»Ist das alles nur ein Traum, der mich heimsucht?«, flüstert Anela in der Nacht ängstlich. Ich öffne schlagartig die Augen und wische Anela die Tränen vom Gesicht.
»A’elo, das ist es nicht! Uns beiden wird nichts mehr passieren, nichts wird uns mehr trennen!«, flüstere ich voller Inbrunst und ignoriere weiterhin die Müdigkeit. Ich habe immer mal wieder die Augen geschlossen, es aber nicht gewagt einzuschlafen, aus Angst aufzuwachen und zu erkennen, dass es nur ein Traum war. Anela scheint die gleiche Sorge zu quälen.
»Wenn du aufwachst, werde ich immer noch da sein! Versuch, ein wenig zu schlafen!« Anela schüttelt wie wild mit dem Kopf. An Schlaf ist gar nicht zu denken. »Dann erzähl mir, was nach der Welle passiert ist!«, bitte ich sie. Zu viel verstehe ich noch nicht. Zu viele Fragen sind noch offen.
Anela nickt und kuschelt sich wieder an mich. Meine Arme sind so fest um sie gezwängt, dass sie wahrscheinlich blaue Flecke davontragen wird, aber ich kann einfach nicht anders. Ich lasse sie nie wieder aus meinen Armen. Selbst wenn ich sie mit Gewalt festhalten muss.
»Ich habe mich eigentlich nur in der Hütte verkrochen«, fängt sie an zu erzählen. Ihr Atem schlägt gegen meinen Hals. »Sie haben mir Essen und Trinken gegeben und mir von den anderen Kindern erzählt. Ich habe ihnen nicht ein Wort geglaubt und nie ein Wort zu ihnen gesagt … Dieser Kerl, der wie ein Grizzly aussieht, war die meiste Zeit hier, hat versucht, mit mir zu reden und mich aus der Hütte zu locken. Er hat mir Angst gemacht, obwohl er eigentlich nur nett war … Dann brachten sie irgendwann die Kinder in die Hütte, da ich mich weiterhin weigerte, herauszukommen. Kasi war mit ihnen hier, hat mir die Geschichte seines Volkes erzählt, aber ich habe nie mit ihnen gesprochen und ihnen keine Gelegenheit gegeben, mich zu manipulieren.« Anela schluchzt leise auf und wischt sich die Haare aus dem Gesicht, die mit ihren Tränen im Gesicht kleben. Paco war für sie da? Der furchteinflößende Kerl? Er hat sich um sie gekümmert?
»Ich habe die ganze Zeit geglaubt, du seist tot«, stößt sie nun aus, völlig panisch. Von einer Sekunde auf die andere fängt sie an zu schluchzen. Hemmungslos und ohne Gnade. »Wie konntest du mir das antun?«, klagt sie und wischt sich die Rotze und die Tränen an ihrem Arm ab. »Du warst in Sicherheit, Nayla! Stattdessen rennst du einfach der Welle entgegen, um mich zu retten!« Ich wiege sie in meinen Armen, lasse Anela den ganzen Frust aussprechen. »Dann hast du mich auch noch losgelassen! Ich dachte, du wärst tot, und ich war daran schuld! Du bist schuld, dass ich mich schuldig gefühlt habe!« Ihre Wut ist grotesk, aber ehrlich, denn ihre Wut ist aus reiner Angst entstanden. Und weder die Angst noch die Wut sind rational und abwehrbar. Niemand ist davor gefeit.
»Ich konnte dich nicht einfach zurück lassen, Anela! Es tut mir leid, dass ich so schwach war! Es tut mir so leid!«
Wir liegen den restlichen Tag im Bett, die ganze Nacht hindurch und auch den ganzen nächsten Tag. Keiner von uns beiden rührt sich viel. Keiner von uns unterbricht den Hautkontakt. Drei der Betten haben wir zusammengeschoben und nun liegt Hoku an unserer Seite und schläft ruhig. Er hätte sie eigentlich wittern müssen, nachdem wir hier auf der Insel angekommen sind, aber ihr neuer Geruch war ihm fremd wie alles andere hier. Bei meiner Seele – ich habe meine kleine Schwester wieder. Auf die paar Tage, die uns genommen wurden, kommt es nun auch nicht mehr an.
Anela bricht dann noch einmal in Tränen aus, als sie mir hilft, die Verbände zu wechseln. Jeder Verband beschwört Tränen herauf. Jede Wunde entzieht ihr einen weiteren Schluchzer. Vor allem meine schreckliche Kopfwunde.