Mein Mageninhalt kommt langsam aber eindeutig nach oben gekrochen, denn heute treffe ich zum ersten Mal auf Bhanuni.
Die Stürme schwächen von Tag zu Tag ab und der abziehende Planet hinterlässt wieder angenehmes Wetter, weshalb das Feuerbecken nicht entzündet wurde. Die Sonne scheint draußen und hinterlässt milde Temperaturen und frische Luft, weshalb ich den Vorhang offen gelassen habe. Da Paco und Thien sich bald auf den Weg zum Festland machen wollen, haben sie gedrängt, dass ich ihre Mutter kennenlerne. Bhanuni könnte schließlich – laut ihren Worten – eine Hilfe dabei sein, gegen Norbu vorzugehen. Natürlich sehe ich das völlig anders, aber ich schlucke meine Widerworte hinunter. Ich will Frieden. Um jeden Preis. Ich hätte so viel getan, da werde ich es ja wohl auch schaffen, in gewissen Momenten mein vorlautes Mundwerk zu halten und mich zu Dingen bereitzuerklären, die ich als unnötig ansehe. Anfangs wollte ich sie sehen, weil mein Verstand eine Bestätigung dafür brauchte, dass alles, was sie sagen, wahr ist. Nun will ich sie eigentlich keinesfalls sehen und kennenlernen. Auch ohne sie zu kennen, weiß ich, dass ich sie nicht mögen werde.
Bhanunis damaliger Beinahe-Tod hat ihr Leben verändert, das weiß ich dank Anelas Lauschattacken. Sie lebt zurückgezogen in einer Hütte und sperrt sich den Großteil ihres Lebens darin ein. Sie geht allen Menschen aus dem Weg, außer ihren beiden Söhnen. Früher half sie noch dabei, die Insel nach den Flutwellen wieder auf Vordermann zu bringen und Essen zu erschaffen, aber seitdem dies nur giftige Nahrung hervorbringt, hält sie sich aus allem raus. Angst ist ihr ständiger Begleiter und manchmal hören die Nachbarn sie nachts schreien, wenn sie von Albträumen verfolgt wird. Körperliche Nähe ist etwas, was ihr Unbehagen bereitet und somit sind Begegnungen mit Menschen etwas, was sie schlichtweg vermeidet.
Etwas zappelig stehe ich in der Hütte, aber als Thien einritt, bin ich äußerlich die Ruhe selbst. Anela verbirgt ihr Grinsen und verdreht die Augen. Bei dieser Sache ist sie ganz meiner Meinung, dennoch hat natürlich auch sie den Mund zu halten.
Hinter Thien betritt eine große Frau die Hütte, von denen die Brüder die Größe geerbt zu haben scheinen, jedoch ist das auf den ersten Blick die einzige Gemeinsamkeit. Ihr Haar ist weizenblond und extrem strohig. Ihre Oberweite so groß, dass das Gewicht sie nach unten zieht und ihr Rücken leichte Schäden davongetragen hat. Ihre Augen sind stumpf. Ihr Gesicht verschlossen und unnahbar, wie das einer Statue. Sie ist dünner als alle anderen Personen dieser Insel und ihr Gesicht ähnelt dem einer Toten. Ein Skelett. Ein lebendiges. Ihr ganzes Äußeres wirkt außerdem gebrochen. Sie sieht so aus, als hätte sie ihre Vergangenheit nach all der Zeit immer noch nicht überwunden. Als hätte sich jedes Jahr in ihr Gesicht gegraben. Nun sieht sie viel älter aus, als sie eigentlich ist.
Ich habe sofort Mitleid mit ihr. Angst ist ein schrecklicher und hartnäckiger Begleiter im Leben. Manchmal ist es egal – was man auch tut, man wird ihn nie richtig los.
»Bhanuni«, begrüße ich sie und starre auf ihren Hals, wo sich die Male der Ho’oulu vom Nacken aus nach vorne ausbreiten. Ein sehr schönes Mal. Den Vorfahren sei Dank, wird man nicht wortwörtlich grün vor Neid. Mein Gesicht wäre sonst nun ein leuchtendes Grasgrün. »Lass mich raten, eine weiße Lotusblume?«
»Nein, eine Gladiole«, antwortet sie so schwach, als würde sie ihre Stimme zu selten gebrauchen. Ihren Augen kann ich keinerlei Gefühlsregung entnehmen.
Die Wunde, die ihre Schulter ziert, lässt mich Hoku einen kurzen Blick zuwerfen, der seine Brust aufplustert wie ein Täubchen. Bhanuni ist ihm immer noch nicht geheuer, auch wenn er ihrem Oberkörper eine deutliche Verunstaltung verliehen hat und Bhanuni dabei in ihre Schranken gewiesen hat. Nie wieder wird er sie so nahe an mich heranlassen, dass sie mir gefährlich werden könnte. Hoku versteht nicht, dass ich nun nicht mehr an einen Felsen gekettet bin und mich selbst verteidigen kann. Armer Junge.
»Und dein Mal?«, will Bhanuni von mir wissen. »Welcher Blume soll dieses Blau entsprechen?« Ein wenig Neugier mischt sich in ihre Züge, aber es ist kaum zu erkennen.
Widerwillig gebe ich ihr eine Antwort, deute aber gleichzeitig auf das Bett – eine Erlaubnis, sich zu setzen. »Ich habe keine. Die Vorfahren dachten wohl, ich sei unwürdig.«
Bhanuni reagiert zunächst nicht und sieht mich und mein Mal nur nachdenklich und mit schief gelegtem Kopf an. Dann sagt sie doch etwas, was wenigstens von ein bisschen Einfühlungsvermögen in ihrer unnahbaren Art zeigt. »Die Vorfahren haben noch nie jemanden als unwürdig betrachtet. Sie empfangen jeden mit demselben Respekt und urteilen nicht in dieser Weise über uns.« Mit diesen Worten setzt sie sich galant an das Feuerbecken und bevorzugt den dreckigen Boden.
Thien spielt mal wieder den Bewacher und bleibt am Eingang der Hütte stehen. Diesmal aber, schätze ich, wird er nicht mein Schutz sein, sondern ihrer. Zu Recht, denn sie würde ich genauso gerne umbringen wie Kasi und die anderen. Trotz meines Mitleids. Sie ist genauso mitschuldig am Krieg wie jeder andere.
»Meine Familie hat mir gegenüber erwähnt …«, fängt sie an zu erklären. »Dass du Inyan sehr verbunden warst und ich habe gehofft, dass du mir ein wenig über ihn erzählen kannst, weshalb ich dieses Treffen arrangiert habe.«
Solange dies ihre einzige Bitte bleibt, kann ich sie ihr erfüllen. Es muss schrecklich gewesen sein, mitanzusehen, wie Norbu damals Inyan so schwer verletzt hat. Jahrelang dachte sie, er sei damals durch Norbus Hand gestorben.
»Er war ein aufgeweckter und liebenswerter Junge«, fange ich an. So weit in der Vergangenheit, dass es mir eine Ewigkeit her zu sein scheint. »Er hat viel gelacht, sich um andere gekümmert und zwischen den streitenden Kindern geschlichtet. Er war sehr beliebt bei den anderen Kindern und hatte viele Freunde.«
»Fahr fort«, drängt Bhanuni, nachdem ich zögerlich innegehalten habe. Wie soll ich ihr sagen, dass ihr tot geglaubter Sohn ein Taugenichts geworden ist?
»Hat Kasi dir nichts erzählt? Das meiste hab ich ihm schon gesagt«, frage ich hoffnungsvoll, aber Bhanuni schüttelt zu meinem Leidwesen mit dem Kopf.
»Irgendwann fing er an, sich zu verändern.« Ich lecke mir über die Lippen, gehe träge durch die Hütte und versuche sie nicht anzusehen. »Er stieß viele seiner Freunde von sich und zog sich immer weiter zurück. Als er dann anfing Interesse an mir zu bekunden und nachdem er mitgekriegt hat, dass dieses Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruht, da hat er sich komplett gewandelt. Seitdem … er ist … er hat« Ich seufze und hadere weiter mit mir und meinen Worten.
»Er ist anscheinend kein liebenswerter Junge mehr«, haut Bhanuni die Wahrheit raus, von der sie anscheinend schon etwas geahnt hat. »Das war wohl zu erwarten, bei dem Vater, den er hatte.«
Ich nicke schlicht als Antwort auf ihre Worte und bekomme kein Wort heraus. Anela ist ebenfalls stumm und gibt keinen Ton von sich.
Thiens Mutter lenkt dann, dem Himmel sei Dank, von alleine ein neues Thema ein. »Wer denkst du, hilft Norbu unsere Insel zu vergiften? Wer könnte mit ihm zusammenarbeiten?«
»Das ist schwer zu sagen«, wiegele ich sie ab und verschränke die Arme vor der Brust. »Kaum einer ist ihm wohlgesinnt und ich habe nie jemanden kennengelernt, der wirklich mit ihm befreundet war und seine Art anzuführen guthieß.«
Am liebsten würde ich etwas anderes sagen, aber ich habe keine Lust darauf, dass die Moana anfangen, an mir zu zweifeln. Ehrlich gesagt kommt keiner infrage, denn niemand von uns würde freiwillig das Leben seiner Familie aufs Spiel setzen und dieser Insel die Kraft entziehen, sodass die Moana sich wehren und die Flutwellen schicken. Zwar befolgen alle Norbus Befehle, aber keiner ist ihm wohlgesinnt. Ich kenne mein Volk. Ich kenne es gut genug. Aber die Moana würden mir nicht glauben, dass ich jeden ihrer Namen kenne und einfach weiß, dass sie so etwas nicht tun würden.
Bhanunis folgende Worte sind wahrscheinlich nicht böse gemeint, aber ich empfinde sie so. »Nun ja, du bist jung und bestimmt viel mit Gleichaltrigen zusammen. Du hast bestimmt nicht viel mit den Älteren zu tun, die dafür infrage kommen könnten. Diese Unwissenheit kann man dir nicht zulasten legen.«
»Ich bin keine zwölf mehr und spiele den ganzen Tag im Dreck«, kläre ich sie nonchalant auf. »Meine Aufgabe ist es, mich tagtäglich um jegliche Differenzen zu kümmern und Zeit mit meinem Volk zu verbringen. Seit Jahre tue ich nichts anderes und mittlerweile kenne ich jeden einzelnen von ihnen. Ich weiß also durchaus, dass sich niemand an Norbus Machenschaften beteiligt, auch nicht die älteren von ihnen.«
Bhanuni leckt sich neugierig über die Lippen. Ihre Pupillen haben sich geweitet. »Du kennst jeden? Sind durch die Flutwellen so viele gestorben, dass ihr nur noch so wenige seid?«
Meine Arme versteifen sich in der Verschränkung. »Darauf gebe ich keine Antwort!«
»Natürlich musst du die Frage nicht beantworten«, wirft Thien ein und erhebt die Hände, um Frieden zu schließen.
Seine Mutter beharrt nicht auf eine Antwort und lenkt ein, dass das zu weit ging. Unbewusst streicht sie über den Stoff ihrer Hose. Ein Zeichen von Nervosität. »Nun gut, dann sag mir, wie es Norbu gelingen kann, ganz alleine die Insel zu beeinflussen? Und wieso von euch nie jemand hinter sein Geheimnis gekommen ist? Denkst du nicht, dass ihn jemand deckt und ihm hilft?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem zweifelndem Gesichtsausdruck sieht sie auf den Boden. »Entweder müssen seine Mittäter total raffiniert sein oder der Rest von euch völlig verblendet, so weit, wie er sein Spiel treiben konnte.« Ihre Worte sind ruhig und sachlich, ohne Wut oder Vorwurf. Völlig gleichgültig. Wie können Worte dann so abwertend sein?
Meine Wut kommt in Sekundenschnelle hochgeschossen und übernimmt das Ruder. Meine Nasenflügel blähen sich, wie die eines Stiers. Thien zischt seine Mutter an, bevor ich es tun kann. »Wir tragen auch Schuld, vergiss das nicht! Jahrelang hatten wir die Möglichkeit bei den Verhandlungen Norbu zu töten und haben es nicht getan, weil wir dachten, Maleko wäre derjenige, der den Krieg beeinflusst. Wir waren genauso verblendet.«
»Ich habe von Anfang an darauf bestanden, dass er getötet wird«, erwidert sie unvermittelt scharf und wirft ihm einen kurzen und tadelnden Blick über die Schulter zu, so als wäre das alles seine Schuld.
Meine Worte fordern ihre Aufmerksamkeit zurück. »Die Älteren haben keine Handlung von Norbu hinterfragt und wir Jüngeren haben das schließlich übernommen, weil es normal schien«, feuere ich drauf los. »Wir konnten doch nichts dafür, dass alles, was wir wussten, eine Lüge war. Man zweifelt nicht einfach so an den Menschen, die einen lehren, wie das Leben funktioniert. Man tut, was die Eltern sagen und man vertraut ihnen blind.«
Anela, die die ganze Zeit ruhig auf dem Bett saß, kommt nun auch in Fahrt und kann sich diesen unbeabsichtlichen Vorwurf ebenfalls nicht gefallen lassen. Sie erhebt sich und kommt an meine Seite. »Uns wurde auch gesagt, dass unsere Macht mit der Insel in Zusammenhang steht und wir woanders ohne Schutz wären. Sie haben uns gesagt, dass die Kinderleichen nicht gefunden werden, weil die Monster aus dem Meer sich auf sie stürzen würden. Und sie haben uns gesagt, dass die Moana Ungeheuer sind, die Kiemen und Flossen haben. Nie hat jemand das alles angezweifelt.«
Bhanuni legt den Kopf schief. Ein Abklatsch eines Lächelns erscheint auf ihren schmalen, blassen Lippen. »Kinder sind ja so naiv.«
Ich hebe verachtend die Augenbrauen. Das geht definitiv zu weit! »Du solltest nicht mit Worten um dich werfen, die auch auf dich zutreffen! Hast du nicht gleichzeitig zwei Männer geliebt und gedacht, du kommst damit durch? Meinst du nicht, dass du lieber den Mund halten solltest, wo du dich auf jemanden eingelassen hast, der nicht einmal zu unserem Volk gehört?«
Meine Worte nimmt sie gleichgültig auf. Ihr Blick gleitet kurz zu Thien, dann zu mir. Fast ein wenig berechnend. »Stört dich das? Der Gedanke jemanden zu lieben, der nicht zu deinem Volk gehört?«
Damit trifft sie genau ins Schwarze und ich frage mich, ob ich immer so leicht zu durchschauen bin. Wahrscheinlich sind keine ihrer fiesen Worte ernst gemeint, dennoch erreicht es die innere Wunde.
»Nein, keineswegs.« Ich lächle sachte und bemühe mich ansonsten um ein neutrales Gesicht. »Was mich am meisten stört, ist völlige Feigheit. Und genau das führt uns zu dem, was dich am meisten stört, nicht wahr? Du hasst es, dass andere mutiger sind als du und sich ihren Ängsten stellen, anstatt sich zu verkriechen. Du hasst es, dass ich stärker und selbstloser bin als du.«
Thien blickt mich ungläubig an. Mahnend faucht er meinen Namen, damit ich aufhöre, mich so dreist zu benehmen.
Ich verstumme sofort. Einen reuevollen Blick braucht er allerdings nicht zu erwarten. Bhanuni kommt auf die Beine und ich erwarte jede Sekunde, dass sie mir ins Gesicht springt. Entgegen meiner Erwartung bleibt ihr Gesicht aber so verschlossen wie eh und je. »Danke für das Gespräch.« Ihre Stimme ist vollkommen ruhig und ihre Haltung ohne jegliches Gefühl. Mit einem letzten Blick auf mich, dreht sie sich herum und verlässt leichtfüßig die Hütte.
Ich stehe da und sehe ihr nach, meine Hand zur Faust geballt.