Wir sitzen auf der Lichtung der Kinder und mischen uns unter die Leute, damit sie sich an meinen Anblick gewöhnen und lernen, mich zu tolerieren. Die Erwachsenen fürchten mich immer noch und trauen mir nicht über den Weg, aber ihnen begegne ich zum Glück nur, wenn ich auf den anderen Lichtungen bin. Mit den kleineren und jüngeren Moana hingegen verstehe ich mich prächtig. Die Jugendlichen sind zwar nicht mehr ganz so argwöhnisch und von meiner Erscheinung eingeschüchtert, weil ich bei Maleko einen Stein im Brett habe, aber locker ist unser Verhältnis deshalb noch lange nicht.
Die Gespräche enden bei unserer Einkunft abrupt, werden aber nach einiger Zeit wieder gedämpft aufgenommen. Noa und Mitira geben sich Mühe, belanglose Unterhaltungen mit mir zu führen und die Blicke der anderen zu ignorieren. Richtig konzentrieren kann ich mich aber nicht, weil sich Paco und Thien in einiger Entfernung mit ein paar der Kinder beschäftigen und sie bei Laune halten.
Ich weiß ja, dass Paco Anela gerettet und sich die ersten Tage hier hauptsächlich alleine um sie gekümmert hat, aber ich kenne nur Pacos grobe Seite, welche derbe einschüchternd sein kann. Ihn so sorglos und kindisch und freundlich zu sehen, ist ein befremdlicher Anblick und dass er einfühlsam genug sein kann, um sich Anela anzunehmen, ebenfalls. Auch wenn Anela mich dank ihrer Lauschattacken schon darüber aufgeklärt hat, dass Paco früher nicht so war, wie er heute erscheint und alles andere als ein knallharter Kerl war. Was jedoch der Grund für seine Veränderung ist, war ihr beim Lauschen verwehrt geblieben.
Ich sehe nun dabei zu, wie er aufsteht und zu Anela schlendert, die etwas abseits steht und schlicht alle beobachtet und mal wieder Gespräche belauscht. Er versucht, sie zu überreden mitzuspielen, aber Anela schüttelt schlicht den Kopf. Ich beiße die Zähne zusammen, als der Riese sie dann packt, über seine Schulter wirft und mit ihr zwischen den Kindern hin und her hüpft, die irgendwelche Lieder und Reime singen. Ich will gerade aufstehen und ihm die Fresse polieren, als ich sehe, dass Anela rot anläuft und schallend loslacht.
»Ich würde euch auch gerne mal kämpfen sehen«, merkt einer von den Moana an und reißt mich aus meiner Beobachtung und meiner Wut. »Die Leute sagen, dass es echt heftig war.«
Noa wackelt vieldeutig mit den Augenbrauen, als ich ihn ansehe. Dann drehe ich mich zu dem Moana um, der mich angesprochen hat. »Das kriegen wir bestimmt hin, denn Noa lässt sich so gerne von mir auf den Boden werfen.« Mitira neben mir kichert, täuscht aber dann ein Hüsteln vor, denn dieser Witz – den keiner außer uns spaßig findet – bringt niemandem zum Lachen.
Während der kurzen Worte gilt alle Aufmerksamkeit uns, aber danach werden wir wieder bewusst ignoriert.
Mein Blick fliegt zurück zu Paco und meiner Schwester. Anela steht inzwischen auf ihren eigenen Beinen und versucht abzuhauen, Paco aber pfeift ihr hinterher. Natürlich ist Anela kein Köter und streckt ihm als Antwort schlicht die Zunge heraus. Diese Geste ist wie eine Einladung, weshalb er auf sie zuläuft, sie einfängt und dann heftig durchkitzelt. Der Anblick wurmt mich, weil sie vor Lachen in Tränen ausbricht und ihr Lächeln ihm gegenüber so ehrlich ist.
»Das ist gemein! Du bist viel stärker!«, entnehme ich ihren Lippen, als sie sich wieder aufrichtet und die verschwitzen erdbeerroten Strähnen mit einem dicken Grinsen aus dem Gesicht streicht.
»Wenn du Verstärkung brauchst, dann ruf doch Hoku!«, schlägt Paco neckend vor, der abwartend die Hände in die Seiten stemmt.
»Ich kann aber nicht pfeifen und außerdem hört er nie auf mich. Du musst ihn rufen! Vielleicht hast du ja Glück.«
Anstatt zu tun, was sie vorgeschlagen hat, bietet er ihn an, ihr das Pfeifen beizubringen. Anela sieht ihn überrascht an. Mir geht es genauso. Er will ihr etwas beibringen? Einfach so? Anela hat nie jemandem die Gelegenheit dazu gegeben, Sympathie für sie zu entwickeln, da sie gerne für sich bleibt. Immer nur hat sie die Menschen belauscht und sich nur mit anderen unterhalten, wenn sie dadurch mehr Wissen erlangen konnte. Zwar versteht sie sich mit Atréju gut, aber das auch nur, weil er sich über Jahre hinweg um sie bemüht hat. Ansonsten lässt sie kaum einen an sich heran. Selbst mit Kindern in ihrem Alter und welchen, die jünger sind, kann Anela nicht wirklich etwas anfangen. Anfangs hat sie jeder zum Spielen eingeladen, aber da sie sie immer abgewehrt hat, hat irgendwann niemand mehr gefragt.
Anela hat zwar vorgehabt, baldmöglichst die anderen Kinder zu unterrichten, aber das zugegebenermaßen nur, um all ihr Wissen weiterzugeben.
Ich bemerke kaum noch, dass ich umringt von so vielen Menschen bin, denn meine Augen verfolgen nun, wie Paco Anela das Pfeifen beizubringen versucht. Ihre Unsicherheit ist selbst aus dieser Entfernung zu sehen. »Hier, stecke dir Daumen und Zeigefinger, die du vorher zu einem Kreis zusammenlegst, zwischen die Lippen!«, erklärt Paco ihr nun. »Die Rückseite der Zunge muss dagegen stoßen, damit ein Ton entsteht.« Mit roten Wangen versucht Anela seinen Worten Folge zu leisten, aber mehr als Spucke kommt nicht dabei heraus. Anela ist diese Situation mehr als peinlich, das kann ich ihr nur zu gut ansehen.
Paco aber bleibt ernst und ermuntert sie, es noch einmal zu probieren. Aber dann fängt er an, Fratzen zu schneiden und Anela zum Lachen zu bringen. Sie kichert wie blöd und dann, als sie es noch einmal probiert, ist sie in seiner Anwesenheit so entspannt, dass ein leises Pfeifen zwischen ihren Zähnen und Finger erklingt. Pacos Augen strahlen mit der untergehenden Sonne um die Wette. Sein Lächeln ist schockierend, da ich ihn mir in einer freundlichen Variante gar nicht vorstellen konnte. Sein ganzes Erscheinungsbild wirkt wie ausgewechselt. Von einem knallharten Krieger kann im Moment nicht mehr die Rede sein. Was beim Wanderplaneten, ist passiert, dass er solch massiv verschiedene Seiten hat?
Meine Augen gleiten weiter zu Thien, der auf dem anderen Ende der Lichtung mit den Kindern Fangen spielt und dessen blaues Auge nur schwach zu erkennen ist. Aus der Entfernung kann ich sein glockenhelles Lachen nicht hören und ich bin so versucht, aufzuspringen und mich ihnen anzuschließen, dass meine Beine anfangen zu zittern, nur weil ich mich danach sehne, dieses Geräusch mit meinen eigenen Ohren hören zu können. Ich kann meine Augen nicht von seinem Gesicht nehmen, in denen sich seine Lippen immer wieder zu einem Lächeln verziehen. Er rennt hin und her. Schnappt nach den Kindern, aber hält im letzten Moment inne, um sie gewinnen zu lassen. Wenn er dran ist, läuft er, was das Zeug hält. Er schlittert über den sandigen Boden, sucht Schutz hinter den anderen. Einmal macht er eine so abrupte Kehrtwende, um dem Fänger zu entgehen, dass er das Gleichgewicht verliert und zu Boden stürzt. Er bleibt einfach liegen und hält sich den Bauch vor Lachen. Dann springen die anderen Kinder auf ihn und begraben ihn unter sich.
Sein Bein verursacht ihm kaum noch Schmerzen und die Rötungen sind abgeklungen. Nun sieht es immer mehr wie ein ausgefranster Blitz aus, jedoch um einiges größer und feingliedriger als normal. Irgendwie wunderschön. Ich schätze, selbst wenn er Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen hätte, Schuppen, Kiemen oder Haifischzähne, dann würde ich ihn wunderschön finden.
»Erzähl uns etwas von dir, Mädchen aus dem Paradies«, reißt mich nun E’katarina aus meiner Beobachtung. Als ich mich umwende, merke ich, dass mich jeder stumm anblickt und ich selbst ein Lächeln im Gesicht habe, welches sofort verschwindet. Jeder hat mich dabei beobachtet, wie ich Thien angehimmelt habe, verdammte Axt. Dümmer kann man sich gar nicht anstellen.
Ich verbanne Thien und Paco aus meinem Kopf und versuche in E’katarinas Augen zu ergründen, wie sie zu mir steht. Ob sie immer noch sauer ist und sich immer noch von Eik beeinflussen lässt. »Woher hast du die ganzen Narben?«
Vom Training, welche darauf ausgerichtet war, euch zu vernichten, kleine Moana. »Die Narbe an der Wade ist von Hoku, weil wir beim Toben nicht aufgepasst haben«, erkläre ich und deute auf die jeweilige Stelle. »Die kreisrunden Narben an meiner Schulter, sowie an meinem Oberschenkel habe ich von Nunuis. Die eine an der Stirn und sechs weitere Narben habe ich von euren Flutwellen, wo ich meistens mit einem Baum oder anderen Dingen zusammen gekracht bin. Alle anderen Narben habe ich mir bei Kämpfen zugezogen.«
Meine Hände sehen am schlimmsten aus, da eine der wichtigsten Lektionen war, die Klingen abzufangen, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten.
»Was waren das für Kämpfe?«, fragt eine fremde Moana. Ein anderer erkundigt sich, was eine Nunui ist. Ich halte kurz inne und überlege, welche Frage ich zuerst beantworten soll. »Eine Nunui ist eine fleischfressende Pflanze, die sich unglaublich gut tarnen kann und so groß ist wie ein Baum. Zwei Menschen könnte sie gleichzeitig in ihr Maul reißen und wenn man ihr erst einmal gegenübersteht, hat man eigentlich keine Chance mehr. Mit ihren purpurfarbenen Schnappfallen kann sie einem die Haut abreißen und einem die Knochen brechen, aber am gefährlichsten ist ihre Säure, die aus ihrem Maul tropft und die ihre Opfer schwächen soll … Die Säure frisst sich durch Haut und Knochen, wenn man nicht schnell genug an das Gegenmittel kommt, welches in der Erde, zwischen ihren steinharten Wurzeln in einer Knolle zu finden ist.«
Alle staunen bei meinen Worten. Die Pflanzenwelt des Ozeans ist ihnen bekannt, aber die Natur an Land ist ihnen allen fremd. Von so einer riesigen und heimtückischen fleischfressenden Pflanze zu hören, ist sicher spektakulär. Ihr gegenüberzustehen aber noch viel mehr. Wenn sie einen erst einmal entdeckt hat, ist es nämlich schon zu spät. Ihre Tarnung – wie gesagt, sieht sie aus wie ein normaler Baum – verschwindet und ihre Blätterkrone senkt sich, wodurch man ihren gigantischen Schnappfallen auch schon gegenübersteht. Sie sind so groß wie Palmenblätter, kräftig wie ein Elefant. Manchmal sehe ich sie in meinen Albträumen und wenn ich aufwache, ist ein Ziepen in den alten Narben zu spüren.
»Und was waren das nun für Kämpfe?«
Neugierig liegen nun all ihre Blicke auf mir. Niemand ignoriert mich mehr. »Uns wurde beigebracht, wie wir uns ohne unsere Macht verteidigen können«, erkläre ich. »Es waren harte Kämpfe und es wurde keine Rücksicht genommen, aber dadurch wurden wir gut. Keiner wollte mehrmals die Woche eine Tracht Prügel beziehen, also übte man mehr und mehr, Tag und Nacht, Woche für Woche. Es stachelt einen an, immer besser zu werden und diese Taktik hat bestens funktioniert. Ich war acht Jahre alt, als ich meinen ersten Kampf hatte … Ich habe tagelang vor Schmerzen geheult und gehofft, dass sie Mitleid mit mir haben würden, aber das hatten sie nicht. Ich musste wieder kämpfen, habe noch mehr geweint und sie angebettelt zu warten, bis ich älter bin. Beim nächsten Mal war ich so voller Furcht, dass ich nicht mal mehr versucht habe, mich zu wehren.«
Ich breche kurz ab, als Anela sich freudestrahlend neben mir zu Boden fallen lässt und mir einen Apfel reicht. Ich berge ihn in meinem Schoß und hüte ihn wie ein Neugeborenes, schließlich bleibt von ihm nur Staub und Asche übrig, wenn er mir aus Versehen aus der Hand fallen sollte. »Die Schmerzen an dem Abend waren so schrecklich, dass ich sterben wollte, aber ich habe nicht aufgegeben. Am nächsten Tag habe ich mir geschworen, dass es nie wieder so weit kommen würde und hab sofort angefangen, zu trainieren. Von Mal zu Mal wurde es einfacher. Ich hatte weniger Wunden, weniger Schmerzen. Irgendwann habe ich dann, anstatt die Attacken nur abzublocken, angefangen, zurück zu schlagen. Monate später landete mein Gegner zum ersten Mal auf den Boden und alles änderte sich plötzlich. Ich wollte besser werden, neue Taktiken lernen und nie wieder einen Kampf verlieren.«
Während meiner Worte haben sich nun auch noch Paco und Thien mit in die Runde gesetzt und lauschen meinen Worten genauso wie die anderen Moana.
»Hast du danach noch einmal verloren?«, fragt Zoa, Anelas Wache.
»Natürlich. Hunderte Male, sogar«, lache ich. Die Moana sehen mich weiterhin neugierig an. Ist ihnen immer noch nicht klar, dass wir das Kämpfen nur erlernt haben, um sie zu vernichten, oder verdrängen sie das völlig?
»War Norbu euer Trainer?«, fragt der nächste, dem ich sofort ein Kopfschütteln entgegenwerfe.
»Das wäre Norbu zu viel Aufwand gewesen, welchem er immer gekonnt aus dem Weg ging, und dies ist eines der wenigen guten Dinge an ihm, denn dadurch bekamen wir den besten Lehrmeister überhaupt: Litu. Er arbeitete zielgerichtet und ging hart mit uns um, aber er war sehr weise und unverzichtbar.«
Ich denke, jeder merkt den Unterschied, wenn ich von Litu spreche oder von Norbu. Der Ton in meiner Stimme könnte nicht gravierender sein. Die Wut, die sich deutlich mit untermischt, kann ich kaum verbergen. »Ungefähr einmal im Monat gesellte sich Norbu dazu, um zu sehen, wie unser Training ablief und ob wir gut genug sind, um seines Erachtens nach, die besten Krieger zu sein. An diesen Tagen mussten wir die Waffenattrappen gegen Richtige tauschen und durften uns nicht zurückhalten. Wir deuteten also nicht nur an, jemanden den Arm zu brechen, sondern mussten ihn brechen. Wir hielten die Klinge nicht gegen die Haut, sondern stachen damit zu. Es sei denn, die Klinge war gegen eine Brust oder gegen eine Kehle gerichtet, dann hielten wir uns natürlich zurück.«
Dutzende Blicke richten sich nun erneut auf meine Narben, aber ich kann damit umgehen. Die Narben sind nicht nur auf der Haut, sondern auch auf meiner Seele, aber das ist zum Glück nicht ersichtlich.
»Mit einem Mädchen, das so klein ist wie Nayla, werde ich allemal fertig«, höhnt Zoa und grinst mich breit an. Die Moana um uns herum lachen angespannt, denn ich bin ihnen immer noch nicht geheuer, was nur verständlich ist. Ich kann ein echtes Pulverfass sein.
»Dann lass es uns doch ausprobieren, Moana«, biete ich ihm augenzwinkernd an. Ein Raunen geht durch die Menge, als wir uns erheben, nur Noa und Anela grölen los.
Ich beuge mich zu meiner Schwester herunter und drücke meine Stirn kurz gegen ihre. Dann überreiche ich ihr den Apfel, den sie genauso fest in ihrer Hand birgt, wie ich zuvor. »Mach ihn fertig«, rät Anela mir und dafür knuffe ich sie in die Seite.