Wir nehmen unsere wenigen Habseligkeiten und ziehen zu Latya und ihrem Freund Merea in die Hütte, weil Paco mich darum gebeten hat, bevor er und sein Bruder zum Festland aufgebrochen sind. Gebeten ist untertrieben. Sein gezischtes: ›Halte dich bloß von Ärger fern!‹, war eher eine Drohung.
Ohne die beiden gibt es schließlich nun weniger Wachen auf dieser Insel, und Eiks Frust hat sicherlich noch nicht nachgelassen. Es gibt aber auch einige andere, die mir nicht über den Weg trauen und die mir gefährlich werden könnten. Latya und ihr Freund sollen also als Puffer und als Schutz dienen und gleichzeitig Wache über mich halten, da auch ich den anderen noch gefährlich werden könnte.
Diese Zeit ist für mich nicht einfach, denn das frisch verliebte Pärchen fühlt sich von unserem Eindringen keineswegs gestört. Händchenhalten, Küsse, Umarmungen und gegenseitiges Necken ist an der Tagesordnung. Anfangs zwinge ich mich, die beiden zu ignorieren und den Blick abzuwenden, immer ist dies jedoch nicht machbar. Vor allem, nachdem sich die Erinnerung an meinen Großvater wieder in mein Bewusstsein drängt. ›Die Menschen denken, dass sie frei sind, dabei ist um sie nur eine Mauer herum aufgebaut … Sie vergessen, dass sie diese Mauer aufgebaut haben, mit ihrem Leid, mit ihrem Schweiß und ihrem Blut und den Knochen ihrer Mitmenschen. Stein für Stein erschaffen sie diese Grenzen um sich herum und Buchstabe für Buchstabe schreiben sie mit ihrem Blut Freiheit darauf.‹
Diese Grenze zwischen uns Ho’oulu und den Moana ist nicht gleichzusetzen mit anderen Grenzen, da der Krieg und unsere Differenzen sie erbaut haben. Um diese Grenze einzureißen, handhabt es sich allerdings wie mit allen anderen Grenzen: Nur wir selbst können sie wieder entfernen.
Schon in der zweiten Nacht vergieße ich still und heimlich Tränen deswegen anstatt zu schlafen, weil Gut und Böse in mir um die Vorherrschaft kämpfen. Ich will den Frieden. Ich will ihn so sehr, dass ich dafür sterben würde. Dazu muss ich diese Grenze zwischen uns jedoch zerstören. Wiederum will ich auch nicht nur Rache nehmen, ich will auch niemandem von ihnen verzeihen und mich mit niemandem von ihnen gut stellen. Am liebsten will ich nichts weiter mit ihnen zu tun haben. Das bedeutet, ich würde lieber aus Stolz sterben, als diese Schwäche zu überwinden und weiterzuleben. Dass das schwachsinnig ist, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Woher kommt dieser falsche Stolz? Wie werde ich ihn wieder los? Bin ich damit nicht genauso verachtenswert wie Norbu, der mit seinem falschen Stolz unser friedliches Leben in eine Katastrophe verwandelt hat?
Da dies alles im Konflikt miteinander steht, verkompliziert es meine Zeit hier und unsere Zukunft obendrauf. Ich weiß also, dass ich gar keine andere Wahl habe, als mich dem zu beugen, dennoch macht es mich krank. Es ist wie eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten, und Latya streut jedes Mal Salz in die Wunde, wenn sie Merea einen verliebten Blick zuwirft.
Tagsüber, wenn die beiden sich anderweitig beschäftigen und wir die Hütte für uns alleine haben, dann sind Anela und ich nur am Reden und am Kuscheln. Wir vertragen uns nach unserem dummen Streit nicht nur, wir reden auch ganz offen in dieser Zeit. So viel, wie noch nie und so ehrlich, wie noch nie. Wir teilen die tiefsten Gedanken miteinander und schweißen noch mehr zusammen, was kaum möglich ist. Ich schwöre mir selbst, sie nie wieder in meine Rachegedanken miteinzubeziehen und ihr nie wieder böse zu sein, nur weil sie sich mir entgegenstellt. Sie hat jedes Recht, sich meiner Wenigkeit nicht unterzuordnen und sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Ich werde nicht damit anfangen meine Liebe mit Bedingungen zu verknüpfen.
Anela war schon immer sehr reif für ihr Alter, aber in den letzten Wochen scheint sie um Jahrzehnte gealtert zu sein. Nicht auf positive Art, sodass man sagen könnte, sie hat die Weisheit mit Löffeln gegessen und ist darin unanfechtbar. Sondern auf die Weise, die den Augen ihren Glanz nehmen und das Lächeln ihre Kraft. Selbst ihre Hoffnung scheint geschmälert worden zu sein, wobei ich gedacht habe, dass jenes das Einzige wäre, was man ihr nicht nehmen kann. Sie zweifelt an dem kommenden Frieden, vor allem, da selbst ich meine Rachegefühle nicht abstellen kann. Dem Rest unseres Volkes wird es da nicht anders ergehen. Sie sorgt sich, dass ich meine Meinung nicht ändere und alles mit meiner unverfrorenen Art gefährde. Natürlich hat sie damit nicht Unrecht. Mein Temperament ist hitzig, vor allem aber natürlich, wenn solch tiefgehende Gefühle auf mich einwirken.
Oft schweigen Anela und ich auch und hängen unseren Gedanken nach. Irgendwann aber fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich werde ruhelos, fahrig und launisch. Es wird stündlich schlimmer und nicht mal mehr in Anelas Gegenwart kann ich meine Laune im Zaum halten. Ständig hakt sie nach, was mit mir los sei, aber ich kann ihr keine Antwort darauf geben. Schließlich habe ich in den letzten Tagen emsig versucht über alle möglichen Dinge meinen Kopf zu zerbrechen, weil der baldige Frieden in unmittelbarer Nähe ist und ich mir für alles einen Plan zurechtlegen muss. Jedoch konnte ich mich auf nichts davon konzentrieren, so sehr ich es auch versucht habe. Egal, ob ich aufwache, egal, ob ich einschlafe, egal, ob ich Hoku kraule oder mit Anela rede, die ganze Zeit habe ich nur Thiens Gesicht vor Augen und unseren bitteren Abschied und unser wahrscheinlich nie stattfindendes Wiedersehen.
»Es wird nicht ohne Grund ein Segen genannt, weißt du?«, flüstert Anela eines Nachts, um Latya und ihren Partner nicht zu wecken. Es ist stockdunkel. Wir beide haben Schwierigkeiten einzuschlafen, aber kein Wort in dieser Zeit miteinander gewechselt. Nur an den nicht aufhörenden Drehungen bekommen wir mit, dass der jeweils andere ebenfalls keine Ruhe findet. Ich versteife mich und starre wortlos in die Dunkelheit. »Die Iho Aloha ist ein Segen, direkt von den Vorfahren für zwei Menschen, die eine wichtige Bedeutung haben und anders sind als die anderen«, redet sie weiter leise auf mich ein. »Vielleicht siehst du in ihm immer noch den Feind, aber er hat mit diesem Krieg genauso wenig zu tun gehabt, wie du oder ich, und er ist einer der nettesten und fürsorglichsten und offensten Menschen, die ich kenne. Er ist ehrlich. Er ist witzig. Er denkt mit klarem Verstand und freiem Geist und nicht so eingeschränkt wie die anderen, und ich kann echt nicht verstehen, warum du nicht einen einzigen Moment lang darüber nachgedacht hast, dieses Geschenk anzunehmen.«
Ich entgegne nichts auf Anelas Worte. Nachdem sie eingesehen hat, dass von mir auch keine Entgegnung kommt, nimmt sie schlicht meine Hand in ihre und schließt die Augen.
Es gibt in all den Tagen trotzdem noch einen Streit zwischen Anela und mir, denn ich kann nicht mitansehen, wie Anela so wenig isst und dann selbst etwas essen. Da sie mitgekriegt hat, dass ich ihr mein Essen untergeschoben habe, war ihre Standpauke eine von der Sorte, die sich echt gewaschen hat. Da ich eh schon alles andere als gut gelaunt war, endete es sehr unschön. Keiner von uns beiden hat sich dafür entschuldigt, aber meistens ist dies bei uns auch nicht nötig. Wann waren wir wirklich jemals sauer aufeinander, wo wir doch gar nicht anders konnten, als dem anderen viel zu schnell zu verzeihen?
Da ich offiziell noch als Kind behandelt werde, bekomme auch ich etwas zu essen, aber meine Versuche, es Anela unterzuschieben, waren zu auffällig. Es geht nicht nur darum, dass ich es nicht essen will, sondern es auch nicht kann. Seitdem Thien weg ist, habe ich keinen Appetit mehr. Mein Magen knurrt und faucht und verlangt nach Nahrung, aber ich kriege kaum etwas herunter.
Die einzige Ablenkung von all dem, die mir in allerlei Dingen zugute kommt, ist es, mein Training wieder aufzunehmen. Zu meiner Beschäftigung wird es nun, meinen Körper wieder in Form zu bringen. Die Strapazen der Gefangenschaft zehren immer noch an meinem Körper und das wenige, was ich an Nahrung bekommen habe und im Moment zu mir nehme, ist keineswegs hilfreich. Ich fange an mit einfachen Übungen und teste aus, wie weit ich zurückliege. Dann erhöhe ich mein Training, aber schon bald ist es nicht genug. Meine Gedanken sind trotz zitternder Muskeln und schweißdurchtränkten Sachen nicht am Schweigen.
Ich überrede Noa deshalb dazu, mit mir und Anela laufen zu gehen. Da er einer der Wenigen ist, der immer in Topform sein muss, kann er locker mit uns mithalten. Trotz seiner dunklen Haut und des Hasses der Festlandbewohner, wird er immer ein Notnagel bleiben. Zurzeit geht er gar nicht mehr auf das Festland, weil sie ihn wahrscheinlich einfangen und versklaven würden, aber wenn irgendwann keiner der anderen Händler mehr übrig ist, dann ist er die letzte Hoffnung der Moana.
Die frische Luft tut mir gut, genauso wie die Bewegung. Wir fangen klein an und laufen nur ein paarmal um die Lichtung herum. Dann erweitern wir die Strecke und laufen am Strand entlang. Wie Mitira mir einmal erklärt hat, ist der Nebel von dieser Seite aus nicht so dicht wie von der Ho’oulu Insel aus gesehen und man kann laut ihrer Aussage bei bestimmten Lichtverhältnissen mühelos hindurchsehen. Wie sich herausstellt, entspricht es der Wahrheit. Da ist keine undurchdringliche Nebelwand, die einem einen Schauer über den Rücken wandern lässt. Da ist nur feiner Nebel, wie der, der manchmal morgens über der Insel schwebt und die Natur mit einem mysteriösen Zauber belegt.
Ich bekomme Gelegenheit nicht nur das vielseitige Meer zu sehen, sondern auch ab und an einen Blick aus der Ferne auf meine Insel zu erhaschen. Jedoch bekomme ich dabei eigentlich nur fürchterliches Heimweh.
Während dieser Zeit fange ich an, mich wieder lebendiger zu fühlen. Zwar halte ich großen Abstand zu den Wellen, aber da ich in der Ferne die Seemöwen erblicke und ihr hohes Gepiepse höre und den Anblick von Tieren so sehr vermisst habe, vergesse ich fast, dass das todbringende Meer direkt neben mir ist. Ich sehe auch ab und an ein paar Pelikane, Küstenseeschwalben und Papageitaucher. Sie fliegen rauf und runter, gleiten im Wind, stürzen sich herab, oder spielen miteinander. Der Anblick ist belebend und friedlich zugleich.
An einem Morgen, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen ist und der Himmel von einem tiefen Blau zu einem ganz sanften Hellblau wird, bleiben wir mitten im Laufen stehen und halten für mehrere Minuten inne, als eine Buckelwalfamilie zwischen unsere beiden Inseln durch den Ozean tobt. Wir beobachten schweigend, wie sie alle paar Minuten einen Sprung aus dem Wasser wagen, nur um unmittelbar danach mit einem Rückenklatscher wieder im Wasser zu landen. Dieses Gefühl, was mich dann überkommt, kann ich kaum beschreiben, ich kann nur sagen, was es mit mir anstellt. Ich kann dann freier atmen. Die Luft ist reiner und erfüllender. Wärme durchflutet meine Adern und meine Seele wird von einer unsichtbaren Hand gestreichelt. Trotz all dem Elend auf der Welt, gibt es immer noch so etwas Wunderschönes, Befreiendes. Etwas, was man beschützen und behüten muss, damit die Welt nicht vollends in Hass versinkt.
Tiere sind wie Kinder. Sie sind alle unschuldig und unbeholfen und leben in einer Welt, die sie nie verstehen werden. In einer Welt, in der die meisten Menschen sie nicht verstehen. Ein Tier mag vielleicht nicht unsere Sprache sprechen, aber in ihrem Verhalten und in ihren Lauten erkennt man das gleiche Verständnis von Liebe und Trauer, wie bei uns Menschen. Sie mögen vielleicht nicht unsere Intelligenz teilen, aber ihre ist die Bessere. Sie lieben wie wir, ziehen ihre Kleinen groß und tollen mit ihnen. Wenn sie jemanden verlieren, dann leiden sie wie jeder andere. Nur der Hass und der Neid und die Eifersucht ist ihnen fremd und genau deshalb sind sie unschuldig und genau deshalb ist ihre Intelligenz die Bessere.
Ein Bär würde nie einen Berglöwen verachten, nur weil er sich geschmeidiger bewegen und besser klettern kann. Ein Zebra würde nie einen Krieg mit Pferden heraufbeschwören, nur weil es schöner ist und seidigeres Fell besitzt. Ein Vogel würde nie Rachepläne schmieden. Ein Elefant würde nie eine Armee gründen und alles niederwalzen, was sich ihm in den Weg stellt. Kein Tier würde aus Freude jagen, nur um des Überleben willens. Kein Tier würde mit dem Schädel seiner erlegten Beute angeben. Kein Tier würde sich mit dem Fell anderer schmücken.
Die Festlandbewohner ehren nur ihre Katzen und Hunde. Sie verwöhnen die faulen Miezen und werden mit Kuscheleinheiten belohnt. Sie dressieren ihre Hunde und werden mit Loyalität belohnt. Sie sehen den Schmerz, wenn man ihnen auf die Pfoten tritt und hören ihn, wenn sie fauchen und jaulen.
Die Festlandbewohner sehen nicht, dass die Eigenschaften, die diese Vierbeiner besitzen, auch alle anderen Tiere besitzen. Sie sehen nicht die Liebe, die Loyalität, die aufmerksame Suche nach Liebe. Dabei lieben die Tiere so weitreichend, dass sie ihre Liebsten mit ihrem Leben beschützen. Sie trauern so tiefgründig, dass man die Schreie aus ihren Lauten hören und die Trauer in ihren Augen lesen kann.
Seit meiner Kindheit erlebe ich das. Ich habe die Tränen der unterschiedlichsten Tiere gesehen, bei Rindern, Elefanten und Pferden und tausend weiteren. Ich habe die unterschiedlichsten Schreie gehört, winselnd, knurrend, jaulend. Seit meiner Kindheit schütze ich sie, genauso wie sie mich schützen. Wer das nicht sieht, der ist blind, und es betrübt mich, dass die ganze Welt blind zu sein scheint.
Diese Blindheit hat ganze Arten ausgerottet. Diese Blindheit lässt sie Jagd auf sie machen. Auf Tiere wie Hoku, den Giganten, weil seine Federn so bewundernswert sind. Wie Quida, den Orang-Utan, weil ihre Hände und Füße ein Glücksbringer sind. Wie Lekolstai, den Elefanten, weil seine Stoßzähne eine wahre Rarität sind. Wie Kenta, das Rind, weil sein Fleisch angeblich so saftig ist.
Ich bin so dankbar eine Ho’oulu zu sein und mit den Tieren aufzuwachsen und mein Leben mit ihnen verbringen zu dürfen. Sie sind meine Familie und ich schütze sie genauso wie Anela. Genauso, wie sie auch mich immer schützen werden.
Während ich die Wale bei ihrer Spielerei mit den Wellen beobachte, klären sich all meine Gedanken, die in mir die letzten Tage solche Zwietracht gesät haben. Ich habe mich nicht mit dem Gedanken anfreunden können, dass diese Monster – an die ich mein Leben lang geglaubt habe – einfach nicht existieren. Ich gestehe mir ein, dass die schöne Mitira, mit der ich den letzten Tagen so viel zu tun hatte, die Sorte von Mädchen ist, mit der ich liebend gerne befreundet wäre. Gestehe mir ein, dass Noa ebenso ein solcher Mensch wäre. Genauso wie Thien.
Ich weiß, dass sich etwas ändern muss. Ich muss diese Mauer in mir einreißen, auch wenn ich nicht sicher bin, wie ich das anstellen soll. Die nächsten Tage verbringe ich deswegen ununterbrochen draußen bei den anderen. Ich muss es hinnehmen, dass die Moana mich auf Schritt und Tritt mit den Augen verfolgen und mich verhasst oder ängstlich ansehen. Aber auch sie müssen es hinnehmen, dass ich mich nicht verkrieche. Wir müssen in Zukunft zusammenarbeiten. Wir müssen die Vergangenheit, so gut es geht, begraben, auch wenn sie immer ein Teil von uns bleiben wird.
Ich gebe mir Mühe, das blühende Leben zu sein und alle Kinder kennenzulernen, die uns Ho’oulu gestohlen wurden. Unweigerlich muss ich dadurch aber auch Zeit mit den Moana Kindern verbringen, denn sie befinden sich immer Seite an Seite.
Ein beklemmendes Gefühl macht sich in meiner Brust breit und will nicht mehr weichen, als ich erlebe, wie vertraut alle miteinander sind. Es gibt keine Schikanen zwischen ihnen, keine Ausgrenzungen, keine Stänkereien. Zwischen niemandem von ihnen. Es ist fast so, als würde es keine Unterschiede zwischen den Moana und den Ho’oulu geben. Die älteren Kinder und Jugendlichen hängen miteinander rum und foppen sich gegenseitig, egal, ob Moana oder Ho’oulu. Die Jüngeren spielen und toben und jagen sich gegenseitig, egal, ob Moana oder Ho’oulu. Fast scheint es so, als hätte es zwischen uns nie Krieg gegeben. Als wäre es ganz normal, dass beide Parteien miteinander aufwachsen. Das beklemmende Gefühl schnürt mir immer mehr die Brust zu, denn sie sind irgendwie alle mehr als Freunde. Sie sind …
Sie sind eine Familie. Deswegen würde es hier niemals eine Grenze geben. Für die Liebe gibt es nämlich keine. Mit der Liebe hat niemand eine Chance, eine Mauer zu errichten.
Abends sitze ich immer mit einigen älteren Ho’oulu Kindern zusammen und sie fragen mich aus, über das Leben bei uns, über die Tiere und über die Pflanzen. Auch wenn sie kaum Erinnerungen daran haben, wie es war, die Natur zu beherrschen, an das Gefühl der Macht können sie sich alle erinnern.
Leider kommen einige der Kinder auch irgendwann dazu, mich nach ihren Familien zu fragen und ich weiß im ersten Moment nicht, wie ich damit umgehen soll. Die Wahrheit wird bei den Meisten nicht gut ausfallen, aber ich zwinge mich trotzdem dazu, ehrlich zu sein und nichts zu verschweigen.
Bei einem der Jungen sind beide Elternteile verstorben. Nur sein jüngerer Bruder und seine Großeltern leben noch.
Bei einem anderen sind die Großeltern tot.
Bei einem anderen die ganzen Familie.
Bei einem anderen nur entfernte Verwandte wie Cousins und Tanten.
Bei den wenigsten leben alle noch.
Eines Abends, wagt sich schließlich auch Latya die Frage nach ihrer Familie zu stellen, was mich erstarren lässt.
»Deine Schwester-«, antworte ich zögerlich, wobei ich nicht weitersprechen kann.
»Du hast gesagt, dass keines der Kinder durch die Flutwellen gestorben ist«, wirft sie zweifelnd ein. Noch hält sie die Tränen zurück, aber das wird sie sicherlich nicht mehr lange durchhalten. Ich schlucke mühsam, kann nicht weitersprechen.
Hilfesuchend wirft Latya einen Blick zu Anela, aber die zuckt nur entschuldigend mit der Schulter. »Ich kann mir die Tausenden von Namen und all die Lebensgeschichten und die Toten nicht merken.«
Kasi – der immer öfter meine Nähe sucht, sich aber bisher meist einige Schritte von mir entfernt hält – wirft mir einen verwirrten Blick zu. Latya hat mir erzählt, dass sie niemals zu viel von unserem Volk in der Gegenwart der Moana erzählt hat, und keiner hat sie je dazu gedrängt. Deshalb wussten die Moana auch nur, dass es jemanden gibt, der den Krieg beenden kann, aber sie haben von ihr nie erfahren, wer das ist. Erst als ich hier war und sie es zugegeben hat. Ansonsten wissen die Moana nicht viel mehr über uns. Sie wissen nicht, dass ich jeden einzelnen meines Volkes kenne. Sie wissen nicht, wie viele Mitglieder die Huna Ke Koa wirklich haben und wie ausgeprägt unsere Stärke ist. Sie wissen nicht, wie groß unser Volk ist. Sie wissen nur das Nötigste.
Latya steht also trotz ihrer Zeit hier und trotz ihres Partners, immer noch auf der Seite von uns Ho’oulu.
Kasis Blick ignorierend, zwinge ich mich die Luft auszustoßen und es über meine Lippen zu bringen. »Du und deine Zwillingsschwester standet euch so nahe … «, flüstere ich kaum hörbar. »Sie konnte nicht … sie hat deinen Verlust nie verkraftet. … Ein paar Monate lang hat sie gekämpft, aber sie kam nicht darüber hinweg.«
»Sie hat sich umgebracht?«, hakt Kasi nach, der nun näher kommt, während Latya heftig anfängt zu schluchzen. Er greift nach ihrer Hand und legt ihr eine Hand auf die Schulter. Fass sie nicht an! Wie kannst du hier stehen und ihre Hand halten, wenn das alles deine Schuld ist?
Ich nicke mit zusammengepressten Lippen. »Viele haben diesen Weg gewählt. Hunderte von Menschen in all den Jahren.«
Die Stimmung in den Tagen danach ist betrübt.
Kasi hält sich zwar immer noch in meiner Nähe auf, aber nun rückt er mir immer weiter auf die Pelle. »Wie kann es sein, dass du all die Familien der Kinder kennst und alles über sie zu wissen scheinst?«, fragt er mich irgendwann, als sein Verstand anscheinend nicht erfassen kann, was er von selbst mitgekriegt hat.
»Weil sie schon immer zu meinem Volk gehört haben und ich schon immer ihre Anführerin sein wollte«, erkläre ich genervt.
»So geht es mir genauso, dennoch kenne ich nicht so viele bei ihren Namen und ihre ganzen Geschichten«, wirft er zweifelnd ein.
Ich ergebe mich seufzend und gestehe ihm die Wahrheit. »Ich konnte das schon immer. Ich vergesse kein Gesicht, keinen Namen, keine Worte. Viele bezeichnen es als besonderes Talent.«