Geständnisse

Kapitel 14

Vignette

»Ich muss dir etwas gestehen«, flüstert Anela neben mir, und verpasst mir damit einen riesigen Schrecken, der mir das Herz fast aus der Brust taumeln lässt. Heilige, ist sie völlig wahnsinnig? Es ist mitten in der Nacht und da ich nicht schlafen kann, sitze ich nachdenklich auf der Bettkante und starre auf die Flamme der Kerze, die einen beruhigenden Geruch von warmem Wachs in der Hütte hinterlässt.

Ich hatte keine Ahnung, dass sie ebenfalls wach ist.

»Was musst du gestehen?«, flüstere ich zurück und schiebe die Decke ein Stück zur Seite, um mich näher an sie heran setzen zu können.

»Ich habe vor Monaten, als ich mal wieder die Gespräche der anderen belauscht habe, erfahren, warum du so bist, wie du bist.« Wie bin ich denn? Verkorkst? Schwach? Unwürdig? Mein Herz rast immer noch und wird wohl auch nicht aufhören, denn ihre Tonlage sagt mir, dass ihre Lauschattacken nichts Erfreuliches mit sich gebracht haben. »Keanu hat auf eine Gruppe Menschen eingeredet, warum sie dir nicht mehr Achtung schenken, obwohl du dich täglich um ihr Wohlbefinden bemühst … Er hat ihnen immer wieder vorgehalten, wie unfair ihr Verhalten war, dass sie nicht einmal Danke sagen konnten oder dir anders ihre Dankbarkeit zeigten. ›Wir sind dankbar, Keanu!‹, sagten sie immer wieder, aber etwas war in ihren Stimmen zu hören. Sie brachten nur Ausflüchte, als er ihnen abverlangte, diese Dankbarkeit zu zeigen.«

Anelas Augen sind voller Traurigkeit, als sie sich neben mir aufsetzt und dann auch noch mitfühlend nach meiner Hand greift. »Irgendwann hat Keanu aufgegeben, aber nicht ohne sie vorher ordentlich als undankbare Narren zu beschimpfen. Als er weg war, sprachen sie das aus, was sie ihm und uns allen verheimlichten … Du weißt, dass du während der Welle geboren wurdest, aber du weißt nicht, dass das Meer deine Mutter und dich beschützt hat. Das Wasser hat alle fortgerissen, aber deine Mutter hat es wie eine schützende Blase umgeben … Du wurdest im Wasser geboren, mit einem blauen Mal, weil unsere Vorfahren keinen Zugang zu dir hatten.«

»Ich weiß das bereits«, hauche ich entkräftet und schließe meine Finger kräftiger um ihre. »Nicht nur du belauschst gerne andere.« Ihr überraschter Blick trifft mich und das nicht nur, weil ich ihr Geheimnis bereits weiß. Dass mein Mal blau ist, weil ich im Meer geboren wurde, habe ich wirklich schon gewusst, aber nicht, dass es an den Vorfahren der Moana liegt, denn ich habe schließlich nichts über die Moana gewusst und erst recht nicht, dass sie ebenfalls Vorfahren haben, die über sie wachen. Wenn dann wusste ich nur Lügen.

»Das bedeutet, dass die Vorfahren der Moana dir damals schon das Leben gerettet haben«, merkt sie an und nickt wissend. »Nicht nur dir, sondern auch den anderen Kindern haben sie das Leben gerettet, denn schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass keines von ihnen in all den Jahren gestorben ist.« Ich sage nichts dazu, denn das ist mir auch bewusst. »Deswegen warst du immer am Strand und hast die Nähe zum Meer gesucht und stundenlang auf die Wellen gestarrt, obwohl niemand anderes es wagte, dem Ozean so nahe zu kommen. Irgendwie ist das Meer ein Teil von dir. Zu Beginn des Krieges, folgte eine Welle nach der anderen und brachte so vielen Menschen den Tod. Du und deine Mutter mitten unter ihnen, die Einzigen, denen das Meer nicht geschadet hat. Dein blaues Mal hat die Menschen immer wieder daran erinnert, wie anders du warst!«

Hilflos blicke ich mit gesenktem Kopf zu ihr auf. »Sie haben mich dafür verachtet, dass ich überlebt habe, während andere den Tod gefunden haben.«

Anela nickt und senkt den Blick auf unsere ineinander verschränkten Hände. »Schon als Kind hast du dir von Norbu nichts sagen lassen und alles, was andere einfach hingenommen haben, hinterfragt. Einige verdrehten die Augen bei deiner Frechheit und andere zollten dir Respekt dafür, aber dein blaues Mal hat dich weiterhin zu einer Außenseiterin deklariert. Dann als du die Weggefährtin wurdest und anfingst, dich wie eine Anführerin zu verhalten, haben sie es zugelassen, denn du hast keine sinnlosen und unnötigen Befehle gegeben und auch ansonsten die Menschen nicht ignoriert, wie Norbu. Du hast ihnen gezeigt, dass du an ihnen interessiert warst. Du hast mit ihnen Scherze gemacht, sie aufgeheitert und mit ihnen Pläne für den Anbau unserer Nahrung gemacht. Du hast dich auf die gleiche Stufe mit ihnen gestellt.«

»Trotzdem haben sie mich mit Füßen getreten!«

»Ja«, sagt sie leise und lässt sich dabei in die Kissen zurückfallen, ohne meine Hand loszulassen. »Und du hast jedes Recht, es ihnen zu verübeln und ihnen vor die Nase zu reiben, wenn der Krieg beendet ist und wir wieder zu Hause sind.« Anela grinst. »Zeig ihnen, dass du trotz ihrer Kaltschnäuzigkeit ein ehrbares und tapferes Mädchen bist, das es geschafft hat, den Krieg zu beenden. Zeig ihnen, dass es deiner impulsiven Art und deiner Unverschämtheit, die sie so sehr verachten, zu verdanken ist, dass die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Und zeig ihnen, dass sie dich für dein blaues Mal bewundern und nicht missachten sollten.«

Ich nicke schlicht, denn ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Anela bemerkt meine über die Maßen reichende Traurigkeit und setzt sich sporadisch wieder auf. »Es gab aber auch viele, die dir ihre Dankbarkeit gezeigt haben«, fügt sie an. Ihre Augen beginnen zu leuchten. »Alleine dass sie dich um Hilfe gebeten haben und nicht jemand anderen, hat doch eigentlich gezeigt, wie sehr sie dich, deine Meinung und deine Hilfe schätzten.«

Zweifelnd sehe ich sie an. Das ist ein lachhaft geringschätziges Zeichen von Dankbarkeit.

»Immer wenn ein Kind das Licht der Welt erblickt hat, haben alle darauf gewartet, dass du eine der Geburtsblumen pflückst und sie zum Andenken an diesen Tag trocknest. Und erst, wenn du deine Stirn gegen die des Neugeborenen gedrückt und Willkommen im Paradies zu den Kleinen gesagt hast, haben sie die Feier begonnen. Es war ein Ritual, Nayla. Ein Ritual, dass ohne dich keinen Wert gehabt hätte.«

Es ist so, wie Anela sagt. Ich habe einmal durch einen Streit mit Norbu die Geburt eines kleinen Ho’oulu verpasst und alle haben darauf gewartet, dass ich kam, um das Baby willkommen zu heißen. Ich hatte mich tausendfach entschuldigt, aber niemand war mir böse gewesen.

»Und weißt du noch, als Tia’ku das erste Mal diese unvergleichlich köstlichen Orangen gezaubert hat? Er hat niemanden probieren lassen, bis du nicht davon gekostet hast. Allein deine Anerkennung hatte ihn so stolz gemacht. Er hat über das ganze Gesicht gestrahlt und sogar Tränen vergossen, als du über die Insel gebrüllt hast, dass er die süßesten und saftigsten Orangen der Welt erschaffen hat. Alle kamen angerannt, haben sie probiert und ihn gelobt, aber sein Blick wich die ganze Zeit nicht von dir und seitdem du ihn und seine Arbeit vor Norbu verteidigt hast, weil er ihn für eine andere Arbeit einteilen wollte, hat er dich vergöttert.«

Ich bemühe mich, die Tränen zurückzuhalten. Meine Lippen kräuseln sich und ich fächere mir mit der Hand Luft zu, in der Hoffnung, dass sie trocknen, bevor sie mir aus den Augen rollen.

»Ich könnte dir noch hundert andere Dinge aufzählen, Nayla. Natürlich wiegt es nicht auf, dass sie es noch deutlicher hätten zeigen können, dennoch ändert das vieles, oder nicht?«

Ich nicke heftig. »Das ändert vieles!«, bestätige ich und fächere mir weiterhin Luft zu. »Ich habe es, ehrlich gesagt, nie aus diesem Blickwinkel gesehen.« Und mir wird klar, wie recht sie damit hat. An dem Tag, an dem ich Anela verlor, überwanden schließlich Hunderte von Menschen ihre Angst vor dem Ozean und übergingen die Befehle ihres Anführers, nur um mir zu helfen und um mir beizustehen. Das haben sie für mich getan. Für mich. Nicht für jemand anderen.

Anela grinst. »Soll ich dir die anderen auch noch aufzählen?« Ich nicke vorsichtig und durchlebe die nächsten Stunden abwechselnd mit Lachen und Tränen.