Das reichste Volk ist auch das Ärmste

Kapitel 13

Vignette

Seit ich auf der Lichtung der Kinder lebe, musste ich den Anblick der Erwachsenen den Vorfahren sei Dank nicht mehr ertragen. Auch beim Laufen weichen wir der Lichtung aus, wofür ich mehr als dankbar bin. Es reicht völlig, dass ich nachts davon träume, ihnen gegenüberstehen zu müssen. Wenn ich wach bin, will ich mich dem nicht auch noch aussetzen. Auch nicht gerade jetzt, wo ich versuche die Rachegedanken völlig auszublenden. Kasis tägliche Besuche auf der Kinderlichtung überreizen meine Nerven schon genug.

Wir laufen heute nicht nur am Strand entlang, da meine Ausdauer sich deutlich verbessert hat, sondern quer über die Insel. Wir kommen an mehreren Lichtungen vorbei, die fast genauso groß sind, wie die anderen, bloß dass diese nicht bewohnt sind, sondern völlig verlassen, weil die Menschen, die dort gelebt haben, alle tot sind. Verhungert, um genau zu sein, weil Norbu sich dafür rächen wollte, was ihm angetan wurde. Auch andere Ecken kundschaften wir aus. Ich sehe die Quelle ihres Wassers, die aus einem Berg frisch und klar herausfließt, dann über schillernde Steine in einem Bach hinweg plätschert, mitten in einem der toten Wälder. Die Frage, wie es hier früher nur so vor Leben gestrotzt haben muss und warum das Wasser nicht genauso tot und giftig ist, wie alles andere, kann ich mir aber nicht beantworten.

Vielleicht ist das Wasser auch giftig und Anela und ich schlucken es Tag für Tag, aber daran können wir im Moment nichts ändern.

Im Bach liegen die schwarzen Steine, deren Inneres die Edelsteine beherbergen. Ein paar von ihnen sind bereits zerbrochen und flimmern unter dem klaren Wasser wie ein Regenbogen. Noa sammelt einen davon auf und überreicht ihn mir. Purpur und Rosa leuchten mir fluoreszierend entgegen, ein Hauch Silber schimmert am Rand. »Wir schwelgen im Reichtum und besitzen dennoch nichts Wertvolles«, merkt Noa an, den Blick beim Laufen auf den Bach gerichtet. Ich beobachte ihn, treibe meine Beine weiter vorwärts, damit ich nicht hinter ihm zurückbleibe. »Die Edelsteine haben einen zu großen Wert für normale Händler, keiner von ihnen kann sie bezahlen. Es interessiert sie nicht, dass sie für uns keinen Wert haben, dass wir einen unmessbar kostbaren Edelstein gegen einen einzigen Apfel tauschen würden. Sie denken dann, dass sie nicht echt sind, eine Fälschung. Und die Händler, die sie sich wirklich leisten könnten, an die kommen wir nicht heran, denn sie sind direkte Untergebene des Königs.« Jetzt erst wirft er mir einen Blick zu. Seine schwarzen Haare kleben ihm verschwitzt am Kopf. »Ironisch nicht wahr? Das reichste Volk der Welt ist gleichzeitig das ärmste.«

Ich sage nichts dazu, laufe einfach weiter.

Wir laufen dann wieder über die Dünen zum Strand, diesmal jedoch an einem Ende, an dem ich vorher noch nicht war. Genau jenes, das mir zur Flucht verholfen hätte, denn hier befinden sich die Einbäume und auch andere Gefährte. Richtige Boote, die denen der Festlandbewohner – so wie Noa mir erklärt – auf jede Kleinigkeit gleichen. Die Einbäume, die nur aus einem einzigem Baum angefertigt werden – in der Mitte zerteilt und anschließend ausgehöhlt – würden die Moana sonst schon bei der Ankunft am Hafen verraten. Die Boote der Festlandbewohner hingegen sind aus einzelnen zusammen gehämmerten Planken und unterscheiden sich deutlich von unserem Fortbewegungsmittel. Zusammen mit der Kleidung, den langärmeligen Hemden und Hosen, die ihre Male verbergen, sehen sie dann aus wie ganz normale Händler.

In einem von ihm lagert das Obst, Gemüse und Mehl, das von der letzten Handelstour übrig geblieben ist. Es ist nicht viel für so viele Menschen. Es ist mit mehreren Planen abgedichtet worden, damit die Sonne das Essen nicht verdirbt oder alles ins Wasser fällt. Noa lässt mich einmal einen kurzen Blick darunter werfen, was nicht so einfach ist, da ich immer noch auf dem trockenen Sand stehe, knapp einen Meter von den Wellen entfernt. Er selbst steht hüfthoch im Ozean neben dem großen Boot, welches auf den Wellen leicht hin und her schwankt.

Er nimmt sich einen Apfel aus dem Lager und watet durch die Wellen zurück zu mir. Seine Füße überbrücken die Schwelle von Wasser zu Land und dann legt er den Apfel einfach auf dem Sand ab und beutetet mir den Apfel nicht aus den Augen zu lassen. Ich quietsche, als sich die Schwärze wie ein Pfeil durch die Erde pflügt und trete einen Schritt zurück, als der Apfel dann verfault. So richtig, als wenn er tagelang hier liegen würde, nicht nur Sekunden. Verständlich, dass das die Situation der Moana noch um ein Vielfaches schwieriger gestaltet. Nicht ohne Grund sind in den letzten Tagen vier Erwachsene gestorben. Anelas Lauschattacken sei Dank oder sei Pech, weiß ich davon. Am liebsten würde ich es natürlich nicht wissen. Die Erwachsenen leben hauptsächlich von den Pflanzen aus dem Meer, aber wirklich nahrhaft – so erklärt Noa mir noch einmal – ist das alles nicht.

Meine körperliche Kraft zurückzugewinnen ist eine enorme Erleichterung für mich. Die Zukunft ist immer noch zu ungewiss. All unsere Hoffnung auf den Frieden kann immer noch scheitern. Und ich bin nicht so naiv, dass ich nicht den Gedanken zulasse, dass es zu einem noch schlimmeren Kampf kommen könnte als zuvor. Mein Volk sinnt auf Rache und ist all diesem Verlust überdrüssig. Den Moana geht es genauso. Deswegen ist es gut, dass ich mich nicht mehr in der Hütte verstecke und so viel Informationen sammeln kann, wie möglich. Denn wenn es trotz allem in die Brüche geht, dann wird mein Volk nicht dasjenige sein, das untergeht.

Der Ozean ist sehr ruhig heute. Das Wasser glatt wie ein Spiegel und die untergehende Sonne spiegelt sich in Rot- und Orangetönen darauf. Hoku schwebt über uns. Lautlos bewegen sich seine Flügel auf und ab. Die Überbleibsel von den großen Palmen trennen den Strand von den Lichtungen und ihr Anblick ist genauso grauenvoll, wie alles andere hier. Alles hier ist so öde, so leblos. So ausgestorben.

Noa und Anela laufen vor mir und unterhalten sich ab und an beim Reden, auch wenn ich ihnen immer wieder eintrichtere, es nicht zu tun, damit sie nicht außer Atem kommen.

Diesmal jedoch, habe ich keine Lust, wieder die Meckerliese zu sein, weswegen ich sie einfach vor mir laufen lasse und den Anblick des Himmels genieße, der das einzige gebliebene zu sein scheint, was er vorher war. Der Himmel ist das einzige, was selbst nach den schlimmsten Stürmen wieder so ist wie vorher. Nichts kann ihn aufhalten, nichts zwingt ihm Grenzen auf. Nichts lässt ihn in die Knie gehen.

Ich grinse, als Hoku sich von der Insel entfernt und über den Ozean fliegt, um ein paar Möwen aufzuscheuchen. Er kann es einfach nicht sein lassen, Unfug zu machen und zu stänkern. Die Möwen kreischen auf, als er mitten durch sie hindurch fliegt und attackieren ihn nun spielerisch. Ein paarmal geht dieses Spiel hin und her, aber ich rufe Hoku zurück, da Anela und Noa schon die Dünen hoch laufen und wir das Training für heute beenden.

Hoku hört sofort und macht einen Salto in der Luft, bevor er zurück zur Insel geflogen kommt. Ich wende mich ab und will Anela und Noa folgen, als Hoku ein Krächzen von sich gibt, welches mich den Kopf wieder drehen lässt. Gerade überfliegt er die Grenze von Wasser zu Sand und stößt noch ein Krächzen aus.

»Was ist? Hat dich einer von ihnen mit dem Schnabel erwischt?«, rufe ich, aber Hoku fliegt einfach über mich hinweg und landet irgendwo hinter den Dünen. Erneut höre ich Gekrächze, aber diesmal sind es die Möwen, welche Hoku gefolgt sind und nun alle aufschreien, als sie den Strandabschnitt passieren und dann sofort wie wild ihre Flügel schlagen, um zurück zu rudern.

Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen und beobachte sie dabei, wie sie aufgescheucht davon flattern, so als könnten sie gar nicht schnell genug wegkommen. Natürlich lebt hier kein einziges Tier auf der Insel, weil es hier keinerlei Nahrung für sie gibt, aber trotzdem müsste doch mal irgendeines von ihnen zu sehen sein. Vögel aller Art, die nach einem Nistplatz suchen. Oder Zugvögel, die auch mal auf ihrer Reise über die Insel fliegen, einfach weil es auf ihrem Weg liegt. Fliegt deswegen nie ein Vogel über die Insel? Kommen deswegen auch keine Schildkröten an den Strand, um ihre Eier abzulegen?

Ich betrachte den Sand um mich herum, suche nach irgendeiner Spur, irgendeinen Abdruck von einem Tier, der mir beweist, dass ich falsch liege, aber ich finde nichts. Nur die unterschiedlich großen Muschelschalen, die an den Strand gespült wurden.

Abends, während ich im Bett liege und alle anderen schon schlafen, liegt mein Blick auf Hoku, der keinerlei Wunden hat und friedlich schläft.

Wir Ho’oulu beschützen Tiere mit unserem ganzen Dasein und behüten sie wie Familienmitglieder. Das meiste Wissen über sie erlernen wir während des Heranwachsens, indem wir Zeit mit ihnen verbringen und ihr Verhalten studieren, wie das anderer Menschen. Die anderen Dinge werden uns von den Älteren beigebracht, sodass wir jede Regung und jedes Geräusch eines Tieres genauso lesen können wie die Mimik eines Menschen und seinen Wortlaut. Und selbst wenn ich nicht mit Hoku aufgewachsen wäre und jede einzelne seiner Macken kennen würde, so weiß ich doch, dass das vorhin ein Laut des Unwohlseins gewesen ist. So wie auch jenes Gebärden der Möwen.