die Nase. Kardinäle und Botschafter, die früher ihrer Schönheit verfallen waren, verfielen nun ihrer Klugheit, ihrem Witz und ihrer Liebenswürdigkeit. Klingt übertrieben? Ihr habt Mercuria nicht gekannt.
Ich dagegen habe sie gekannt, und wie. Sie mochte das Bett und später den Tisch mit Kardinälen und Botschaftern geteilt haben, aber das dunkle Geheimnis ihres Lebens teilte sie mit mir, der ich ihr Sohn hätte sein können. Mercuria hatte vom ersten Augenblick an Eigenschaften an mir erkannt, von denen mir selbst gar nicht bewusst gewesen war, dass ich sie besaß: die Fähigkeit, mich ernsthaft auf andere Menschen einzulassen, und das Verlangen, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, das mich am Ende dazu bewogen hat, ihre Geschichte aufzuschreiben. Und um diese ganze Geschichte verständlich zu machen, muss ich mit jenem Tag im November sechsundsechzig beginnen, an dem ich Mercuria zum ersten Mal sah.
Nun also. Es war auf dem Platz vor Santissimi Apostoli. Wir waren beide auf dem Weg zur Messe, kamen aus unterschiedlichen Richtungen und waren aus unterschiedlichen Gründen dort. Mercuria entstieg unter bewundernden und hier und da auch neidischen Blicken einem Einspänner und durchfloss wie Quecksilber das Spalier, das sich ganz von selbst vor ihr auftat und hinter ihr wieder schloss; ich dagegen kämpfte mich unbeachtet durch die Menge. Sie trug eine maßgeschneiderte Robe aus besticktem Brokat mit Spitzenkragen nach der neuesten Mode; ich steckte in einem zu engen geliehenen Kleid und schwitzte trotz der Novemberkälte wie ein Ackergaul unter meiner Perücke, während die Schminke mir die Augen verklebte. Sie war aus beruflicher Verbundenheit gegenüber den anderen Frauen gekommen, ich aus beruflicher Neugier.
Dass diese Messe überhaupt stattfand, das hatten wir Papst Pius zu verdanken, diesem verkniffenen Eiferer, der sein Leben der Inquisition und der Kirchenreform gewidmet hatte, hart wie Granit in Fragen von Moral und Glauben und dabei selbst so integer, dass einem übel werden konnte vor lauter Heiligkeit. Niemand hätte sich daran gestört, wenn er sich nur darauf beschränkt hätte, die Ketzerei ordentlich niederzuknüppeln, denn die Lutheraner krakeelten immer lauter von Deutschland aus herunter und scheuchten mit ihrem Gestänker die halbe Welt auf. Aber Pius, immerhin schon der Fünfte dieses Namens, wenngleich wohl der Erste, der ihn auch verdiente, wollte mehr: Er meinte die Maßstäbe, nach denen die Schafe zu leben hatten, auch an die Hirten anlegen zu müssen. Auf dem Stuhl Petri hatte er zehn Monate zuvor Platz genommen, und in der Zwischenzeit dürfte sich manch ein Kardinal gefragt haben, was den Heiligen Geist wohl geritten haben mochte, als er dem Kollegium einflüsterte, Michele Ghislieri zum Papst zu wählen. Schon zu seiner Krönungsfeier spendete dieser das Geld, das zu solchen Gelegenheiten säckeweise unter das Volk geworfen wurde, für fromme Werke. Kaum im Amt, warf er Dottor Buccia, den wegen seiner deftigen Zoten berüchtigten Hofnarren seines Vorgängers, aus dem Palast und schickte den Schatzmeister auf die Galeere, weil die Rechnungsbücher nicht korrekt geführt waren. Von da an rollten fast täglich Köpfe. Bischöfe, die sich kurz zuvor noch in ihren Palästen atemberaubenden Festen hingegeben hatten, wurden von einem Tag auf den anderen in ihre Diözesen geschickt, um sich dort um die Seelsorge zu kümmern. Ein Hagel von Edikten gegen Simonie, Blasphemie, Sodomie, Entheiligung der Feiertage und Missachtung der Fastengebote prasselte auf die Geistlichkeit herab, Priester sollten plötzlich die Liturgie beherrschen und ihr Keuschheitsgelübde einhalten. Kirchliche Würdenträger wurden mitsamt ihren Mätressen von den Leuten des Gouverneurs aus den Kutschen gezerrt und mit Razzien in ihren eigenen Häusern schikaniert. Sodann knöpfte sich Pius die Kurtisanen vor. Sie wurden ausgepeitscht, ausgewiesen oder eingesperrt und gezwungen, zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kirchen zu erscheinen und Predigten über sich ergehen zu lassen, in denen Priester ihnen hektisch erregt ins Gewissen redeten. Und auf einer solchen Veranstaltung, es war, wie gesagt, im November sechsundsechzig, begegnete ich Mercuria.
Was ich dort verloren hatte? Nun, ich bin Novellant, obwohl sich mein Onkel Antonietto sicherlich im Grab herumgedreht hätte, wenn ich diese Bezeichnung damals für mich in Anspruch genommen hätte. Denn er, Antonietto Sparviero, war einer der Größten dieser Zunft, die sich im Wesentlichen auf den Handel mit Nachrichten gründete; seine Kunden saßen in Bologna, Mailand und Venedig, in Avignon, Genf, Nürnberg und Wien. Über ein jahrzehntelang geknüpftes Netz von Zuträgern aus den höchsten Kreisen sammelte er täglich Meldungen und Gerüchte, prüfte und bewertete sie, stellte sie zusammen, formulierte sie um, schnürte sie zu Bündeln und schickte sie mit der Post auf die Reise. Alles schrieb er mit eigener Hand ab, den Kopisten vertraute er nicht und dem gedruckten Wort noch weniger, denn was die Zensur passiert hatte und von Tizio, Caio und Sempronio gelesen wurde, war für seine anspruchsvollen Auftraggeber wertlos und überdies oft noch nicht einmal wahr. Nichts entging ihm, und insofern teilte er mit dem Heiligen Vater zumindest zwei Eigenheiten: Beide hatten einen Namen, der zu ihnen passte, und beide fühlten sich ihren Wahrheiten verpflichtet und handelten danach mit einer Konsequenz, die ihresgleichen suchte.
Nach dem Tod meines Vaters hatte Onkel Antonietto mich bei sich aufgenommen und mit Ernst und Geduld versucht, mich in sein Gewerbe einzuführen, war jedoch an meiner Oberflächlichkeit verzweifelt: Als es ihn schließlich dahinraffte, war ich einundzwanzig Jahre alt, interessierte mich für süßen Wein, halbseidene Unternehmungen, leichtfertige Mädchen und das, was man mit ihnen machen konnte, wenn ihre Eltern zu Bett gegangen waren. Was Kurialen und Diplomaten hinter verschlossenen Türen miteinander vereinbarten, das kümmerte mich ebenso wenig wie Zolltarife, Verordnungen, Ämtervergaben, Truppenanwerbungen, Heiratsprojekte gekrönter Häupter und Gerüchte über die Kandidaten für bevorstehende Kardinalserhebungen; wenn ich mich überhaupt für Nachrichten interessierte, dann waren sie anstößig, schlüpfrig und skandalös. Ich übertrieb und verdrehte, was ich aufschnappte, dichtete Unwahres hinzu und ließ Entscheidendes weg. So belieferte ich die Drucker, die Onkel Antonietto mir vorgestellt hatte, mit Gazetten voller Räuberpistolen, die Schadenfreude und Sensationsgier bedienten, und ich hoffe bis heute, dass es nicht die Enttäuschung über seinen missratenen Neffen war, die ihn ins Grab gebracht hat, aber ganz sicher bin ich mir da leider nicht.
Nicht dass ich nicht erfolgreich gewesen wäre: Meine Gazetten erfreuten sich großer Beliebtheit, sie lagen in den Geschäften der Drucker aus, wurden von Ausrufern auf der Straße verkauft und bisweilen sogar in andere Sprachen übersetzt. Je unsinniger sie waren, desto besser verkauften sie sich. Und weil das Geschäft mit dieser Art von Nachrichten so gut lief, glaubte ich es mir leisten zu können, mich zwischendurch wochenlang Müßiggang und Lotterleben hinzugeben.
Nun, wie auch immer. Trotz der genannten Gemeinsamkeiten schien die Stadt nicht groß genug zu sein für Antonietto Sparviero und Michele Ghislieri, nachdem Letzterer Papst geworden war. Oder sollte es Zufall gewesen sein, dass meinen Onkel der Schlag traf, während er in der Menge auf dem Petersplatz stand und das Ergebnis der Wahl vernahm? Ich stand neben ihm, als er zusammenbrach, und ich erinnere mich noch genau, wie zögerlich der Jubel der Gläubigen ausfiel, als der Kardinalprotodiakon den Namen von der Benediktionsloggia aus über den Platz rief, denn alle wussten, dass mit einem Papst von diesem Kaliber nun andere Zeiten anbrechen würden. Auch Ghislieri selbst scheint das übrigens nicht entgangen zu sein: Angeblich äußerte er bald darauf, er hoffe, das Volk werde seinen Tod dereinst mehr betrauern als seine Wahl.
Man trug meinen Onkel in sein Haus und rief einen Priester für die Letzte Ölung, er aber grunzte nur ungehalten und lebte einfach weiter. Seine rechte Seite war fortan gelähmt, er sprach wie ein Betrunkener und konnte ohne Hilfe keinen Schritt mehr machen, doch mit unerhörter Willensanstrengung empfing er immer noch seine Zuträger und schrieb mit der linken Hand weiter, bis ihn im Spätsommer der zweite Schlag traf. Diesmal kam der Priester zu spät.
Drei Monate darauf, am besagten Tag im November sechsundsechzig, waren dagegen alle pünktlich: der Priester, ein gemütlicher Fettsack mit rotem Gesicht und Weinflecken auf der Albe, der sich unter dem Portal der Kirche aufgebaut hatte und mit einer Mischung aus Milde und Beschränktheit die Ankommenden musterte, dann die Neugierigen in den Fenstern des benachbarten Palastes der Colonna und auf den Dächern der umstehenden Häuser, ferner die Männer des Gouverneurs, die eine Absperrkette gebildet hatten, um die Gaffer wenigstens vom Platz fernzuhalten, sowie die besagten Gaffer selbst, fast ausschließlich Männer, die schwatzend, johlend, pfeifend und applaudierend herandrängten.
Pünktlich waren schließlich auch die Damen, die fürwahr einen atemberaubenden Anblick boten: glänzend herausgeputzt, auf hohen Absätzen, in leuchtenden Kleidern und mit ins Haar geflochtenen Perlen stolz einherschreitend, nach tausend Wässerchen gegen den aus der Kirche herausquellenden Weihrauch anduftend, so formierten sie sich für den Einzug in das Haus des Herrn, offensichtlich nicht gewillt, es als dessen Bräute wieder zu verlassen. Obwohl die Schikanen und Ausweisungen der letzten Monate ihre Reihen ausgedünnt hatten, waren sie immer noch zahlreich genug, um die Kirche zu füllen, und man sah eine ganze Reihe von stadtbekannten Gesichtern. Die Männer hinter der Absperrkette zeigten bald hierhin, bald dorthin, riefen laut jubelnd die Namen ihrer Angebeteten herüber und bekamen Handküsse als Antwort zurück: Biancarossanera stolzierend wie ein Klapperstorch, Gianna la Gazza Ladra ganz in Samtschwarz, Bona la Bonazza betont vulgär mit einem Ausschnitt, der allein schon zwanzig Peitschenhiebe gerechtfertigt hätte, Pasqualina Faccia d’Angelo die Unschuld selbst mit keusch gesenktem Blick und in Wahrheit angeblich doch das größte Luder von allen, Venusia Vanesia schließlich in einem bodenlangen grünen Kleid, das vortrefflich mit der Stola des Priesters korrespondierte. Während wir in einer langen Reihe die Kirche betraten, ebbte das angeregte Schwätzen und Schnattern ab. Der Weihrauch stand als dichter Nebel im Mittelschiff und geriet in Wallung, als die vielköpfige Schar sich auf die Bänke verteilte, niederkniete und schließlich die Plätze einnahm. Das große Apsisfresko mit dem Bild des inmitten von Engelschören zum Himmel auffahrenden Erlösers schimmerte dunkel im Licht der Kerzen.
Der Zufall wollte es, dass ich neben Mercuria Platz fand, die mich zunächst nicht beachtete, sondern leise mit ihrer Nachbarin zu plaudern begann. Zu meiner anderen Seite hockte ein junges Ding in einem billigen Kleid. Ihre traurige Laufbahn stand ihr schon ins Gesicht geschrieben: nicht hübsch genug als Bettgenossin und nicht geistreich genug als Tischgenossin zahlungskräftiger Kunden; man konnte nur hoffen, dass wenigstens sie und einige andere von ihrer Sorte, die mein umherschweifender Blick nach und nach erfasste, der Empfehlung folgen würden, die uns hier gleich erteilt werden sollte.
Doch die erste Empfehlung des Tages kam nicht vom Altar, vor dem der Priester inzwischen Aufstellung genommen hatte, nachdem er zu den Klängen der Orgel unter dem Vortragekreuz mit schwerem Schritt den Mittelgang durchmessen hatte. Sie kam von hinten und war an mich gerichtet. Stoff raschelte, als sich hinter mir jemand vorbeugte.
«Wenn du gelernt hast, dich vernünftig zu schminken, geh zu Kardinal Cornaro», zirpte es mir ins Ohr. «Bist ein leckerer Happen für den alten Lumpensack.»
Ich verzichtete darauf, mich umzudrehen, und fand dementsprechend auch nicht heraus, ob das ein ernst gemeinter Ratschlag oder reine Gehässigkeit sein sollte. Dafür mischte sich nun Mercuria ein, die die Bemerkung offenbar gehört hatte. Sie wandte mir das Gesicht zu. Kluge blaue Augen, die Wimpern tadellos getuscht, musterten mich von oben bis unten. Ein Lächeln huschte über ihre Mundwinkel, spöttisch und dennoch wohlwollend.
«Tu das bloß nicht», sagte sie. «Lass den Blödsinn und such dir ein Mädchen.»
«Aber Cornaro zahlt gut», insistierte die Stimme.
Mercuria wandte sich nach hinten. «Eben nicht. Er schickt seine Diener los und lässt sie halbe Kinder von der Straße holen. Cornaro ist ein altes Schwein, und außerdem hat er die Franzosen, also spar dir solche Ratschläge. Oder halt zur Sicherheit am besten ganz den Schnabel.»
Von hinten beleidigtes Schweigen.
«Dominus vobiscum», sang der Priester.
«Et cum spiritu tuo», schallte es zurück.
Mercuria wandte sich nun wieder ihrer Nachbarin zu, einer eleganten Dame im mittleren Alter, die offenbar ebenfalls vor Zeiten in den Ruhestand getreten war. Die anderen Frauen in der Kirche – ich schätzte ihre Zahl auf etwa hundertfünfzig – waren mindestens fünfzehn Jahre jünger.
Während der Priester ein Gebet sprach und ein Ministrant das Lesepult zurechtrückte, betrachtete ich Mercuria aus dem Augenwinkel. Sie war durch und durch eine vornehme Dame. Die schwarzen Haare hatte sie mit Lack zum Glänzen gebracht und zu einem Knoten gebunden, aus dem ihr eine Strähne ins Gesicht fiel. An ihrem Hals schimmerten Perlen, an den Fingern goldene Ringe, die sie über die schwarzen Seidenhandschuhe gezogen hatte. In den Wangen hatte sie kleine Grübchen, als ob sie sich pausenlos über etwas amüsierte. Wenn sie lachte, blitzten ihre Zähne auf.
«Starr mich nicht so an», sagte sie, wobei sie den Kopf ganz leicht in meine Richtung neigte, ohne sich von ihrer Nachbarin abzuwenden. Ich zuckte ertappt zusammen und ließ meinen Blick weiter durch die Kirche wandern, während der Zelebrant verkündete, die Homilie der heutigen Messfeier über die Sünde halten zu wollen.
«Na, was für eine Überraschung», kam es halblaut von einer der hinteren Bänke, gefolgt von unterdrücktem Gekicher.
Falls der Priester den Zwischenruf gehört hatte, ließ er sich nichts anmerken und verkündete, für die Lesung sei das Buch des Propheten Hesekiel ausgewählt worden.
«Dann hol mal deinen Hesekiel raus», meldete sich wieder die Stimme von hinten. Erneut wurde gekichert, ein paar Köpfe wandten sich um.
Mercuria knurrte leise: «Was soll denn das hier werden?»
Der Ministrant hatte derweil den schweren Buchdeckel der Bibel auf dem Lesepult aufgeschlagen und blätterte darin herum. Ein magerer und blasser Lektor trat dazu und räusperte sich. Dann begann er mit dünner Stimme vorzutragen.
«Das Wort des Herrn erging an mich: Menschensohn, mach Jerusalem seine Gräueltaten bewusst!»
«Lauter!», rief eine schrille Stimme. «Hier hinten versteht man überhaupt nichts!»
«Dann setz dich doch nach vorn», nörgelte eine andere Stimme. «Oder hast du Angst, dass denen beim Anblick deiner faulen Zähne der Appetit vergeht?»
Verunsichert sah der Lektor auf und warf dem Zelebranten einen hilfesuchenden Blick zu, der schüttelte missbilligend den Kopf in Richtung der Gemeinde und wies den Lektor mit einer Handbewegung an, noch einmal von vorn zu beginnen.
Und das tat er, doch das Bemühen um mehr Lautstärke ging auf Kosten der Intonation, er hustete, verhaspelte sich, setzte abermals an und gab ein klägliches Bild ab, wie er da stand, seine renitente Zuhörerinnenschaft einzuschüchtern versuchte und doch nur das Gegenteil erreichte. Hesekiels donnernde Strafpredigt geriet zu einem derart heiseren Gestammel, dass der Prophet sich die Haare gerauft hätte. Selbst der Priester war peinlich berührt und schien zu überlegen, wie er die Sache abkürzen konnte.
«Du hast dich den Ägyptern, deinen Nachbarn mit dem großen Glied, hingegeben und mit ihnen unaufhörlich Unzucht getrieben.»
«Hört, hört, die Ägypter! Kann das jemand bestätigen?», fragte Gianna la Gazza Ladra laut.
«Nie im Leben! Den größten Hirtenstab hat immer noch der Ordensgeneral der Franziskaner!», rief Bona la Bonazza.
«Kann sein, aber er kriegt ihn nicht hoch!»
«Bei dir vielleicht nicht, du alte Schleiereule!»
«Wie bitte? Ich bin achtzehn!»
«Dass ich nicht lache! Du bist inzwischen öfter achtzehn geworden als ich meine Jungfräulichkeit verkauft habe!»
«Ruhe!», wetterte der Priester. Doch niemandem entging, dass seine Mundwinkel zuckten.
Dem Lektor blieb nichts anderes übrig, als mit der demütigenden Prozedur fortzufahren. Die Gesichter der Ministranten waren inzwischen knallrot.
«Darum, du Dirne, höre das Wort des Herrn!»
Während der Lektor stotternd weiterlas, breiteten Unruhe und Erheiterung sich von den letzten Bankreihen immer weiter aus. Einzig Mercuria schien nicht gewillt, sich davon anstecken zu lassen. Mehrmals beugte sie sich zu ihrer Nachbarin hinüber und flüsterte mit unverhohlener Gereiztheit auf sie ein.
Hesekiels schwächlicher Wiedergänger strebte derweil dem Höhepunkt der Tirade zu, verkündete, der Unzucht ein Ende zu bereiten, und drohte die fürchterlichsten Strafen an, während die Zwischenrufe in immer schnellerem Takt auf ihn niederhagelten. Einige Frauen waren aufgestanden und schüttelten die Fäuste, und je weiter der Aufruhr um sich griff, desto wagemutiger wurden sie.
«Schämt euch doch selber! Was glaubt ihr, wer diese Perlenkette hier bezahlt hat?», schrie eine.
«Der neue Kardinal?», fragte eine andere. «Der Kleine? Dieser Bonelli?»
«Nein, Kardinal del Monte!»
«Heilige Nafissa, du auch? Der jagt sein Frettchen aber auch wirklich in jeden Bau!»
«Allerdings! Und zwar am liebsten durch den Hintereingang!»
«Na, der steht bei dir ja mittlerweile weiter offen als das Hauptportal, wie man so hört!»
Diese letzte Bemerkung von Bona la Bonazza löste einen Sturm von Gelächter aus.
«Halleluja!», prustete der Zelebrant und wandte sich zum Altar um. Seine Schultern bebten.
In diesem Augenblick platzte Mercuria endgültig der Kragen. Sie hieb mit der Faust auf die Bank und erhob sich. «Mir reicht’s!», schnaubte sie ihre Nachbarin an, die zunächst unschlüssig schien und schließlich nickend aufstand.
Was dann folgte, war der wahrscheinlich peinlichste und zugleich folgenreichste Moment meines Lebens.
Hätte Mercuria nicht diese natürliche Autorität und Erhabenheit ausgestrahlt, wäre es wohl gar nicht passiert. Aber so war sie: Allein durch ihr Erscheinen teilte sie jede Menschenmenge wie Moses das Rote Meer; ihr Auftreten genügte, um alle beiseitetreten zu lassen, die irgendwie im Weg standen. So auch hier. Es reichte, dass sie aufstand, und schon sprang das junge Ding neben mir demütig aus der Bank, um sie passieren zu lassen. Und weil ich einen Augenblick zu spät merkte, dass auch ich aufstehen musste, tat ich es umso eilfertiger, und da geschah es. Der Saum meines Kleides hatte sich in irgendeiner verdammten Ritze der Bank verfangen, und der Stoff riss entlang einer Naht, die vom Knöchel bis unter die Achsel verlief. Nicht genug damit, dass ich von einem Moment auf den anderen halbnackt in der Kirche stand: Die breite Bandage, die ich zur Vortäuschung weiblicher Konturen mit zwei prachtvollen Äpfeln ausgestopft und mir um die Brust gewickelt hatte, löste sich ebenfalls, und die Früchte, natürlich gleich alle beide, fielen heraus und kullerten über den Kirchenboden. Es gelang mir gerade noch, den lose über meiner linken Schulter hängenden Stoff zusammenzuraffen, um meinen entblößten Oberkörper zu bedecken, was allerdings auch nicht mehr viel half: Ich stand gut sichtbar im Mittelgang, und alle, die in Blickweite saßen, starrten mich an. Gelächter erhob sich, Köpfe wandten sich mir zu, Hälse wurden gereckt, eine stieß die andere an, einige standen auf, und bald waren die Blicke und Finger der ganzen Gemeinde auf mich gerichtet, alles gackerte und prustete.
Mercuria schob sich mit einer Mischung aus Spott und Mitleid im Blick an mir vorbei, ihre Begleiterin folgte ihr peinlich berührt.
«Du kommst mal besser gleich mit», raunte sie mir zu.
Was blieb mir übrig? Im Tumult des immer weiter anschwellenden Gelächters schritten wir zum Portal. Ich traute mich nicht mehr, den Blick zu heben, sondern achtete ängstlich darauf, nicht auch noch über die Reste meines Kleides zu fallen.
Die Türen der Kirche waren geschlossen. Einer der Männer des Gouverneurs, ein tumber Geselle mit unrasiertem Gesicht und struppigem Haar, stand davor und blockierte den Weg.
«Mach auf», sagte Mercuria nur.
«Darf ich nicht.»
«Junge, mach dich nicht unglücklich. Tür auf, aber ein bisschen plötzlich.»
«Der Gouverneur …»
«… ist nachher zum Essen bei mir. Willst du morgen im Steinbruch anfangen?»
Die Tür schwang auf. Das Licht der tief im Westen stehenden Sonne flutete herein. Als ich hinter Mercuria durch das Portal trat, blickte ich zurück: Das wunderbare Apsisfresko glomm auf, als glühte es von innen.
Der Platz war immer noch abgesperrt, aber die Menge der Gaffer war auf ein paar schwatzende Tagediebe zusammengeschmolzen. Mercurias Kutsche wartete mitten auf dem Platz. Das Pferd schlug ein paarmal mit einem Vorderhuf auf das Pflaster. Der Kutscher fummelte und zerrte am Geschirr herum.
Mercuria holte tief Luft und stieß sie wieder aus. «Gott, was für ein würdeloses Spektakel!», ereiferte sie sich. «Die haben wirklich kein bisschen verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Auf so was wartet die Inquisition doch nur.»
Ich war dermaßen damit beschäftigt, das ruinierte Kleid um meinen Körper zu wickeln, dass ich kaum zuhörte. Willenlos ließ ich es geschehen, dass sie mir kopfschüttelnd einen Stoffzipfel aus der Hand nahm, mich unsanft herumdrehte und hinter meinem Nacken irgendetwas zusammenknotete.
«Was hattest du eigentlich da verloren? Schicken die ihre Spitzel jetzt schon in Frauenkleidern durch die Gegend? Wie heißt du überhaupt?»
«Michelangelo.»
«Ach was.» Sie kniff die Augen zusammen. «Der Neffe von Antonietto Sparviero?»
Ich war völlig überrumpelt. «Ja.»
«Mein Beileid.»
«Wie …»
«Mein Gott, den kannte hier doch wirklich jeder. Ich bin Mercuria.»
«Lucrezia», sagte die Nachbarin.
«Luparella», korrigierte Mercuria.
«Das ist lange her», wiegelte Lucrezia ab.
«Sei nicht so feige.»
«Die Zeiten sind vorbei.»
«Warum bist du dann hier?»
Ich war sprachlos und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Luparella. Die berühmte Luparella, die ihre Liebhaber bis aufs Blut ausgesaugt und mit dem Geld eine Bank gegründet hatte.
«Krieg dich wieder ein», sagte Mercuria.
Die beiden plauderten noch eine Weile, ohne das Wort an mich zu richten. Ich fühlte mich überflüssig wie ein kleiner Junge, der mit den großen Kindern spielen will, eine Weile herumsteht und langsam erkennt, dass sie sich nicht um ihn scheren. Ich hatte gerade zu überlegen begonnen, wie ich beiläufig und ohne weiteren Gesichtsverlust den Ort des Geschehens verlassen könnte, da kam Lucrezia mir zuvor, verabschiedete sich und ging über den Platz davon. Sie sprengte die Absperrkette mit einer lässigen Handbewegung und verschwand zwischen den Häusern.
«Wo wohnst du?», fragte Mercuria.
«Parione», sagte ich unsicher.
«Soll ich dich mitnehmen?»
«Das wäre sehr freundlich.»
«Freundlich», wiederholte sie spöttisch. «Freundlichkeit ist weiß Gott nicht die Währung, mit der diese Kutsche bezahlt wurde.» Ihre blauen Augen musterten mich wieder, wie in der Kirche, zwischen Wohlwollen und Spott changierend. Dann stiegen wir ein.
Im verglühenden Tageslicht ratterten wir durch die Stadt. Ich bin normalerweise nicht auf den Mund gefallen, aber bis heute ist mir nichts Vernünftiges eingefallen, was ich in dieser Situation hätte sagen können.
«Dein Onkel war ein anständiger Mann», stellte sie fest, während wir das Pantheon passierten. Eine Antwort schien sie nicht zu erwarten, also lächelte ich nur schief.
«Mal im Ernst, was wolltest du da?»
«Ich schreibe», sagte ich zögerlich und hoffte, meine Tätigkeit nicht näher erklären zu müssen, erst recht nicht, nachdem der Name meines Onkels gefallen war. Mein Auftritt war schon lächerlich genug gewesen, und ich legte keinen Wert darauf, jetzt auch noch für meine Arbeit mit den Maßstäben von Antonietto Sparviero gemessen zu werden.
Mercuria runzelte die Stirn. «Im Ernst? Berichte für das Heilige Offizium, oder was?»
«Nein», erwiderte ich entrüstet. «Gazetten.»
Ich muss dazu vielleicht sagen, dass mir meine Arbeit keineswegs peinlich war, obwohl ich dafür in den Kreisen, in denen mein Onkel verkehrt hatte, immer wieder irritiert angesehen worden war. Das überhebliche Nicken, das ich nun von Mercuria für meine knappe Erklärung erntete, kam mir sehr vertraut vor. Normalerweise hätte mich das nicht gestört, denn die Leute, mit denen ich mich sonst so herumtrieb, fanden meine Tätigkeit äußerst amüsant und stachelten mich eher noch an. Ein guter Teil der Geschichten, die ich später den Druckern übergab, entstand an langen Abenden in Wirtshäusern. Doch nach meinem Auftritt in der Kirche empfand ich kein Bedürfnis, mir vor Mercuria weitere Blößen zu geben. Sie saß mir in der Kutsche gegenüber und strahlte eine Überlegenheit aus, die in mir ein unerklärliches Verlangen auslöste, das ich in ihrer Gegenwart noch öfter empfinden sollte: Ich wollte mir ihre Achtung verdienen. Doch weil es in diesem Augenblick nichts gab, was ich zu diesem Zweck hätte sagen können, schwieg ich lieber. Und da sie das zu spüren schien und mich nicht weiter in Verlegenheit bringen wollte, schwieg auch sie.
Als wir vor dem Haus meines Onkels hielten, war es fast dunkel. Ich bedankte mich und stieg aus. Es sollte mehr als drei Jahre dauern, bis ich sie wiedersah.
Eine halbe Stunde später saß ich beim Schein einer flackernden Kerze am Tisch und nippte an einem schlechten Wein. Nach dem ersten Glas schämte ich mich schon ein bisschen weniger. Nach dem zweiten konnte ich über das Missgeschick mit dem Kleid, das wie eine abgeworfene Reptilienhaut hinter mir auf dem Boden lag, schon herzlich lachen. Und nach dem dritten kam mir die Idee, wie die Erlebnisse des Tages sich zu einer hübschen Gazette verarbeiten ließen.