Ein Abschied für immer?

Kapitel 11

Vignette

So wie Bhanuni sich in ihrer Hütte verkriecht, so tue es auch ich. Ich will so wenig mit den Moana zu tun haben wie möglich, auch wenn das den kommenden Frieden wohl hinauszögert. Ich bringe es aber einfach noch nicht über mich, mich dem, was mich dort draußen erwartet, zu stellen. Die Hütte ist eine schützende Blase, die mich von der Zukunft fernhält und in die ich mich nur zu gerne verkrieche.

Vor allem da heute der Tag aller Tage ist. Der Tag, an dem Thien und Paco zum Festland aufbrechen. Der Tag, an dem sie beide Lebewohl sagen werden. Ich hoffe, dass sie gehen, ohne sich bei mir persönlich zu verabschieden. Ich hoffe, dass ich mein Herz damit hereinlegen kann. Hoffe, dass es dadurch nicht zerbricht.

Ein Disput mit Anela liegt mir auch noch in den Knochen, weil sie sich weigert, mir die verlangten Informationen zu besorgen. Sie will weder Erkundigungen darüber anstellen, wer an den Flutwellen beteiligt war, noch wie viele es sind. Sie verweigert es auch, nach einer Möglichkeit zu suchen, wie wir Rache an ihnen nehmen können, ohne, dass es Konsequenzen für uns hätte.

Ich war so sauer wie seit langem nicht mehr. Nun aber sehe ich ein, dass mein Verhalten das Letzte war, einfach nur erbärmlich. Wie kann ich einen Streit zwischen uns provozieren, wo ich sie doch gerade erst wiederbekommen habe? Wie kann ich von der friedlichen Anela verlangen, mir dabei zu helfen, fast ein Drittel eines Volkes abzuschlachten?

Da Anela seit unserer kleinen Auseinandersetzung nicht in unserer Hütte war und nun einige Zeit vergangen ist, wage ich einen Blick nach draußen. Ich entdecke sie einige Meter entfernt von unserer Hütte. Ihr feuerrotes Haar glänzt im Sonnenschein und ein paar ihrer Strähnen wiegen sich mit dem Wind. Ihre Augen sind fest auf Thien gerichtet, der ihr gegenübersteht und anscheinend nicht ohne ein paar Abschiedsfloskeln gehen kann. »Lebewohl«, entnehme ich seinen Lippen, weil sie zu weit weg stehen, als dass ich ihre Worte hören könnte. »Halte deine große Schwester an der kurzen Leine, damit sie keinen Unfug anstellt.«

Anela und er grinsen sich an und nicken sich zu, so als würden sie beide ganz genau wissen, dass es nötig ist, mich an die kurze Leine zu nehmen. Mein Schnauben ist extra laut, aber Hoku hinter mir ist der Einzige, der es hört.

»Danke, dass du sie aus dem Meer gezogen hast und hinter ihr gestanden hast«, erklärt nun Anela. »Ohne dich wäre sie nicht mehr am Leben. Dafür stehe ich für ewig in deiner Schuld!«

Thien nickt ihr zu und lächelt immer noch. Er sieht aus wie immer. Seine kurze Hose sitzt tief auf den Hüften. Heute hat er mal wieder eine Machete am Gürtel hängen – mittlerweile denke ich, dass es seine liebste Waffe ist. Seine Bartstoppeln lassen seine Züge männlicher und reifer erscheinen. Seine Oberarme laden dazu ein, meine Finger darüber gleiten zu lassen. Sein Lächeln erwärmt mein Herz. Seine Locken werden vom Wind ins Gesicht gepustet, aber wie immer ist seine Hand schon da, um sie zurück zu streichen. Habe ich schon einmal seine Kehrseite erwähnt? Diesen stählernen Rücken, das Muskelspiel? Die unversehrte und sonnengebräunte Haut? Seinen knackigen Hintern?

Ich schüttele den Kopf, um meinen Verstand wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.

Anelas Lächeln ist verschwunden. »Ich erwidere das Lebewohl, aber ich hoffe, dass du zurückkehrst.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und überquert die lichtüberflutete Lichtung. Der Wanderplanet ist endgültig aus unserem Blickfeld verschwunden und hat das unberechenbare Wetter mit sich genommen. Die Sonne scheint hell und klar, aber der Schnee hat große Pfützen auf der Lichtung hinterlassen, in denen sich die Kinder austoben. Von Matsch übersät senden sie ihr Lachen in die Welt hinaus, so wie es immer sein sollte. Kinder sollten nicht wissen, was Leid ist. Sie sollten nicht in einer Welt aufwachsen müssen, in der sie nur Entbehrungen erliegen müssen.

Thiens Augen schweifen mittlerweile zu meiner Hütte. Den Vorhang habe ich immer noch wegen des guten Wetters zur Seite gebunden, dadurch hat er aber nun einen guten Blick auf mich. Er sieht mich an, sieht, wie ich zurückweiche. Dann schlendert er los. In meine Richtung.

Ich schlucke. Meine Hände werden schwitzig, ich wische sie an der Hose ab und blicke mich in der Hütte um. Suche ein Fleckchen, an dem ich mich feige verstecken kann. Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Wie ein nervöses Kind pruste ich die Luft aus meinen Lungen und verschränke angespannt die Arme. Ich habe mich immer noch nicht an die Kleidung der Moana gewöhnt und dass mein Bauch so offen zur Schau gestellt wird. Ein bodenlanges Kleid wäre mir jetzt viel lieber, um meine Gänsehaut zu verdecken und meine zitternden Beine.

Thien, der der Hütte nun gefährlich nahe kommt, drehe ich den Rücken zu und fülle einen Becher mit frischem Wasser, um meine Hände zu beschäftigen. Dann registriere ich die plötzliche Dunkelheit, als er den Vorhang löst und über den Eingang fallen lässt, damit wir ungestört sind. Mein Herz gerät ins Stocken. Mein Magen verknotet sich.

»Lebewohl«, stoße ich erstickt aus und mache all dem schnellstmöglich ein Ende. In meiner Kehle steckt ein Dolch, der mir das Sprechen schwermacht.

Ich spüre seine Blicke auf meinem Rücken. Dann höre ich seinen angestrengten Atem, der mir zeigt, dass ihm dies hier genauso zu schaffen macht wie mir. Sein unverwechselbarer Geruch kommt näher und immer näher. Meine Hand bebt immer mehr. Wasser schwappt über den Rand des Bechers, läuft mir am Handgelenk herunter.

»Willst du nicht ordentlich Lebewohl sagen?«, erkundigt er sich. Sein Atem streift meinen Nacken. Dann spüre ich das leichte Ziehen an meinen Haarsträhnen, als er sie berührt, so wie er es schon so oft zuvor getan hat. Beim strahlenden Himmel, kann er das jeden Tag tun? Meine Haare berühren, mir so nahe kommen, dass ich in seinem Geruch ertrinke?

Ich schließe die Augen, unterdrücke das angenehme Seufzen. »Bin nicht sonderlich gut in solchen Dingen«, flüstere ich immer noch mit dem Rücken zu ihm. Seine Hand spielt immer noch an meinen Strähnen.

»Es könnte sein, dass ich nicht zurückkomme«, wendet er leise ein, aber ich zucke nur mit der Schulter, so als wäre es mir egal. Thien holt übertrieben tief Atem. »Ich dachte immer«, flüstert er. »Dass du jemand bist, der gegen seine Ängste ankämpft.«

Ich öffne die Augen wieder, starre auf das Wasser in dem Becher, welches verdächtige Wellen schlägt. Der Becher rutscht mir aus der Hand und knallt zu Boden. Das Wasser spritzt umher, weicht meine Hose ein, aber davon merke ich kaum etwas. »Das bin ich auch«, hauche ich atemlos und wringe meine Finger im Stoff der Hose aus, um meine Hand trocken zu kriegen und meine Finger zu beschäftigen.

»Du lügst«, offenbart er mir und stellt dann meine Worte auf die Probe. »Sonst würdest du dich doch der Segnung unserer Vorfahren stellen, der Iho Aloha, oder nicht?«

Ich schließe erneut die Augen. Mein Herz bleibt stehen. Ein, zwei Momente lang. Zum ersten Mal sind zwischen uns die Worte ausgesprochen worden! Die Worte, die beweisen, dass wir aneinander gekettet sind. Die Worte, die beweisen, dass zwischen uns Gefühle bestehen und dass wir uns zueinander hingezogen fühlen. Ich schlucke. Mein Herz schlägt weiter. Es rast in meiner Brust und legt immer mehr an Tempo zu. »Ich stelle mich ihr doch«, wehre ich seine Worte ab. Meine Stimme wird fester, auch wenn der Dolch sich tiefer in meine Kehle gräbt. »Ich stelle mich ihr entgegen!«

Die Berührung hört sofort auf. Sein Atem bleibt aus. Eine unangenehme Stille herrscht Augenblicke lang zwischen uns. »Ist das deine endgültige Entscheidung?«, hakt er nach. Das Einfühlsame und Liebenswerte ist aus seiner Stimme verschwunden.

Ich nicke hastig, zu hastig.

»Dann Lebewohl, Mädchen aus dem Paradies.«

Ich höre, wie er einen Schritt zurücktritt und wie sein Duft nachlässt und mir nicht mehr in den Kopf steigt.

»Deine Eigenarten werden dich weiterhin stark machen und du wirst es schaffen, den Krieg zu beenden.«

Seine Stimme wird immer kälter. Aber ich weiß, dass das nicht passiert, weil er wütend ist, sondern weil er enttäuscht ist.

»Jedoch werden dich deine Eigenarten auch immer schwach machen und du wirst immer alleine dastehen.«

Mit Tränen in den Augen drehe ich mich zu ihm um und nicke ihm zu, weil er recht hat und ich nicht so schwach bin, dass ich das nicht zugeben kann. Warum aber, kann ich die Tränen nicht aufhalten, die sonst auf Kommando in meinen Augen bleiben? Warum hat seine Erscheinung solch einen gewaltigen Einfluss auf mich?

Thien betrachtet mich und presst die Lippen zusammen. Dann weicht seine Wut auf mich, die ich eben noch selbst hervorgeholt habe. »Ich habe mir unseren Abschied irgendwie anders vorgestellt«, entflutscht es ihm. Bevor ich ihn aufhalten kann, hat er eine meiner Tränen mit den Daumen fortgewischt. Ein gequälter Seufzer entweicht seinen Lippen. »Ich werde wiederkommen!«

Kopfschüttelnd weiche ich einen Schritt zurück, um einer weiteren Berührung aus dem Weg zu gehen. »Nach all den Horrorgeschichten, die du mir erzählt hast, bezweifle ich das.«

Ich sehe dabei zu, wie er heftig den Kopf schüttelt. »Dieser Trip zum Festland macht mir nicht halb so viel Angst, wie das, was zwischen uns steht und ungeklärt ist, lei

Der Dolch rutscht tiefer in meine Kehle. Er schlitzt mein Fleisch auf. Ich wage es kaum, zu sprechen. »Die Sache ist geklärt.«

Ein bitteres Schnauben entweicht ihm. Seine Augen sehen mit der Wut und den gesenkten Augenbrauen viel dunkler aus.

»Ich kenne den Ausdruck in deinen Augen, wenn du dir etwas vorgenommen hast und von etwas vollkommen überzeugt bist – gerade, hier und jetzt, sehe ich von all dem nichts in deinen Augen, also warum versuchst du mir das Gegenteil zu beweisen?« Ich weiche einen weiteren Schritt zurück und stoße den Bottich um. Sein ganzer Inhalt ergießt sich auf dem Boden. Thien wartet auf meine Antwort, denn ich bin nie jemand gewesen, der schweigt und etwas unkommentiert lässt. Als er nach einer Ewigkeit bemerkt, dass keine Erwiderung kommt, schüttelt er wieder den Kopf. Er berichtigt seinen vorangegangenen Satz voller Wut.

»Dieser Trip zum Festland macht mir nicht halb so viel Angst, wie deine Entscheidungen.« Seine Worte sind scharf, wie frisch geschliffene Klingen.

»Lebewohl.«

Mit diesem Abschiedswort, das nichts Endgültigeres an sich haben könnte, dreht er sich um und geht.

Ich blicke ihm hinterher. Starre auf den alten Stoff, der sich nach seinem Abgang aufbauscht und an seinen Platz zurückfällt. Hilflos strecke ich die Hände aus, so als würde das etwas an der Situation ändern. Zwischen mir und dem Eingang bestehen mehrere Schritte und meine Füße bewegen sich keinen Millimeter.

Irgendetwas in mir zerreißt. Ich mache gerade einen riesigen Fehler. Du dumme Kuh! Lass ihn nicht gehen!

»Thien!«, rufe ich und setze meine Beine endlich in Bewegung. Aber kaum ist sein Name über meine Lippen gekommen, steht er schon wieder in der Hütte, so als hätte er nur darauf gewartet, dass ich ihn zurückrufe.

Wir bleiben einen Schritt voneinander entfernt stehen. Sein Blick liegt ganz auf mir, aber zum ersten Mal, weiß ich nicht, was in ihm vorgeht.

Ich fahre mit der Zunge über meine trockenen Lippen und meine Augen huschen über jedes Detail seines Gesichts, damit ich nichts davon vergesse. »Du kommst zurück, oder?« Meine Stimme klingt weinerlich und flehend. Das merke sogar ich, aber ich kann nichts dagegen ausrichten. Ich bemühe mich ja, damit niemand merkt, wie meine Gefühle für ihn aussehen, nicht mal er selbst. Aber mein Körper ist ein mieser Verräter. Mein Herz sowieso.

Verwunderung blitzt in seinen Augen auf. »Du bist wie der Wanderplanet, weißt du das eigentlich? In einem Moment bist du die strahlenste Sonne, die je ihre Wärme auf die Welt geschickt hat, und im nächsten Augenblick reißt du alles zugrunde.«

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber auf jeden Fall nicht diese Reaktion. Der Boden ist ein guter Anblick, als mich die Schmach überfällt und ich seinen Blick nicht mehr erwidern kann. Etwas oder jemanden zugrunde zu richten, ist nun einmal einfacher, als etwas oder jemanden aufzubauen, aber das werde ich ihm jetzt nicht auf die Nase binden. »Dass ich mich dagegenstelle«, überwinde ich mich zu sagen, während ich meinen Zeh dabei beobachte, wie er sich in die aufgeweichte Erde gräbt. »Bedeutet nicht, dass ich mir nicht wünsche, dass du zurückkommst.«

Ein gequälter Seufzer erklingt in der Stille der Hütte. Die Welt dort draußen ist gerade nicht vorhanden, nicht von Belang. Zweimal Blinzeln, dann liegen seine Finger unter meinem Kinn und heben es an. Einmal tief einatmen, dann ist sein Gesicht direkt vor meinem, aber ich weigere mich, in seine Augen zu sehen. Starre lieber auf sein Kinn, das auf der Höhe meiner Augen ist. Wie gerne würde ich mit dem Daumen die harte Kante seines Kiefers entlangfahren, meine Finger über die kratzenden Bartstoppeln gleiten lassen.

»Ich komme zurück, Sturmmädchen«, raunt er mir zu. »Selbst wenn ich dafür den Ozean austrocknen lassen muss! Ich komme zurück!« Ich hebe meinen Kopf noch weiter, um ihm in die Augen sehen zu können. Um zu sehen, ob dieser Schwur genauso viel Gewicht hat, wie der des verschmähten Wandels. Seine klaren Augen bestätigen seine Worte.

»Gut«, sage ich erleichtert. »Das ist ein gutes Versprechen und ich verlasse mich darauf, dass du es einhälst. Wenn nicht, dann verspreche ich dir hiermit, dass ich die Erde auseinanderreiße, um dich zurückzuholen!«

Ein sachtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht und bevor ich mich versehe, beugt er sich vor und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. Ich bleibe stehen, rühre mich nicht. Ich lasse ihn ziehen, obwohl er mein Herz in der Hand hält.