Die Maßnahmen gegen die Kurtisanen sind mit der Zuweisung eines Wohngebietes, des sogenannten Hortaccio, zum vorläufigen Abschluss gekommen. Seit die Kurtisanen Ende Juni unter Androhung polizeilicher Gewalt aus dem Borgo geholt worden waren, schwelte der Streit zwischen der städtischen Verwaltung und den Reformern aus dem engeren Kreis des Heiligen Vaters, wie nun weiter mit ihnen zu verfahren sei. Die vor drei Wochen erfolgte Ausweisung der bekanntesten unter ihnen hatte bereits einigen Unmut ausgelöst; die Maßnahme wurde von vielen als zu drastisch empfunden, und hier und da waren Stimmen zu vernehmen, die nicht ohne Spott auf die guten Dienste verwiesen, die diese Frauen der Kirche in der Vergangenheit geleistet hätten. Ein in der Nacht zum vergangenen Sonntag an die Statue des Pasquino angeheftetes Sonett, das diese Anspielungen mit einer ganzen Reihe bekannter Namen verbindet, löste neben erheblicher Heiterkeit auch ein Ermittlungsverfahren aus, bei dem allerdings wahrscheinlich auch diesmal wieder kein Täter ausfindig gemacht werden dürfte.
Den in der Stadt verbliebenen Kurtisanen wurde die Umsiedlung nach Trastevere befohlen, woraufhin sich erneut Unmut regte: Die Bürger von Trastevere zogen in Kompaniestärke zum Palast von Kardinal Morone und baten ihn, sich für eine andere Unterbringung einzusetzen. Gleichzeitig sprach eine Abordnung von vierzig Kurtisanen beim Heiligen Vater selbst vor und ersuchte um die Aufhebung der Anordnung. Von einem Teilnehmer der Audienz war zu erfahren, Pius habe sie mit barschen Worten abgewiesen; Rom möge sich entscheiden, ob es Sitz des Apostolischen Stuhles oder ein Tümpel voller Huren sein wolle, im letzteren Fall sei er bereit, die Stadt zu verlassen.
So fiel nun in dieser Woche die Entscheidung, den Kurtisanen den Hortaccio zuzuweisen. Die Konservatoren haben bereits mit der Umsiedlung begonnen, wobei es vereinzelt zu Tumulten und Handgreiflichkeiten kam, zum einen wegen der überraschenden Schnelligkeit und Entschlossenheit der Durchführung, zum anderen weil es sich um ein schlecht erschlossenes Gelände auf dem Marsfeld, südlich des Augustusmausoleums, mit minderwertigem Baubestand handelt. Gleichzeitig legten die Konservatoren einen Bericht vor, nach dem tatsächlich bereits dreihundert Kurtisanen die Stadt verlassen haben; andere haben in aller Eile geheiratet oder ihrem Erwerbsleben durch Eintritt in ein Kloster ein sichtbares Ende gesetzt. Ob die Maßnahme erfolgreich ist oder nicht, wird sich zeigen. Wie man hört, haben die Zollbehörden bereits Bedenken wegen der zurückgehenden Einnahmen angemeldet. Außerdem herrscht Verunsicherung, welche weiteren Schritte bevorstehen. Offenbar wird bereits seit einiger Zeit über eine Kennzeichnungsvorschrift für Kurtisanen und über die Verpflichtung zum Besuch von Bekehrungsmessen beraten.
Sonett
So sticht das Schiff der frommen Damen nun in See.
Am Ufer stehn verzweifelt und gebrochen,
Die eben noch gern selbst in See gestochen.
Die goldnen Kugeln schmerzen schon. Oh weh!
Steif bläst der Wind, und steif sind ihre Glieder:
Madruzzo, Lomellini, Comendone,
Gambara, Bordisiera und Morone,
Wohin mit all dem Purpursaft nun wieder?
Sirleto, Simonetta und Delfino,
Cicada, Sforza und Alessandrino:
Die Mäßigung tut ihnen gar nicht gut,
Den feinen Herren mit dem roten Hut:
Salviati, Este, Reuman und Crivelli,
Colonna und Farnese und Savelli.
Mercuria lachte laut, nachdem sie das Sonett gelesen hatte.
«Wo hat dein Onkel das denn her?»
«Keine Ahnung», sagte ich. «Das lag lose bei den Papieren.»
«Und du kanntest es auch nicht?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Du bist mir ein Herzchen. Hättest dich wirklich ein bisschen mehr für seine Arbeit interessieren können. Alle haben damals von diesem Sonett gesprochen, aber keiner hat’s rechtzeitig abgeschrieben, bevor es entfernt wurde. Und ausgerechnet Antonietto Sparviero schafft es, sich vom Bett aus eine Kopie zu besorgen.»
«Er lag nicht im Bett. Er saß in seinem Lehnstuhl», wandte ich gereizt ein. Wann immer Mercuria meinen Onkel erwähnte, glaubte ich, den leisen Vorwurf herauszuhören, dass ich die Möglichkeiten, die er mir geboten hatte, nicht genutzt hatte. Außerdem tat sie so, als hätte sie ihn besser gekannt als ich, und auch das ging mir auf die Nerven.
«Ach so», sagte sie spöttisch. «Das ändert natürlich alles.»
«Vielleicht kannte er den Verfasser», lenkte ich ab.
«Vielleicht», sagte sie nachdenklich und griff noch einmal nach dem Blatt.
«So verfasst man Nachrichten», sagte sie anerkennend. «Knapp und korrekt.»
«Das war die letzte, die er vor seinem Tod geschrieben hat», sagte ich und nahm ihr das Papier aus der Hand. Die Schrift war kaum zu entziffern, zittrig und ungelenk zog sie sich in schiefen Zeilen über das Papier. Man sah ihr die Mühe an, mit der Onkel Antonietto versucht hatte, auch mit der linken Hand noch einigermaßen leserlich zu schreiben, nachdem die rechte den Dienst verweigert hatte.
Es war der Tag meines Einzugs. Nur zwei Wochen waren vergangen, seit ich Mercurias Innenhof zum ersten Mal betreten hatte. Gennaro hatte mir einen Handwagen geliehen, mit dem wir die Hinterlassenschaften meines Onkels in mehreren Fuhren hergeschafft hatten. Neben dem Hausrat waren das vor allem die Kisten voller Papiere, die er in seiner langen Laufbahn gesammelt hatte: seine eigenen Nachrichten und die anderer Novellanten, dazu Hunderte von Gazetten voller Sensationsmeldungen von der Art, wie ich sie verfasste, sowie gedruckte Briefe und Berichte von Schlachten, Seegefechten, Belagerungen, Eroberungen, Plünderungen, Blutbädern, Friedensschlüssen, Triumphzügen, Prozessionen, Hochzeiten, Geburten, Ernennungen, Mordanschlägen, Hinrichtungen, Piratenüberfällen, Aufständen, Überschwemmungen, Erdbeben, Feuersbrünsten, Kometenerscheinungen, Bekehrungen und Wunderheilungen. Die Ränder der Blätter waren mit Onkel Antoniettos Kommentaren vollgeschrieben, mal hastig, mal sorgfältig, die Tinte mal blassbraun, dann wieder tiefschwarz. Hier und da fanden sich kleine Zeichnungen von Menschen, Tieren oder Gebäuden und schnörkelige Buchstabenübungen, hingekritzelt in zerstreuten Augenblicken. Jeder Tag in Onkel Antoniettos Leben hatte seine Spuren auf dem Papier hinterlassen. Was hier vor uns lag, aufgestapelt in Kisten, war ein Archiv aller bedeutenden, nebensächlichen und geheimen Ereignisse aus vierzig Jahren. Ich schäme mich, es zu sagen, aber erst in jenem Augenblick, mehr als drei Jahre nach Onkel Antoniettos Tod, erfasste mich zum ersten Mal wirkliche Ehrfurcht vor diesem Werk und vor der Ernsthaftigkeit und Sorgfalt, mit der all das zusammengetragen und geschaffen worden war.
Im Kamin brannte ein Feuer. Gennaro hatte sich zu irgendeiner zwielichtigen Verabredung verabschiedet, nachdem er alles ins Haus geschleppt hatte. Stattdessen war Mercuria gekommen, um mit mir ein Glas auf unsere Nachbarschaft zu trinken. Neugierig, wie sie war, hatte sie den Inhalt der Kisten sehen wollen. Und natürlich hatten wir uns festgelesen, sie mit wachsendem Eifer wegen der vielen Erinnerungen, die sie selbst mit den geschilderten Ereignissen verband, ich mit wachsendem Kummer wegen der übermächtigen Erkenntnis, dass dies hier alles war, was mir von Onkel Antonietto geblieben war. Als hätte er mir all das hinterlassen, damit ich etwas daraus machte.
Mercuria griff erneut in eine der Kisten, nahm ein gefaltetes Blatt mit sauber in Absätze gegliederten handschriftlichen Nachrichten heraus und überflog es – gestochen scharfe Schrift aus der Zeit, bevor Onkel Antonietto der Schlag getroffen hatte.
«Unglaublich.» Sie zeigte auf eine Passage. «Aus dem vorletzten Konklave, hör dir das an: Im Anschluss an die gestrige Abstimmung kam es zu einer hitzigen Auseinandersetzung, als einige Kardinäle behaupteten, Medici habe den deutschen Protestanten Zugeständnisse in Aussicht gestellt, was dieser als Verleumdung zurückwies. Farnese sprang ihm bei, und es wäre wohl zu Handgreiflichkeiten gekommen, wenn Morone nicht dazwischengetreten wäre. Es stellt sich die Frage, was Farnese mit seinem Vorgehen bezweckt. Möglicherweise unterstützt er Medici nur zum Schein, um ihn mit Carafas Hilfe scheitern zu lassen und anschließend seine eigene Kandidatur zu betreiben.»
Sie blickte auf. «Woher wusste dein Onkel das alles?»
«Er kannte eben viele Leute», sagte ich.
«Sicher. Aber das hier ist ein Bericht aus dem Konklave. Und er schreibt, als wäre er dabei gewesen.» Mercuria las die Meldung noch einmal und schüttelte versonnen den Kopf. «Farnese, dieser Halunke. Medici scheitern lassen und mit Carafas Hilfe Papst werden. Tja. Die Rechnung ist wohl nicht aufgegangen. Gianangelo Medici bestieg den Heiligen Stuhl und Carlo Carafa das Schafott.»
Ich erinnerte mich vage an die Geschichte, ein unerhörter Skandal mit der Hinrichtung des Kardinals als Höhepunkt. Ich war damals noch sehr jung gewesen, und mein Vater war gerade gestorben, aber ich weiß noch, dass die ganze Stadt in Aufruhr gewesen war und Onkel Antonietto Tag und Nacht gearbeitet hatte.
«Warum eigentlich noch mal?», fragte ich arglos.
Mercuria blickte eine Weile zum Fenster. Das Thema schien ihr nicht zu behagen.
«Weißt du, wer Carlo Carafa war?», fragte sie schließlich.
«Der Neffe von Paul dem Vierten.»
«Genau. Von Gian Pietro Carafa. Integer und unerbittlich, genau wie Ghislieri. Aber anders als Ghislieri interessierte Gian Pietro Carafa sich kaum für weltliche Angelegenheiten. Er trieb die Kirchenreform voran, baute die Inquisition aus und berief eine Schar von granitharten Theologen in die Gremien, die den Priestern Feuer unter dem Hintern machten. Mit den Alltagsgeschäften betraute er seinen Neffen Carlo, einen ehemaligen Söldner und Auftragsmörder. Er machte ihn zum Staatssekretär und überließ ihm die Führung des Kirchenstaates.» Mercuria blickte durch ihr Glas ins Feuer und lachte kopfschüttelnd auf. «Eine ganz schlechte Wahl. Carlo und seine Brüder Giovanni und Antonio besetzten alle Schlüsselpositionen mit ihren Getreuen, und zusammen machten sie sich den Staat zur Beute. Und weil Carlo den Zugang zum Papst kontrollierte, drangen die Beschwerden nicht durch. Alle Gerüchte über seine Verfehlungen wies Carlo als Verleumdungen zurück, und sein Onkel glaubte ihm. Bis im Januar neunundfünfzig die Vorwürfe überhandnahmen und der Papst endlich Nachforschungen anstellen ließ. Was dabei alles ans Licht kam, war so haarsträubend, dass er seinen Neffen kurzerhand alle Ämter entzog, sie enteignete und ins Exil schickte.»
Sie zeigte auf die Kisten. «Schau mal nach. So wie ich deinen Onkel einschätze, hat er doch bestimmt immer alles ordentlich abgelegt.»
Sie hatte recht. Es dauerte keine Minute, und das Blatt mit der entsprechenden Meldung lag vor uns auf dem Tisch. Die saubere Schrift meines Onkels aus der Zeit, als er noch bei Kräften gewesen war.
Am vergangenen Dienstag reiste Kardinal Carlo Carafa als erster der drei Neffen des Heiligen Vaters mit einem Gefolge aus dreihundert Dienern aus Rom ab, um im Exil auf bessere Zeiten zu hoffen. An den beiden folgenden Tagen verließen auch seine Brüder Giovanni und Antonio die Stadt. Damit ist der vorläufige Schlusspunkt unter eine Affäre gesetzt, die seit Wochen die Gemüter erregt.
Wie inzwischen allgemein bekannt ist, war es Anfang Januar bei einem Bankett zu Handgreiflichkeiten gekommen, weil einige Gefolgsleute der Carafa die stadtbekannte Kurtisane Martuccia mit bewaffneter Hand von dort zu entführen versucht und damit den Gastgeber brüskiert hatten. Der Vorfall wurde dem Heiligen Vater hinterbracht, und obwohl Kardinal Carafa seine ganze Autorität in die Waagschale warf, um die Sache zu vertuschen, meldeten sich nun etliche Zeugen und berichteten dem Papst von den Machenschaften der Brüder, die ihre Ämter jahrelang zur persönlichen Bereicherung und für würdelose Ausschweifungen aller Art missbraucht hatten. Innerhalb von wenigen Tagen stürzte die Mauer des Schweigens ein, die Kardinal Carafa vor dem Heiligen Vater errichtet hatte, und die zahllosen Vorwürfe versetzten diesen in solche Wut, dass er dem Kardinal die Geldmittel sperrte, ihn aus seiner Wohnung im Apostolischen Palast wies und ihm den Zutritt zum Konsistorium verwehrte. Am Freitag vergangener Woche verkündete er den versammelten Kardinälen, dass er Carlo, Giovanni und Antonio alle Ämter, Titel und Einnahmen entzogen und sie der Stadt verwiesen habe. Mehrere Kardinäle baten um Milde, doch der Papst zeigte sich unnachgiebig, auch wenn er offenbar sehr unter seiner eigenen Entscheidung leidet. Die Wohnung des Kardinals ließ er angeblich mit Weihwasser reinigen, und die Namen seiner Neffen gehen ihm seitdem nicht mehr über die Lippen. Derweil werden auf seine Anweisung hin Maßnahmen getroffen, die Beamtenschaft der Kurie von den Günstlingen und Schmarotzern der Brüder zu reinigen.
«Tja», sagte Mercuria, nachdem ich vorgelesen hatte. «Und ein halbes Jahr später war der Papst tot.»
«Und Carlo Carafa kam zurück und nahm am Konklave teil», sagte ich und zeigte auf die erste Nachricht.
«Richtig. Er hatte seine Posten verloren, aber nicht die Kardinalswürde, also hatte er das Recht dazu. Das Konklave dauerte von September bis Dezember, und es ging drunter und drüber. Carlo Carafa intrigierte in einem fort. Ihm war völlig egal, wer die Wahl gewann, er musste nur darauf achten, im entscheidenden Moment auf der richtigen Seite zu stehen, damit der neue Papst ihm verpflichtet war.»
«Um als Gegenleistung seine Rehabilitierung zu bekommen?»
«Genau. Nach vier Monaten war die Situation unerträglich geworden. In der Stadt trieben bewaffnete Banden ihr Unwesen, und es war kein Geld mehr für die Söldner da, die für Ordnung sorgen sollten. Die Stimmen, die das ganze Verfahren in Frage stellten, wurden immer lauter. Um das Ansehen der Kirche nicht zu beschädigen, musste man zu einer Entscheidung kommen. Medici war noch im Rennen, und als die Waage sich zu seinen Gunsten neigte, trat Carafa auf seine Seite über.»
«Also verdankte Medici ihm seine Wahl?»
«Unter anderem ihm.»
«Du weißt ja ziemlich gut Bescheid», sagte ich erstaunt.
«Ich kannte eben auch viele Leute.»
«Und Medici rehabilitierte die Carafa, nachdem er Papst geworden war», nahm ich den Faden wieder auf.
«Zuerst sah es so aus. Aber ein halbes Jahr später kam der Paukenschlag. Medici bestellte Carafa zu einer Audienz ein, um ihn auf dem Flur völlig überraschend festnehmen zu lassen. Während die Wachen Carafa in die Engelsburg schleiften, stürmten die Leute des Gouverneurs seinen Palast und die Häuser seiner Verwandten und Unterstützer, verhafteten alle, die sie antrafen, und beschlagnahmten sämtliche Dokumente.»
«Aber warum plötzlich dieser Sinneswandel?»
«Das weiß keiner so genau. Was man Carafa vorwarf, war damals ja gang und gäbe: Amtsmissbrauch, Unterschlagung, Erpressung und Rechtsbeugung, dazu ein paar Morde aus seiner Zeit als Söldner, für die er längst amnestiert worden war, und Häresie, das macht sich immer gut in solchen Prozessen. Medici war wild entschlossen, den Kardinal und seine Familie zu erledigen. Alessandro Pallantieri, damals Fiskalprokurator, wurde mit der Beweisaufnahme beauftragt. Der war von Carafa seinerzeit aus dem Amt gejagt worden und hatte über zwei Jahre im Kerker gesessen. Er war genau der richtige Mann für das Verfahren. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Pallantieri bot alles auf, was er hatte. Carafa verteidigte sich mit einer Armee von Anwälten. Das Problem war, dass sie ihren Mandanten nicht reinwaschen konnten, ohne den Papst zu beschädigen.»
«Warum das denn?»
«Überleg doch mal. Die Sauereien waren unter einem Papst aus der Familie Carafa passiert. Man konnte Carlo Carafa nicht entlasten, ohne seinem verstorbenen Onkel zu unterstellen, davon gewusst zu haben, mal ganz abgesehen davon, dass sich zwangsläufig die Frage stellte, warum der einen solchen Mann überhaupt zum Kardinal gemacht hatte. Das hätte das höchste Amt der Kirche besudelt, und daran konnte auch Medici kein Interesse haben. Also peitschte er den Prozess durch. Anfang März einundsechzig hielt Pallantieri ein siebenstündiges Plädoyer vor dem Konsistorium. Einige Kardinäle standen auf und baten um Milde. Aber der Papst blieb hart. Ein paar Tage später wurde Carlo Carafa hingerichtet.»
«Und seine Leiche öffentlich ausgestellt.» Ich erinnerte mich an den Auflauf auf dem Platz vor der Engelsbrücke. Mein Onkel hatte mir damals verboten, mir das makabere Spektakel aus der Nähe anzusehen.
«Nein, seine nicht. Aber sein Bruder Giovanni und zwei ihrer Verwandten, die sie am gleichen Tag hingerichtet hatten, wurden ohne Kopf der Menge präsentiert. Die Wachen mussten den Pöbel davon abhalten, auf den Toten herumzutrampeln. Alle hassten die Brüder.»
«Warum das ganze Schauspiel?»
Mercuria schüttelte energisch den Kopf. «Ich weiß es nicht. Gianangelo Medici war schwer zu durchschauen.»
«Kanntest du ihn?» Mich wunderte langsam gar nichts mehr.
«Ja.»
Natürlich wollte ich weiterbohren, aber sie bedachte mich mit einem Blick, bei dem mir die Worte im Hals steckenblieben, eine merkwürdige Mischung aus Härte und Traurigkeit, ganz kurz nur, dann gab sie sich einen Ruck und nahm wieder das andere Blatt zur Hand. Die letzte Meldung meines Onkels.
«Warst du eigentlich mal da?»
«Wo?»
«Na, im Hortaccio.»
«Nein.»
Sie lächelte hintergründig, fast ein wenig zweideutig. «Soso. Ein hübscher Kerl wie du hat das nicht nötig.»
Sie blickte mich auffordernd an. Sollte ich ihr jetzt von meinen Liebschaften erzählen? Von Sabina, die ich gelegentlich ins Haus meines Onkels geschmuggelt hatte, wenn er endlich im Bett war? Von Francesca, die mir das Kleid für die Messe geliehen hatte, nur um mir anschließend eine Szene zu machen, weil ich mich angeblich mit leichten Mädchen herumtrieb? Von den ganzen leichten Mädchen, mit denen ich mich in den drei darauffolgenden Jahren tatsächlich herumgetrieben hatte? Doch bevor ich antworten konnte, klopfte es. Ich blickte irritiert zur Tür.
Mercuria lachte amüsiert. «Herein musst du schon selbst rufen», sagte sie. «Es ist jetzt dein Haus.»
Eine Welle des Glücks überschwappte mich. «Herein!», rief ich gehorsam.
In der Tür stand ein älterer Mann im Messgewand. Seine weißen Haare hingen ihm ungepflegt in den Nacken, und die Bartstoppeln in seinem freundlichen Gesicht mit den wachen grauen Augen verrieten eine Zerstreutheit, die ihn irgendwie liebenswert machte, als wäre die Nachlässigkeit seinem eigenen Erscheinungsbild gegenüber ein Hinweis auf die Sorgfalt, mit der er sich den Nöten seiner Gemeinde widmete.
«Bartolomeo», sagte Mercuria. «Ich dachte, man zieht sich erst in der Sakristei um?»
«Die wird gerade umgebaut», sagte der Priester mit einer leisen und weichen Stimme. «Ich will auch gar nicht lange stören. Ich hörte Stimmen, und …»
«Und da wolltest du dir gleich mal den Neuen anschauen?», vollendete Mercuria.
Er ging nicht darauf ein, sondern lächelte mir freundlich zu. «Novellant, wie man hört?»
Die Bemerkung war mir unangenehm. Was hatte Mercuria dieser kleinen Gesellschaft eigentlich alles über mich erzählt? Zum Glück lag meine Gazette nicht bei den Papieren auf dem Tisch.
«Auf jeden Fall der Neffe eines bekannten Novellanten», sagte Mercuria diplomatisch. «Antonietto Sparviero war sein Onkel. Und da hat er uns gleich mal dessen gesammelte Werke ins Haus geschleppt. Ein paar tausend Seiten voller Indiskretionen, die uns alle ins Gefängnis bringen werden, wenn man sie hier findet.»
Bartolomeo lächelte, antwortete aber nichts. Sein Blick fiel auf das Blatt mit dem Spottgedicht. Er begann zu lesen, es schien ihn aber eher zu verärgern als zu amüsieren.
«Das berühmte Sonett», sagte er. «Hat dein Onkel das verfasst?»
«Nein», sagte ich. «Er hat es nur abgeschrieben.»
«Umso besser.» Bartolomeos Miene hellte sich auf. «Das übliche Gestänker. Da hat einer einfach ein paar Namen zusammengeworfen, nur weil sie sich reimen. Hier: Madruzzo, Lomellini, Comendone, Gambara, Bordisiera und Morone. Was soll das? Giovanni Morone ist ein integerer Mann. Sein Name steht hier bloß, weil dem Schmierfinken kein anderer Reim auf Comendone eingefallen ist!»
«Und Comendone? Ist der genauso integer?», fragte Mercuria mit Unschuldsmiene.
«Den kenne ich nicht.»
«Ich aber. Ein Fest bei Este in Tivoli. Ein Mädchen links, eins rechts.»
«Das mag ja sein, aber …»
«Und weißt du was?», freute sich Mercuria und zwinkerte mir zu. «Das waren gar keine richtigen Mädchen.»
«Für Comendone kann ich nicht sprechen», sagte Bartolomeo. «Aber Morone pflegt keinen Umgang mit Kurtisanen.»
«Aber du. Zumindest mit einer.»
Das schien ihn mit einem Schlag zu erweichen. Bartolomeo beugte sich zu Mercuria hinab und strahlte sie an. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und sah ihr lange in die Augen.
«Und nur die eine», sagte er voller Schmelz.
«Und Morone? Kennst du den wirklich?»
«Machst du Witze? Wir sind seit über dreißig Jahren Freunde!»
«Ernsthaft? Setz dich mal.»
Bartolomeo nahm stöhnend auf einem freien Hocker Platz. Mercuria stellte ihm ein Glas vor die Nase und schenkte ein.
«Also. Woher kennst du Morone?»
«Er war Bischof von Modena und ich Diakon an der Kathedrale. Ich war einer der wenigen, die zu ihm gehalten haben, als er Ärger bekam. Carafa hetzte ihm die Inquisition auf den Hals, weil er angeblich nicht entschieden genug gegen die Ketzer vorging. Modena hat einen schlechten Ruf in dieser Hinsicht.»
«Hört, hört», murmelte Mercuria. «Schon wieder Carafa.»
«Die Vorwürfe waren haltlos. Giovanni Morone war einfach nur der Meinung, dass man diese Lutheraner besser überzeugt als verbrennt. Er ist ein Mann, mit dem man reden kann.»
«Gutes Stichwort. Könntest du ihm unseren Novellanten hier mal vorstellen? Er kann ein paar Kontakte gebrauchen.»
Bartolomeo musterte mich kurz, dann nickte er. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen. Gott im Himmel, versuchte sie jetzt etwa, Bartolomeo für ihren dämlichen Plan zu gewinnen, aus mir einen Novellanten zu machen, der ihren Vorstellungen entsprach?
«Könnte ich machen. Das kann aber dauern, Morone ist sehr beschäftigt.» Bartolomeo atmete tief durch und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. «Und das gilt übrigens auch für mich. Es gibt Leute, die bei mir beichten wollen.» Er erhob sich, ohne den Blick von Mercuria abzuwenden.
«Schau mich nicht so an. Ich beichte nicht bei dir.»
«Das würde ich auch gar nicht ertragen. Wann warst du denn das letzte Mal?»
Mercuria legte die Stirn in Falten und überlegte. «Nach der Krönungsfeier für Julius den Dritten. Da war’s auch bitter nötig.»
«Zwanzig Jahre nicht gebeichtet?»
«Zwanzig Jahre nicht gesündigt.»
Mit einem kopfschüttelnden «Das zu behaupten, ist schon Sünde genug» und einem Nicken in meine Richtung verschwand er in der Dämmerung.
Eine Weile schwiegen wir. Ich ärgerte mich immer noch, dass Mercuria über meinen Kopf hinweg dieses Treffen mit dem Kardinal arrangiert hatte. Was ging es sie an, wie ich meine Arbeit machte?
Mercuria tat, als bemerkte sie meinen Ärger nicht. Mit einem Mal spürte ich die Kälte, die während unseres Gesprächs an mir hochgekrochen war. Mercuria schlang die Arme um ihren Körper. Ich ging zum Kamin und legte zwei Scheite auf das heruntergebrannte Feuer. Draußen stritten sich fauchend ein paar Katzen.
«Was soll das?», fragte ich schließlich, an den Kamin gelehnt. «Ich brauche keine Fürsprecher.»
Mercuria verdrehte die Augen. «Du bekommst einen Kardinal auf dem Silbertablett serviert und gehst nicht darauf ein. Was bist du denn bitte für ein Novellant? Ich habe bloß die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, weil du es nicht getan hast, also krieg dich wieder ein.»
Dagegen konnte ich kaum etwas einwenden, ohne meine Berufsehre zu verraten, also schluckte ich meinen Ärger herunter.
«Kennst du Morone eigentlich auch?», fragte ich etwas versöhnlicher.
«Kaum. Wir haben selten die gleichen Feste besucht.»
«Was waren das denn für Feste?»
«Könnt ihr eigentlich alle immer nur im Stehen reden?», fragte sie ungehalten zurück. Ich zuckte mit den Schultern, drehte mich um und blies noch ein bisschen in die Glut, um Mercuria nicht in der Überzeugung zu bestärken, mich allzu leicht herumkommandieren zu können. Dann setzte ich mich ihr gegenüber.
«Und?»
Sie beugte sich vor. Ihre blauen Augen leuchteten im auflodernden Feuer, und ihre Haare schimmerten schwarz wie Kohle. Das weiche Licht strich ihre Haut glatt. Ihre Schönheit war plötzlich irritierend gegenwärtig, nicht mehr nur eine Ahnung von etwas, das einmal gewesen war, sondern so, als sei seit den Tagen, an die sie nun zurückdachte, gar keine Zeit vergangen.
«Noch nie von dem Pfingstfest in Santissimi Apostoli gehört?»
Ich schüttelte den Kopf.
«Da kannst du mal sehen, wie lange das schon her ist.»
«Wie lange ist es denn her?»
«Du liebe Güte, bist du jetzt auch noch Chronist, oder was? Ich weiß es nicht mehr ganz genau, es war auf jeden Fall vor dem Sacco. Danach war es mit solchen Späßen nämlich vorbei.»
«Mit welchen Späßen?»
Vielleicht muss ich mich an dieser Stelle einmal kurz unterbrechen. Inzwischen sind die letzten Augenzeugen gestorben, und auch damals waren die Ereignisse schon über vierzig Jahre her, und dennoch zeichnete die Erinnerung an den Sacco allen, die ihn erlebt hatten, das nackte Grauen ins Gesicht. Der Sacco von siebenundzwanzig. Zwölftausend Landsknechte, dazu spanische Söldner und italienische Glücksritter, hatten die Stadt erobert und verwüstet und fast ein Jahr lang ungehindert geplündert, vergewaltigt und gemordet. Tausende von Leichen hatten in den rauchenden Trümmern gelegen oder waren vom Tiber ins Meer gespült worden. Jeder hatte Freunde, Verwandte und Nachbarn verloren. Und bis heute sind viele überzeugt, dass diese Plünderung die Strafe Gottes für das Lotterleben der Kurie gewesen war. Es gab ein Rom vor dem Sacco und eins danach. Und es war nach dem Sacco gewesen, dass die Zeiten begonnen hatten, sich zu ändern. Es war klar, welche Art von Späßen Mercuria gemeint hatte. Ich hatte eigentlich nur nachgefragt, um ihr die Einzelheiten zu entlocken, nach denen der Gazettenschreiber in mir verlangte.
Mercuria hielt das Glas, das Bartolomeo nicht angerührt hatte, gegen den Feuerschein und tauchte in ihre Erinnerungen ab.
Die Menschenmenge drängte gegen Santissimi Apostoli an. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, und ein leichter Wind löste glitzernde Tröpfchen aus der Fontäne, die von dem Brunnen in der Mitte des langgestreckten Platzes aufstieg. Zur Feier des Tages hatte Kardinal Pompeo Colonna, neben dessen Palast sich die Kirche wie ein Anbau ausnahm, die unterirdische Wasserleitung überbrücken und eine Pumpvorrichtung einbauen lassen, die den Brunnen aus einem riesigen Fass in seinem Keller mit Wein versorgte. An die Ausgießung des Heiligen Geistes konnte man ja schlecht mit Wasser erinnern.
Den Brunnen selbst sah man kaum, stattdessen türmte sich dort eine Pyramide aus Menschen, die sich an der Doppelschale aus Travertin festklammerten und umeinanderkrabbelten wie Bienen auf einer gerade aus dem Stock gezogenen Wabe. Hände krallten sich in den Stein oder zogen andere nach oben, Füße suchten Halt auf Schultern und Kanten, und wer keinen Becher zur Hand hatte, tauchte gleich den ganzen Kopf in eine der Brunnenschalen; andere schaufelten den Wein aus reinem Übermut mit beiden Händen in die Menge oder prusteten ihn mehr oder weniger gezielt in die weit geöffneten Schlünde derer, die es nicht bis nach oben geschafft hatten.
Auf der Galerie im oberen Stock der Kirchenfassade standen fünf oder sechs Kardinäle mit ihren Favoritinnen, schunkelten im Takt der Gesänge, schütteten noch mehr Wein aus großen Karaffen herunter oder warfen brennende Lumpenknäuel, lebendes Geflügel und dann und wann einen in der Luft zappelnden Hasen in die johlende Menge.
Sie schob sich in ihrem Kleid, in dem die Silberfäden glitzerten, durch die Menge zum Eingang der Kirche wie eine vom Olymp herabgestiegene Göttin. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, wie eine Krone um ihren Kopf gewunden und mit einer Haube aus falschen Perlen befestigt. Bald würden es echte sein, und der, der sie ihr schenken würde, stand wahrscheinlich da oben und hatte sie schon in den Blick genommen. Sie war siebzehn und damit für den Geschmack einiger dieser Herren schon zu alt, andererseits stellte sie sich im Bett auch nicht an wie eine dumme Gans.
Vor der Tür drängten sich die Leute, es ging nicht vor und nicht zurück, aber nicht für sie: Wo immer sie erschien, tat sich eine Gasse auf, und genau dafür war dieses Kleid ja nun einmal geschneidert worden. Ein Huhn ging neben ihr zu Boden und hüllte sie in eine Wolke aus Federn, die sie kokett zur Seite pustete.
In der Kirche ging es zu wie auf dem Jahrmarkt. Kannen wurden über den Köpfen durchgereicht, und das Gejohle hallte vom schimmernden Apsisfresko zurück, das den Erlöser inmitten einer Schar aus dümmlich dreinschauenden Engeln zeigte. Ein Spaßvogel hatte einen der Nebenaltäre erklommen und legte eine Arkebuse an, der Schuss löste sich in einer Wolke aus Feuer und Qualm, und die Kugel schlug in der Decke ein, dass der Putz in alle Richtungen flog.
«Darf ich auch mal schießen?», schrie einer, der sich an einem riesigen Osterleuchter festhielt.
«Sicher!», schrie der andere zurück und reichte ihm die Waffe hinunter. «Dafür ist sie doch da!»
Direkt vor dem Hauptaltar hatte man eine Stange aus aneinandergebundenen Holzstäben eingebaut, die vom Boden bis zum Gewölbe reichte. Dort hing der von Kardinal Colonna ausgelobte Hauptpreis: ein totes Schwein, das gleichgültig hin und her schaukelte, während der Nächste sein Glück versuchte, ein junger Bursche mit Ziegenbart, dem man ansah, dass es ihm mindestens ebenso sehr um den Applaus der Menge ging wie um den Festtagsbraten, von dem ihn nur noch ein paar Ellen trennten. Das Messer in der Faust, die Beine verschränkt, zog er sich mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht an der Stange nach oben, aber so leicht wollten die Zuschauer es ihm nicht machen: Von unten flogen Obst und Gemüse herauf; einen Apfel, der den Scheitelpunkt seiner Bahn genau vor seinem Gesicht erreichte, teilte er mit einem schnellen Hieb in zwei Hälften, was großen Jubel auslöste, ihn allerdings den Preis kostete, denn in dem kurzen unaufmerksamen Moment des Triumphs erwischte ihn ein scharfer Wasserstrahl mitten im Gesicht; er riss die Hände hoch, kippte nach hinten, klammerte sich noch einen Augenblick mit den Beinen fest, baumelte kopfüber, ruderte mit den Armen, versuchte, die Stange wieder zu greifen, verlor aber den Halt und stürzte nach unten, wo er ein halbes Dutzend Menschen mit sich zu Boden riss, ehe er aufgehoben und über die Köpfe nach draußen durchgereicht wurde.
Auf der Balustrade, die vom rechten Seitenschiff direkt zum Palast der Colonna führte, standen, Papageien und Affen auf den Schultern, die Barone einträchtig beisammen und wechselten sich mit der Bedienung einer großen Wasserspritze ab, um den Wettkampf spannender zu gestalten, indem sie die Kletternden von der Stange schossen.
Sie registrierte die Blicke, die sie trafen, die verstohlenen und die unverhohlenen, sie schlug einem Grapscher auf die Finger, nahm einem anderen eine Weinkaraffe aus der Hand und trank, damit das angenehme Schwindelgefühl nicht nachließ. Ihre Mutter hätte das unschicklich gefunden, aber die war ja nicht da, sondern saß zu Hause hinter dem Fenster wie die Spinne im Netz, um sich zu vergewissern, dass der Glückliche, den ihre Tochter früher oder später anschleppen würde, kein Habenichts, aber auch kein Mistkerl war.
Und da war er auch schon. Kaum älter als sie, zwanzig vielleicht, aber das Geld, für das er natürlich noch nie einen Finger gerührt hatte, das sah sie ihm gleich an. Er war hübsch mit seinem bartlosen, aber schon etwas kantigen Jungengesicht, schlank und biegsam, siegesgewiss, lebensgierig. Er wechselte ein paar Worte mit einem Knilch, der ihn gerade angesprochen hatte, aber er war nicht bei der Sache, sondern schielte die ganze Zeit zu ihr herüber, und leider erwischte er sie schon nach kurzer Zeit dabei, dass sie zurückschielte, also ließ er den anderen einfach stehen mit seinem neidischen Gesicht. Ihre Mutter hätte den Kopf geschüttelt. Zurückschielen, also ehrlich.
Aber jetzt war er nun mal da. Im Hintergrund brandete das Gejohle erneut auf, ein weiterer Kandidat schickte sich an, das Schwein loszuschneiden, wieder flogen Kohlköpfe und Äpfel, wieder zischten Wasserstrahlen.
«Wie heißt du?»
Du liebe Güte! Es gab Männer, die sich mit selbstverfassten Gedichten vorstellten, und der hier fragte einfach nach ihrem Namen, als hätte er die erstbeste Mamsell vor sich.
«Mercuria», sagte sie, weil ihr das gerade einfiel. Es klang gut, vielleicht sollte sie dabei bleiben. Hoffentlich gab es keine andere, die sich so nannte, sonst würde es früher oder später Theater geben.
Einfallsreicher wurde er vorerst nicht. Er stellte sich ebenfalls vor, es klang wie Stefano, bei dem Krach war das kaum zu verstehen, aber sie würde ohnehin später noch einmal nachfragen, um ihm zu zeigen, dass er so interessant nun auch wieder nicht war.
Er stellte ein paar einfallslose Fragen, auf die sie mit kleinen Frechheiten antwortete, und schließlich schlug er vor, sich nach draußen zu begeben, weil man da ungestörter sei. Sie willigte ein. Als er sich auf dem Weg durch die Menge erdreistete, nach ihrer Hand zu greifen, kniff sie ihn in den Arm.
Ungestört waren sie draußen natürlich kein bisschen, aber sie fanden tatsächlich einen freien Platz vor dem Brunnen. Er wand einem Betrunkenen, der vor dem Becken zum Nickerchen hingesunken war, den Becher aus der Hand, spülte ihn ein paarmal durch, kippte nachlässig einen Schwall hinter sich, schöpfte erneut und reichte ihr den Wein, den sie niemals angenommen hätte, wenn der Junge ihr nicht doch ein bisschen gefallen hätte mit seinem hübschen, unverbrauchten Gesicht und seinen schlanken Händen, von denen er jetzt einen kleinen Ring zog und ihr ungefragt an den Finger steckte, nicht fordernd oder besitzergreifend, sondern ehrfürchtig und etwas ungeschickt. Kurz hielt er ihre Hand fest, und als sie sie wegzog, ließ er es klugerweise geschehen und gab sich vorerst zufrieden, als wäre der Ring schon Preis genug für die kurze Berührung. Sie reichte ihm den Becher zurück. Er trank und verzog das Gesicht.
«Gerade gut genug für das Pack hier. Viel zu schlecht für dich.»
«Ich nehme an, bei dir gibt es besseren, Sbeffano?»
Er lachte über das Wortspiel. «Ja, bei mir gibt es besseren.» Er hatte das etwas zögerlich gesagt. Entweder er konnte sein Glück nicht fassen und war sich nicht sicher, ob die Frage wirklich als Einladung zu verstehen war, oder er konnte sich dort, wo er wohnte, mit einer wie ihr nicht blickenlassen. In beiden Fällen war es klüger, das Thema nicht zu vertiefen. Also schlug sie einen kleinen Spaziergang vor.
Sie schoben sich durch die Menschenmenge. Immer noch regnete es Hühner, Enten und Gänse. Stelzenläufer mit goldgeschminkten Gesichtern eilten vorbei, ein Schwertschlucker sprang auf den Rand des Brunnens und zeigte seine Kunst, einer führte einen Bären mitten durch die Menge, ein anderer einen Affen, der Lose aus einer großen Trommel zog.
In einer Seitenstraße liefen sie einer Gruppe stark angetrunkener Stutzer in die Arme. Ihrem angeberischen Geschrei war zu entnehmen, dass sie nach Parione ziehen wollten, um irgendein Fest zu sprengen. Sie wusste gleich, dass es Ärger geben würde. Und es gab Ärger.
«Hast du den Arsch gesehen? Die nehmen wir mit.»
«Wen? Den Arsch oder die Kleine?»
Großes Gejohle. Sie kannte diese Art von Männern. Die ließen nicht locker. Natürlich war die Bemerkung vor allem an ihren Begleiter gerichtet. Sie wollten sehen, ob er sich wehrte. Und natürlich wehrte er sich.
«Zieht Leine!», sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, aber laut genug, dass alle es hörten. Damit war jede Möglichkeit vertan, die Unverschämtheit einfach zu ignorieren. Der, der die erste Bemerkung gemacht hatte, löste sich aus der Gruppe und plusterte sich auf, und das war auch nötig, denn er war ebenso klein und schmächtig wie großmäulig. Die anderen grinsten voller Vorfreude.
Es ging ein bisschen hin und her, man sprach sich gegenseitig die Männlichkeit ab, ging zu Tiervergleichen über, und bald zog der andere Kerl einen Dolch und fuchtelte damit herum.
«Der ist es nicht wert», raunte sie ihrem Favoriten zu.
«Der nicht, aber du», sagte er kampflustig, während die Klinge vor seiner Nase durch die Luft fuhr.
Es hätte ein böses Ende genommen, wenn sich nicht in diesem Moment ein Schwall Wasser aus einem der Fenster ergossen und den Angreifer getroffen hätte, der vor Überraschung den Dolch fallen ließ und dann wütend nach oben blickte, um zu sehen, aus welchem Fenster die Dusche gekommen war. Aber niemand zeigte sich.
«Schluss mit dem Scheiß!», schrie eine Frau von irgendwoher.
Die anderen hielten sich die Bäuche vor Lachen, und das war die Rettung. Der triefnasse Kerl warf einen erbosten Blick auf seine unloyalen Sekundanten und überlegte offenbar kurz, was die größere Demütigung wäre: sich zu bücken und den Dolch wieder aufzuheben, sich ohne Dolch auf seinen Gegner zu stürzen und wahrscheinlich eine Abreibung zu kassieren oder die Sache auf sich beruhen zu lassen. Seine Freunde waren klüger. Sie packten ihn am Arm und zogen ihn weg. Aus sicherer Entfernung schrie er noch ein paar Beleidigungen, dann bogen sie um die nächste Ecke.
Sie war erleichtert. Es gab Frauen, die damit hausieren gingen, dass man sich ihretwegen duellierte. Zu denen würde sie nie gehören.
Da er nun den Kampfplatz behauptet und ihre Ehre, wenn auch mit fremder Hilfe, verteidigt hatte, fühlte er sich berechtigt, den Preis dafür einzufordern. Sie ließ es zu, dass er sie küsste, aber als seine Hände auf Wanderschaft gingen, löste sie sich von ihm und zog ihn weiter. Sie gingen durch ein paar Gassen zur Tiberinsel und suchten sich einen Platz am Ufer, wo sie ihn ungestört ausfragen konnte. Er war Bischof irgendeines Ortes, dessen Namen sie im nächsten Augenblick schon wieder vergessen hatte, irgendwo in Campanien, wo jedes Dorf mit ein paar Weinbergen drum herum gleich eine eigene Diözese bildete, nicht sehr einträglich, aber als Grundstock einer hübschen Pfründensammlung schon mal ganz passabel. Sein Onkel war angeblich Kardinal, aber als sie nachbohrte, wand er sich wie ein Aal und flunkerte sich ein paar Ausreden zusammen, also ließ sie es gut sein. Wieder küsste er sie, und wieder fanden seine Hände dabei ihren Weg nach hier und da. Diesmal ließ sie ihn gewähren, immerhin hatte er ihr einen Ring geschenkt. Sie ahnte, dass sie es sich bald würde leisten können, solche Geschenke auch ohne Gegenleistung anzunehmen, aber so weit war es noch nicht, also schlug sie ihm vor, sie nach Hause zu begleiten. Die Via Giulia, wo sie mit ihrer Mutter lebte, war nicht weit. Immerhin ließ er wenigstens auf dem Weg die Finger bei sich.
Natürlich stand ihre Mutter bei ihrem Eintreffen in der Tür wie der Erzengel vor der Pforte des Paradieses. Natürlich sah sie den Ring sofort, natürlich ließ sie sich nichts anmerken, und natürlich musste er noch einmal bezahlen. Sechs Scudi. Es gab Frauen, die sich für sechs Scudi einen halben Monat lang aushalten ließen, und andere, die dafür noch nicht einmal den obersten Knopf geöffnet hätten. Nachdem die Formalitäten geregelt waren, gingen sie nach oben.
Er riss sich zusammen, spielte ein bisschen den erfahrenen Galan und machte ihr Komplimente, damit das Ganze nicht zu geschäftsmäßig wirkte, aber seine Erregung stand seinem Einfallsreichtum im Weg. Während sie sich auszog, zitierte sie ein paar Verse aus der Liebeskunst von Ovid, doch er verstand kein bisschen Latein, und irgendwann war seine Geduld erschöpft.
Kaum war es getan, schlummerte er auch schon weg.
«Du bist eine Göttin», murmelte er.
«Und was für eine», sagte sie, während sie ihren Körper im Spiegel betrachtete. «Ich bin Mercuria.»
«So fing das an», sagte Mercuria und lachte. Und in diesem ungezwungenen Lachen kamen all die Reize zum Vorschein, mit denen sie früher ihre Verehrer verrückt gemacht hatte.
Ich grinste verlegen. Natürlich kannte ich die Geschichten, die über diese Zeit in Umlauf waren, und ich hatte Aretino gelesen, bevor er verboten wurde, aber mit solch einer offenherzigen Selbstverständlichkeit hatte ich noch nie jemanden über dieses Gewerbe sprechen hören. Mercuria schien auch gar nicht auf die Idee zu kommen, dass mich das irritieren könnte. Kerzengerade, die Beine übergeschlagen, so saß sie da, schwenkte das Glas in der anmutigen Hand und lächelte versonnen.
«Wo hast du das gelernt?», fragte ich.
«Das Latein bei einem Priester. Das Gewerbe bei meiner Mutter. Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, aber damals wurde man dafür nicht schief angesehen. Es reichte auch nicht, einfach nur schön auszusehen. Wie gesagt, wir begleiteten unsere Freunde und Favoriten auf Feste und Bankette, und keiner der hohen Herren wollte sich da mit einem kichernden Plappermaul blamieren. Meine Mutter war eine kluge Frau, darum schickte sie mich zu diesem Priester. Ich lernte Latein mit Horaz und Griechisch mit Homer. Wir lasen Aristoteles und Augustinus. Wenn ich heimkam, schlichen die Männer schon um unser Haus herum. Jeden Tag machten irgendwelche Diener ihre Aufwartung und brachten Kapaune oder Forellen, und bald standen die ersten Kutschen vor der Tür. Meine Mutter brachte mir bei, sie so abzuweisen, dass sie wiederkamen. Vor allem aber lehrte sie mich Vorsicht. Die Ersten, die über Nacht bleiben durften, wählte sie selbst aus, mit sechzehn konnte ich das allein. Seit damals erkenne ich sie sofort: die Grobiane, die Widerlinge und die Langweiler sowieso, aber auch die Eingebildeten, die Geizhälse, die Rücksichtslosen und die Angeber, außerdem die Verleumder, die Blender, die Schmeichler, die Eifersüchtigen und die Aufbrausenden. Die Verklemmten, die vorher dem Satan und hinterher dir die Schuld geben, die Sanften mit den blitzenden Augen, die plötzlich gewalttätig werden, und die Verwöhnten, die glauben, sich alles herausnehmen zu können. Nur ganz selten habe ich mich getäuscht. Meine Kundschaft bestand in aller Regel aus gesitteten Herren mit Geld und Verstand. Überhaupt, von Kunden redeten wir gar nicht, wir hatten Freunde und Favoriten. Meine Favoriten verehrten und beschützten mich. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken.» Sie hob ihr Glas. «Auf meine Mutter.»
Wir tranken uns zu. In den folgenden Stunden gab sie weitere Erinnerungen und Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten, die jedem frommen Christenmenschen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten. Sie erzählte von Festen in Badehäusern und verschwiegenen Ausflügen in die Weinberge, von inszenierten Entführungen, von Kardinälen in Frauenkleidern, von Kupplerinnen und ihren Mittelchen, von Kunden, die im Hemd durchs Fenster flohen, von den speziellen Wünschen einiger vornehmer Herren und dem, was sie für deren Erfüllung zu zahlen bereit gewesen waren, von dem unglaublichen Luxus, in dem sie gelebt hatte. Wir tranken ziemlich viel dabei.
Nach einem ausgiebigen Überblick über den Inhalt ihres Schmuckkastens sah sie mich ernst an. «Aber so ein Glück hatten nicht alle. Auf eine, die das erreicht hat, was ich erreicht habe, kommen mindestens zwanzig, die sich in schäbigen Baracken anbieten oder mit zerschnittenem Gesicht in der Gosse gelandet sind. Bei einigen war klar, dass sie so enden würden. Bei anderen hätte ich es nie gedacht.»
«Was ist mit deinem Vater?», fragte ich, ermutigt durch ihre Offenheit.
Sie lächelte und schaute ins Feuer. «Senatus Populusque Romanus.» Sie trank einen Schluck und stellte das Glas ab. «Oder am Ende vielleicht doch dieser Priester. Ich habe mich immer gewundert, dass er es nie bei mir versucht hat.»
«Und hast du nie ans Heiraten gedacht?», wagte ich mich weiter vor.
Das Lächeln verschwand aus Mercurias Gesicht. «Nein. Heiraten wollten immer die anderen. Oder sie waren schon verheiratet. Meistens mit der Kirche.»
«Wolltest du keine Kinder haben?», fragte ich.
Wie hätte ich ahnen können, was ich mit dieser Frage anrichtete? Mercuria hatte mir Begebenheiten aus ihrem Leben erzählt, die andere sich noch nicht einmal auszumalen wagten, ohne anschließend beichten zu gehen. Woher hätte ich wissen sollen, dass sich ausgerechnet hinter dieser harmlosen Frage ein Abgrund auftun würde?
Mercurias Gesicht gefror. «Ich hatte eine Tochter», sagte sie mit belegter Stimme.
Und dann brachen Trauer und Verzweiflung mit einer Heftigkeit aus ihr heraus, die mich völlig unvorbereitet traf. Tränen stiegen in ihre Augen. «Sie wurde vor zwölf Jahren ermordet», sagte sie, dann schluchzte sie auf und lief hinaus.
Ich kann mein Entsetzen kaum beschreiben. Ich rannte ihr hinterher, fühlte mich schuldig und missverstanden zugleich. Ihre weiße Silhouette eilte in der Dunkelheit über den Hof, auf ihr Haus zu, sie stolperte, hielt sich an einer der Säulen ihres Altans fest und verharrte mit bebenden Schultern, den Kopf gegen den Marmor gelehnt. Mercuria, die elegante und lässige Mercuria, sie weinte laut und schmerzvoll, als brächen jahrelang aufgestaute Qualen aus ihr heraus. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, auch mir standen die Tränen in den Augen. Vorsichtig trat ich heran und berührte sie an der Schulter. Ich rechnete damit, dass sie mich wegstoßen würde, stattdessen wandte sie sich mir zu und klammerte sich an mich, weinte leise weiter und kam schließlich in meinen Armen zuckend zur Ruhe.
Sie löste sich von mir. Wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Lächelte traurig. «Es tut mir leid», sagte sie.
«Nichts muss dir leidtun.»
«Ich gehe schlafen.»
«Soll ich dich hochbringen?»
«Danke. Ich schaffe das allein.»
Sie öffnete die Tür. Bevor sie im Haus verschwand, drehte sie sich noch einmal um. Sie lächelte schwach.
«Das hat mir schon lange keiner mehr angeboten.»