Die Enthüllung der Wahrheit

Kapitel 32

Vignette

Meine Erwartungen, wie die Sache hier ablaufen wird, schlagen ins Nichts.

Das war nicht in meinem Plan vorhergesehen. Es war gar nichts in meinem Plan vorhergesehen, da er unvorhersehbar war. Das einzige, was ich von vornherein wusste, war, dass unser Feind nicht durch meine Hand sterben darf. Nicht so lange die Moana nicht völlig darüber im Klaren sind, welcher Täuschung sie so lange unterlagen.

In Sekundenschnelle nehme ich jedes noch so kleine Detail in mich auf und kalkuliere, wie wir wieder heil aus dieser Situation herauskommen können. Ich sehe die breite Schlucht. Den trockenen und leblosen Boden um uns herum. Die baufälligen Hütten. Die schlafenden Moana. Das Messer an Anelas Kehle. Die Hand, die sich in ihr Haar krallt. Mein eigenes Messer an meiner Hüfte. Die leblose Lichtung, die mir keine Hilfe ist, mit meiner Macht einen guten Schlag zu vollbringen.

Verdammt!

Ich schätze, diese Schlacht habe ich verloren, bevor sie angefangen hat.

Die Kraft weicht ein wenig aus meinem Körper. Meine angespannten Schultern sacken herab. Mein überlegenes Grinsen verschwindet aus meinem Gesicht, denn egal, was ich tue, Anela würde dabei auch Schaden davontragen und dieses Wagnis gehe ich nicht ein. Niemals. »Was verlangst du für ihre Freilassung?«

Wieder ein Ausdruck der Gleichgültigkeit auf dem verhassten Gesicht. »Es gibt nichts, was du mir geben könntest, damit ich sie freilasse.«

»Wie wäre es, wenn Anela und ich zurückgehen und Norbu einfach töten, aber danach trotzdem alles beim Alten bleibt«, schlage ich vor. »Niemand muss hiervon erfahren. Niemand weiß, was ich weiß, und wenn es sein muss, nehme ich mein Wissen mit in den Tod und niemand wird je erfahren, was wirklich hinter all dem steckt.«

Ein zorniges Knurren ist aus der Hütte neben uns zu hören und dann ein heftiges Krachen und Knacken, welches die Aufmerksamkeit von mir ablenkt, weil Noa geschnallt hat, dass nicht alles nach Plan verläuft und wir uns nun etwas Neues einfallen lassen müssen. Der Krach schallt über die stille Lichtung und als das ohrenbetäubende Zerbrechen der Wurzeln nachlässt, tritt Noa aus der Hütte und überblickt kurz die Situation. Dann schenkt er unserem Feind ein Grinsen. »War echt eine aufschlussreiche Unterhaltung.«

Während er auf mich zukommt und sich neben mir postiert, bleibt mein Blick auf die Hütte gerichtet, wo nun langsam Kasi zwischen dem Vorhang erscheint, der vom Staub der versteinerten Wurzeln bedeckt ist, die Noa eben zerschlagen hat. Hätte ich mit Anela nicht in den letzten Tagen so viel geübt, damit sie diese innere Barriere überbrückt, welche sie davon abhält ihre Macht einzusetzen, dann hätten wir es heute nicht so weit gebracht. Da sie aber so stur ist wie ich, hat sich all das Training gelohnt. Während ich die Schlafwerfer über die Lichtung habe aufblühen lassen, hat sie die drei Anführer mit Wurzeln in Ketten gelegt und ihre Münder und Nasen mit großen Blättern überdeckt, damit die Sporen sie nicht einschläfern. Noas Aufgabe war es, die Luft so lang wie möglich anzuhalten und dafür zu sorgen, dass die Anführer keinen Mucks von sich geben, damit sie alles mitanhören können.

Nun, wo ich Kasi erblicke, kann ich gar nicht beschreiben, was das für Gefühle sind, die in seinem Gesicht nacheinander aufflackern, während sein Blick über unseren Feind gleitet, der einem wehrlosen Kind eine Klinge an den Hals setzt. Mein Wortschatz reicht nicht aus, um das zu beschreiben. Worte wie Wut und Zorn, wie Unverständnis und Fassungslosigkeit können dem nicht gerecht werden. »Du hast versucht, sie zu vergiften?«

Hinter ihm erscheint Paco, der einfach nur verwirrt dreinblickt. Hinter ihm dann Thien, der sich an den beiden vorbeischiebt, während er sich den Staub von der Hose klopft. »Was hat das alles zu bedeuten?«

Mittlerweile ist so viel Zeit vergangen, dass die Wirkung der Schlafwerfer langsam nachlässt. Die ersten regen sich schon, auch wenn ihre Augen noch geschlossen sind.

Als unser aller Feind das sieht, bin ich nicht schnell genug. Innerhalb von Millisekunden sprießen neue Schlafwerfer aus der Erde. Noa und die anderen halten die Luft an, aber bevor die Köpfe platzen und sie die Sporen in die Luft streuen können, explodiert meine Wut in mir und ich entziehe der Erde ihre Kraft. Bin nun selber diejenige, die der Natur ihren Atem raubt. Schmerz schießt durch meinen Körper und meinen Schädel. Ich gehe in die Knie, japse nach Atem. Die Verbindung bricht zu schnell ab und ich sacke auf alle Viere, bemühe mich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Die Schwärze und die Leere sind in mir. Sie kriechen durch meine Venen und lassen mein Blut stocken. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen und meine Lunge ist erfüllt von Gift.

»Lass sofort das Kind los, Bhanuni!«, faucht Kasi, während Noa mich auf die Füße zerrt und mich festhält, damit ich nicht erneut zusammensacke. Dennoch muss ich in diesem Moment würgen und Noa geht mit mir in die Knie. »Und sag uns endlich, was das alles soll!«

Wie hat die alte Schabracke es nur über die Jahre hinweg ausgehalten der Natur die Kraft zu entziehen? Ich tue es gerade zum ersten Mal und fühle mich als hätte ich dem Tod höchstpersönlich die Lippen auf den Mund gedrückt.

»Verstehst du immer noch nicht, dass sie eine Gefahr für uns ist?« Bhanunis Stimme klingt besorgt und ängstlich. Sie zerrt heftiger an Anelas Haaren. »Sie wird uns nicht helfen. Sie ist ein verräterisches Miststück.«

Noa hilft mir wieder auf und lacht laut. »Das hat aber alles noch ganz anders geklungen, als wir in der Hütte waren und alle deinen Worten lauschen konnten«, erwidert Noa lässig. »Vielleicht solltest du langsam mal mit der Wahrheit herausrücken.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass mein jetziges Leiden wenigstens etwas gebracht hat, denn die Schlafwerfer hatten nicht die Zeit, zum Einsatz zu kommen. Die Moana auf der Lichtung kämpfen sich auf die Füße und blicken sich verwirrt um. Dann fällt ihr Blick auf mich und das nicht gerade freundlich, weil sie denken, dass ich die Böse hier bin und sie wieder einmal in Tiefschlaf versetzt habe. Dann aber, als sie Bhanuni sehen, die Anela eine Klinge an die Kehle hält, treffen die wütenden Blicke sie.

Ich denke konzentriert nach. Ich muss sie provozieren, muss ihr die verräterischen Worte entlocken, mit denen sie sich ins eigene Fleisch schneidet. Die Worte müssen aus ihrem Mund kommen. »Wie hast du diese Schmerzen nur so lange durchgehalten?«, keuche ich und blicke zu Bhanuni hoch. »Kein Wunder, dass du aussiehst wie der Tod.«

Bhanunis Macht knallt ungehindert durch die Erde, direkt auf mich zu. Wie ein Vulkan explodiert der Boden unter mir. Noa und ich fliegen meterhoch durch die Luft, umgeben von Geröll und Sand, der einem jegliche Sicht nimmt. Das Krachen hört man auf der ganzen Insel.

Ich mache mich auf den Aufprall gefasst, der uns wahrscheinlich sämtliche Rippen brechen wird, aber zu meiner Überraschung landen wir auf einem dicken Bett aus Moos. Nebel und Regen aus Sand umgeben uns und Noa und ich können kaum atmen, noch etwas sehen. Meine Hand greift blind durch den Dreck, dann berühren Noas Fingerspitzen meine. Sein erleichterter Seufzer ist eine Wohltat für mich.

Sobald sich der Regen aus Staub langsam legt, blicke ich mich um und erkenne die Massen an Menschen, die sich inzwischen um uns aufgereiht haben und sich als Zielscheibe bereit machen, weil ihre Neugier zu groß ist. Einige von ihnen blicken stumm und verstört auf die Szenerie, andere vergießen jetzt schon Tränen, dabei ist noch gar nicht viel passiert. Andere greifen zu ihren Waffen und blicken zwischen mir und Bhanuni hin und her, weil sie keine Ahnung haben, wer im Moment die größere Gefahr ist.

Anela, die immer noch in Bhanunis Griff hängt, wagt ein kurzes Lächeln, weil Noa und ich ihr die weiche Landung zu verdanken haben, dann aber zieht Bhanuni so kräftig an ihren Haaren, dass sich ihr Gesicht vor Schmerz verzieht.

Meine Finger ballen sich zu Fäusten und damit stemme ich mich auf die Beine. Nicht einen Moment lang kann ich meine Finger entspannen.

»Sie ist nicht so eine große Gefahr, dass du unsere Lichtung in ein Schlachtfeld verwandeln musst«, wendet nun Paco ein. Obwohl er wütend ist, ist er seiner Mutter gegenüber kein muskelbepackter Bär, sondern eher ein Küken, das leise fiepst. »Außerdem hat Anela nichts getan und als Kind steht sie unter unserem Schutz. Lass sie gehen!«

Kasi geht langsam auf Bhanuni zu. Ein winziger Schritt vor, dann wartet er ab, wie sie reagiert. Dann wieder einen Schritt vor. »Er hat recht, lass Anela los! Wenn du etwas gegen Nayla vorzubringen hast, dann sag es uns, aber gefährde nicht die unseren.«

Bei seinem nächsten Schritt drückt Bhanuni drohend die Klinge fester an Anelas Hals und schreit ihn an. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass sie sterben muss, weil sie sonst alle in Gefahr bringt.«

In mir zerbricht die Vorsicht, als ich sehe, dass die Klinge Anelas Haut verletzt und Blut über ihren Hals nach unten tropft. Die Erde platzt neben mir auf. Ranken schießen daraus hervor und schießen auf die Anführer zu. Wie Schlangen auf der Jagd eilen sie über den Boden und wickeln sich schließlich um Thien, weil er mir am nächsten steht. Von den Knöcheln, weiter aufwärts, immer höher, bis sie sich um seinen Hals schlingen. Er versucht, sich gegen den Griff zu wehren, aber er hat keine Chance und verfällt in Panik.

»Wenn du Anela nichts sofort loslässt«, fauche ich, wobei mir Spucke aus dem Mund fliegt. »Dann breche ich ihm das Genick. Das schwöre ich beim Wandel unserer Vorfahren!«

Argwöhnisch liegt Bhanunis Blick auf mir, dann aber schüttelt sie überheblich den Kopf. »Du würdest deinem Iho Partner nichts zu leide tun, denn das kannst du mit deinen Gefühlen für ihn gar nicht. Die Segnung ist viel zu stark.«

Ich gehe die wenigen Schritte auf ihren Sohn zu und ziehe das Messer aus meinem Gürtel. Ich wiege es kurz in der Hand und schlage dann den Griff mit voller Wucht gegen Thiens Schläfe. Thiens Beine würden unter ihm einknicken, wenn die Wurzeln ihn nicht so fest im Griff hätten. Ich spüre es mit jeder Faser meiner Macht, welche in den Ranken steckt.

Bhanuni schreit auf. »Nimm sofort deine Finger von meinem Sohn!«

Berechnend sehe ich Bhanuni an und ignoriere Thiens schmerzverzerrtes Gesicht. »Für meine Schwester würde ich die Welt in Flammen aufgehen lassen, daran ändert nicht einmal diese bescheuerte Segnung etwas, also sieh zu, dass du deine dreckigen Finger von ihr nimmst!«

Bhanuni ist während meiner Vorführung erstarrt und sieht nun überrascht auf Thiens Wunde, die es echt in sich hat, da ich ziemlich heftig zugeschlagen habe. Zwei Finger breit ist die Haut aufgeplatzt. Das Blut strömt wie Wasser heraus, tropft über sein Gesicht, seine Schulter und dann auf die Ranken.

Nun mischt Kasi sich wieder ein. Wirklich näher gekommen ist er Bhanuni immer noch nicht. Und wirklich handeln tut er auch immer noch nicht. Sein Gesicht wirkt immer noch verstört und fassungslos. Nicht wütend und zornig, wofür ich ihm in diesen Moment wahrhaftig verabscheue. Denkt er, dass ist nur ein mieser Traum und hofft, jeden Moment aufzuwachen? Handle endlich, Kasi! »Nayla und Bhanuni, hört beide sofort auf, oder ihr verdient beide die Verbannung dafür, dass ihr andere in Gefahr bringt.«

Ich straffe die Schultern wieder. Bhanuni und ich haben Gleichstand. Wir beide ignorieren Kasis unbedeutende Worte. »Lass meine Schwester frei und ich lasse deinen Sohn frei.«

Nach einer Weile lässt Bhanuni endlich ein Nicken erkennen. Anscheinend ist ihr klar geworden, dass sie meine Liebe zu Anela falsch eingeschätzt hat. Wie hätte sie auch ahnen können, wie tiefgründig meine Gefühle für das sommersprossige Mädchen sind? Dass die Seelenliebe in dem Vergleich, keinerlei Bedeutung hat, weil es nichts Wichtigeres als Anela gibt? Auch wenn in Bhanunis Leben kaum etwas Bedeutung hat, so weiß ich wenigstens, dass sie eine einzige Schwachstelle hat. Thien und Paco.

Bhanuni entlässt Anela aus ihren Klauen und tritt einen halben Schritt zurück, wobei jedoch immer noch die Klinge an Anelas Hals liegt. Ich hebe das Messer und halte die Klinge an Thiens Hals, während sich die Ranken langsam von ihm lösen und wieder in der Erde verschwinden.

Anelas Brustkorb hebt und senkt sich hektisch, aber trotzdem ist ihr Kinn erhoben, und nicht ein Anzeichen der Angst hat sich in all den letzten Minuten auf ihrem Gesicht gezeigt. Ich bin so stolz auf sie.

Paco hebt seine leeren Hände in die Luft, hält sie erhoben und geht langsam auf Bhanuni zu. »Ich komme jetzt und hole Anela«, erklärt er, um sie nicht zu verschrecken, aber Bhanunis Blick liegt nur auf mir. Langsam geht er an seinem Vater vorbei, der nicht zu Handlungen fähig ist. Als er bei Bhanuni anlangt, entwendet er ihr das Messer aus den Fingern und wirft Anela dabei einen beruhigenden Blick zu. Bevor er sie jedoch in Sicherheit bringen kann, lässt das kleine Mädchen ihren Ellbogen nach hinten sausen und verpasst Bhanuni einen Schlag in den Magen. Noch während die anderen realisieren, was sie getan hat, dreht sie sich zu Bhanuni um, winkelt ihr Bein an und verpasst ihr einen so heftigen Tritt gegen das Knie, dass die Spannung in Bhanunis Körper nachlässt, weil er nur auf den Schmerz und die Wucht des Aufpralls gerichtet ist. Sie knallt ungehindert auf den Boden.

Anela dreht sich blitzschnell wieder um. Ihre Haare wirbeln bei den Bewegungen um ihren Kopf, dann stemmt sie ihre Füße in den Boden und rennt so schnell, dass Staub aufgewirbelt wird. Als sie neben mir zum Stehen kommen will, schubse ich sie gleich weiter, aber Anela wehrt sich aus meinem Griff und schüttelt den Kopf, weil sie sich nicht aus dem Kampf heraushalten will.

Ich drehe mich zu Noa um und er nickt mir sofort zu, rennt die wenigen Schritte zu ihr. Anela, die sofort um sich tritt und sich in seinem Griff wehrt, schmeißt er sich über die Schulter und verschwindet mit ihr zwischen den Massen der Moana. Ihre gellende Schreie und Fausthiebe auf seinen Rücken begleiten jeden seiner Schritte.

»Ich werde dich umbringen!«, faucht Bhanuni und dabei vibriert die Erde um uns herum. Sie rappelt sich auf und verzieht dabei nicht einmal das Gesicht.

»Alle runter!«, schreie ich und erschaffe eine breite Wand aus Wurzeln, die sich ineinander verhaken, während sich Bhanunis Wurzeln wie Speere durch die Luft pflügen und sich darin versenken, wie ein Pfeil, der sein Ziel trifft. Die Menschen hinter der Wand schreien auf, als sie sehen, dass sie beinahe durchbohrt worden wären und ziehen sich endlich ein paar Schritte zurück.

»Hör sofort auf damit!«, schreit Kasi nun wutentbrannt. »Was ist nur in dich gefahren, dass du den Frieden gefährdest, den wir schon so lange herbeisehnen?«

Da die Wand uns immer noch von Bhanuni trennt, wende ich mich endlich zu Thien um. »Ich hätte meine Worte nie wahr gemacht? Das weißt du doch, oder?« Ich trete dichter auf ihn zu und untersuche flüchtig die Wunde, indem ich seine Haare beiseite schiebe. Mit zusammengepressten Zähnen packt er mein Handgelenk und verhindert die Berührung. Seine Finger drücken auf die Wunden der Gefangenschaft, welche noch immer schmerzhaft vor sich hin pochen, auch wenn schon einige Zeit vergangen ist.

»Bist du eine Gefahr für uns?«, zischt er und hält mich fest. Ich bin nicht so stark, wie ich es gerne wäre. Am liebsten würde ich ihm in den Hintern treten oder ihm einen ordentlichen Klaps auf den Hinterkopf geben, damit er endlich all die Worte und all die Taten von heute zu einem Bild zusammensetzt und erkennt, was hier abgeht. Da ich aber von vornherein gewusst habe, dass die Wahrheit zu unfassbar für die Moana und vor allem für die Anführer wird, musste ich dieses Spielchen inszenieren. Da ich also verstehe, warum die Anführer immer noch nicht kapieren wollen, was hier wirklich passiert und ich mit ihnen mitfühle, bin ich nicht so stark und verpasse ihm einen helfenden Klaps, sondern sehe ihn einfach traurig an.

»Ich habe das alles getan, um euch zu beschützen.« Bevor Thien überhaupt weiß, was geschieht, drücke ich meine Stirn gegen seine und schließe kurz die Augen. Dann rücke ich von ihm ab und schiebe ihn in die Richtung der anderen. »Bring sie von hier weg! Bring sie in Sicherheit!«

Bhanunis Macht lässt die Wand zu Boden krachen und ich drehe mich wieder zu ihr um und gehe auf Abstand zu Thien und den anderen.

In diesem Moment existieren nur noch wir beide.

»Was nun, Bhanuni? Wie soll dieser Tag enden und der morgige beginnen?«, frage ich sie und kreise sie vorsichtig ein. »Du hast gedacht, du bringst mich um und alles ist dann wieder wie vorher, aber ab nun wird nichts mehr so wie vorher sein.«

Gestehe! Sag endlich, dass du es warst, dass du das Monster bist!

Bhanuni verfolgt mich mit ihren Blicken. Stoßweise kommt ihr der Atem über die Lippen und ich habe Schwierigkeiten in ihrem ausdruckslosen Gesicht zu erkennen, was sie als nächstes vorhat. »Nicht einmal mein Tod könnte daran noch etwas ändern, denn deine heutigen Handlungen haben ziemlich viele Fragen aufgewo-«

»Halte deinen Mund!«, fährt sie mich an. »Du denkst, du bist besser als ich und stärker, aber das bist du nicht und du hättest das gleiche getan wie ich.«

Ich erstarre mitten im Gehen und brülle sie an. »Ich hätte nicht meine Familie und ein ganzes Volk hungern lassen, weil ich zu viel Angst vor den Konsequenzen meines eigenes Handelns gehabt hätte.« Ich schnaufe und kann mich kaum noch beherrschen. »Du hast sie achtzehn Jahre hungern lassen. Achtzehn Jahre lang, nur weil du Angst hattest.«

Eine unheimliche Stille herrscht mit einem mal um mich herum. »Sie kann doch nichts für den Krieg«, wendet Kasi schwach ein, auch wenn er weiß, dass Bhanuni doch einige Dinge hätte tun können, um zwischen den Ho’oulu und den Moana zu schlichten und den Krieg in irgendeiner Weise aufzuhalten. Wenn er erst einmal die Wahrheit erfährt …

Ich blicke Kasi herablassend an. »Du willst es nicht sehen, oder? Mein Volk mag blind gewesen sein, weil wir nicht durchschaut haben, dass Norbu uns belogen hat, aber ihr wart genauso blind. Bhanuni hat euch genauso an der Nase herumgeführt, wie Norbu uns.«

Die ganze Welt scheint unter dem folgenden Ausbruch von Bhanunis Macht zu vibrieren. Wir alle können uns kaum auf den Beinen halten, weil die Erde so stark bebt. Dieses Mal bin ich darauf gefasst, ziehe in einer Bewegung das Messer aus meinem Gürtel und schleudere es sofort in ihre Richtung. Zu meinem Leidwesen muss man hierzu wissen: Werfen ist eine der wenigen Dinge, die ich nicht gut beherrsche. Das habe ich auch beim Steinewerfen mit Noa schon bewiesen. Das Messer verfehlt die Verräterin und landet in der Schlucht.

Bhanunis Blick ist aber nicht auf mich, sondern auf die Meute neben mir gerichtet und auf Anela, die sich durch sie hindurch kämpft, mit einem Messer in jeder Hand. Noch im Laufen wirft sie das erste Messer, das direkt in Bhanunis Hand landet. Bhanunis Machtausbruch flaut sofort ab, bei dem Schmerz, der sich in ihrer Hand breitmacht. Das nächste Messer verfehlt Bhanuni um wenige Zentimeter und entlockt Anela einen wütenden Schrei. Zornig bleibt sie in sicherer Entfernung stehen.

Das Messer, das ich selbst noch im Ausschnitt meines Oberteils versteckt habe, ziehe ich nun heraus und schleudere es ihr entgegen. Fassungslos über mein eigenes Glück sehe ich, wie es seitlich in ihrem Bauch landet und sie zurück wanken lässt. Ungläubig blickt sie zuerst auf den Griff des Messers, welches aus ihrer Haut herausragt, dann auf mich. Dann fliegt ihr Blick auf das Kind, welches sie wütend und mutig zugleich anblickt. »Das Spiel ist vorbei, Bhanuni«, brüllt Anela schnaufend. »Gib endlich auf!«

Eine der Wurzeln, die ich selbst im Kampf erschaffen habe, richtet sich wieder auf und knallt wie eine Peitsche gegen Anela. Ich komme nicht einmal dazu, einen Schrei auszustoßen, da alles so schnell geht. Ich sehe nur noch wie Mitira aus der Menge gerannt kommt und versucht Anela aufzufangen, die durch die Luft fliegt. Anela hat aber so viel Schwung drauf, dass sie beide über den harten Boden rollen und sogar noch einige andere zu Fall bringen.

Das muss ein Ende haben!

Ich sprinte los und renne Bhanuni entgegen. Bereite mich darauf vor, mich gegen sie zu schmeißen und sie mit mir hinab in die Tiefe der Schlucht zu reißen. Jedoch empfange ich die gleiche Attacke wie Anela zuvor und sehe eine Wurzel auf mich zu rauschen.

Unvermittelt ist Thien vor mir und versucht mich zu schützen. Die Kraft reicht aber aus, um uns beide durch die Luft zu schleudern. Der Wind zischt an mir vorbei. Ich rudere mit den Armen und habe nicht die Hoffnung noch einmal weich zu landen, da Anela in diesem Moment außer Gefecht gesetzt ist.

Als ich lande, schlage ich so hart auf, dass ich Momente lang völlig benommen bin. Jeder Atemzug tut weh, weil sich meine Rippen in die falschen Richtungen zu winden scheinen. Da ich mehrere Meter über die trostlose und harte Erde gerollt bin, ist an einigen Stellen meine Haut von meinem Fleisch geschält worden. Ich huste mit dem Gesicht in den Sand und atme die trockene Erde ein.

Thien, der nur knappe zwei Meter neben mir gelandet ist, kriecht auf Händen und Knien auf mich zu. Seine Platzwunde ist voller Dreck. Seine Arme völlig zerkratzt. Dutzende von Schreien gellen in meinen Ohren, aber sie alle verstummen schnell wieder und blicken erneut auf Bhanuni.

Thien streckt die Hand zu mir vor, aber ich kann mir keinen Moment mit ihm gönnen, da Bhanuni stärker ist, als ich angenommen habe. Mein Kopf sackt zur Seite, damit ich unseren Feind weiter im Auge behalten kann, welcher sich gerade die Klingen aus dem Bauch und aus der Hand zieht. Ohne den Blick abzuwenden, kämpfe ich mich wieder auf die Füße. »Wie lange hast du gedacht … «, rufe ich unter Schmerzen zu ihr herüber. » … kommst du damit durch?«

Wieder brüllt sie mir zu, dass ich den Mund halten soll, aber natürlich höre ich nicht darauf. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, damit ich – falls Bhanuni mich erneut attackiert – nicht so dicht bei den anderen stehe und sie erneut gefährde. Thien hat sich ebenfalls auf die Füße gekämpft und kommt neben mir zum Stehen, anstatt wie erhofft die anderen in Sicherheit zu bringen.

Meine Worte werden von einem tiefen Knurren begleitet, welches mir tief aus der Brust kommt. »Früher oder später musste ein Kind auf diese Insel kommen, was besser involviert war. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätten sie die Wahrheit irgendwann gemeinsam mit Anela herausgefunden oder irgendwann mit einem anderen Kind. So oder so, war dein Spiel nur ein Spiel auf Zeit.«

Erneut kracht Bhanunis Macht aus ihr heraus. Erneut erschaffe ich eine gigantische Wand um uns herum und drücke Thien gleichzeitig hinter mich. Diesmal aber durchbrechen keine spitzen Wurzeln die Hülle. Stattdessen hören wir nur den Klang Hunderter abprallender Gegenstände. Verwirrt sehe ich dabei zu, wie die Wand herunter kracht und entdecke dann das, was Bhanuni erschaffen hat. Vor mir sprießen merkwürdige Pflanzen aus der Erde. In den Resten der Wurzel-Wand stecken spitze Stacheln, an dessen Kopf eine durchscheinende Flüssigkeit klebt.

»Giftstacheln?«, brüllt Kasi fassungslos. Er dreht sich kurz um, gibt einer der Wachen einen winzigen Fingerzeig und der Wachmann wirft ihm sofort die Langaxt zu. Kasi fängt sie mühelos auf und drapiert sie, zum Schlag bereit, in seinen Händen. Zum ersten Mal sehe ich Kasi, den wütenden Krieger, nicht Kasi, den resignierten Anführer.

Bhanuni weicht zurück und sieht Kasi flehend an. »Ich versuche nur, uns zu schützen.«

»Vor was? Vor wem? Vor Nayla?« Ein heftiges Schnauben entweicht ihm. Endlich zeigt er Bhanuni die Stirn. Auch sie selbst bemerkt, dass sie jetzt nicht mehr heil aus dieser Geschichte herauskommt. »Sie hatte tausend Möglichkeiten uns zu töten und nicht eine davon genutzt und ich lass mir nicht weismachen, dass dahinter irgendein dummer Plan steckt oder irgendwelchen anderen Gründe, welche nur vollkommenem Schwachsinn entspringen.«

Während Kasi sich auslässt, fliegt mein Blick immer wieder zwischen den beiden hin und her und ich sehe, dass Bhanuni alle Farbe aus dem Gesicht weicht und sie immer heftiger schluckt. »Hast du nun irgendwelche stichhaltigen Beweise, die gegen sie sprechen? Beweise, die gegen die sprechen, die du dir heute selbst aufgeladen hast, wie die Vergiftung von Naylas und Anelas Wasser oder wie die Gefährdung einiger hundert Menschen unseres Volkes oder unseres Sohnes?«

Bhanunis Zerrüttung weicht blanker Wut. Die undurchdringliche Fassade ist völlig in sich zusammengesackt.

»Stellst du dich nun wahrhaftig gegen mich? Bei all den Dingen, die wir gemeinsam bewältigt haben?«

»Dass wir gemeinsam etwas bewältigt haben, ist schon lange her. Außerdem geht es eher darum, mein Volk zu schützen und das vor allen Gefahren. In diesem Moment bist du diese Gefahr. Wenn ich dich also nicht mit Worten abhalten kann, dann eben anders. Und wenn es sein muss, dann wirst du nie wieder in deinem Leben die Erde berühren, damit du Schaden anrichten kannst.«

»Du wagst es, mir zu drohen?«, kreischt sie. Der Bund ihrer Hose ist schon völlig rot und braun gefärbt von ihrem Blut. Ihre Hand ist ebenfalls blutüberströmt und die kleinen Tropfen klatschen sekündlich zu Boden und färben den braunen Sand und die leblose Erde in eine Wiese aus Blut.

Anstatt zu handeln und es aufzuhalten, verfalle ich in eine Starre und sehe reglos dabei zu, wie Bhanuni nun ihren eigenen Mann attackiert und er von mehreren Wurzeln traktiert wird. Auch wenn er mehreren Dutzend von ihnen gekonnt ausweicht und ich echt überrascht bin, wie gut er anscheinend trainiert ist, bohrt sich letztendlich eine der Wurzeln durch seinen Körper. Genau durch die Schulter.

Thien neben mir ist völlig erstarrt. Seine Augen liegen fassungslos auf Kasi, der gerade auf die Knie sinkt und sich die Hand auf die Schulter drückt. Paco rennt zu ihm, überbrückt Bhanunis Sicht auf Kasi mit seinem bulligen Körper und reißt die Wurzel aus seiner Schulter, woraufhin sein Vater weiter nach vorne sackt und noch mehr Blut aus seiner Wunde fließt.

Thien erwacht aus seiner Starre und stellt sich erneut vor mich, was Bhanuni gehörig gegen den Strich zu gehen scheint. »Geh weg von ihr!« Ihre Stimme ist ganz anders, wenn sie mit ihren Söhnen spricht. Viel gefühl- und sorgenvoller. »Tue mir das nicht an und stelle dich auch auf ihre Seite!«

Thiens Erwiderung ist voller Enttäuschung und Unglauben, aber er strafft trotzdem die Schultern. »Wieso? Wirst du mich sonst genauso attackieren wie Kasi?« Bei den nächsten Worten wird seine Stimme kräftiger und gefasster. Schritt für Schritt geht er auf sie zu. »Du hast nur noch eine Wahl – entweder du hörst von alleine mit der Gewalt auf oder wir werden es beenden.«

»Sie ist eine Gefahr für uns«, versucht sie es ein letztes Mal. »Ich versuche nur-«

»Was? Nach all den Jahren versuchst du, uns zu schützen?«

Fassungslos blickt Bhanuni ihren Sohn an. Ihre Lippen bewegen sich unkoordiniert, weil sie gar nicht weiß, wie sie auf seine Worte reagieren soll. »Was?«, ist dann das einzige, was sie hervorzubringen vermag.

»Du hast mich schon verstanden. Dein Leben lang hast du dich verkrochen, anstatt deine Angst zu besiegen und nun stehst du hier und versuchst uns zu beschützen, vor jemandem, der sich mit uns zusammentut, wobei es eigentlich zu erwarten wäre, dass er sich gegen uns stellt?«

»Du verstehst nicht-«, versucht sie es wieder, aber wieder unterbricht Thien sie.

»Nein, ich verstehe nicht!«, faucht er enttäuscht. »Ich verstehe nicht, wie du einem unschuldigen Mädchen eine Klinge an den Hals halten konntest und wie du Kasi eine Wurzel durch den Körper bohren konntest. Erklär es uns!« Ausladend deute er mit seinen Armen auf die Masse um uns herum, die still und geschockt auf Bhanuni und die halb zerstörte Lichtung blickt. »Wir sind alle gespannt, wie du das rechtfertigen willst.«

Er geht näher an sie heran, weiter von mir weg und mir wird klar, dass er uns schützen will. Dass er mich schützen will. Mein Herz stolpert. Eine Hälfte davon schwillt vor Liebe an, die andere zerbricht vor Sorge.

Bhanunis meist ausdrucksloses Gesicht wird von Wut überzogen. »Sie wurde dazu ausgebildet, uns zu täuschen und bisher hat sie das wirklich gut gemeistert. Ich habe einmal zugesehen, wie sie uns fertig gemacht haben, aber ich werde das nicht länger mitansehen. Deswegen stehe ich hier und deswegen war ich bereit zu tun, was dafür nötig ist und weswegen ich die Kleine miteinbeziehen musste.«

Ich spüre die Blicke der anderen, die nun wieder zweifelnd auf mir liegen. Thien aber bleibt standhaft, geht weiter auf seine Mutter zu. »Ich glaube dir nicht.«

Noa, der inzwischen wieder dichter gekommen ist und nur wenige Meter hinter mir steht, reißt der Geduldsfaden. »Bei meinen Ahnen, sie war es!«, schreit er. »Bhanuni ist schuld am Krieg und Nayla weiß es – nur deswegen will sie sie töten, nur damit es niemand erfährt.«

Bhanuni erstarrt. Weicht zurück. Reißt die Augen auf. Dann dreht sie durch. Die Erde bebt, bricht auseinander. In Sekundenschnelle.

Ich schreie gemeinsam mit den anderen auf. Jeder greift nach dem Nächststehendem und gemeinsam versuchen sie sich aufrecht zu halten, aber die auseinanderbrechende Erde zwingt sie zum Rückzug.

Ich konzentriere mich so gut es geht, auch wenn der Boden zwischen meinen Beinen immer weiter einreißt. Ranken schießen in aller Eile, zu der ich in der Lage bin, durch die trockene Erde und binden sich aneinander. Kreuz und quer schießen sie durch das Erdreich und halten die bröckelnden Schichten zusammen. Auch wenn die Erde durch Bhanunis Macht noch bebt, so droht sie wenigstens durch meine nicht mehr zusammenzustürzen.

Bhanuni schlägt aber sofort auf neue Methoden um und greift mich und Noa gleichzeitig an. Genauso, wie sie vorhin Kasi attackiert hat, wird nun Noa in die Mangel genommen. Er weicht den Wurzeln immer wieder aus, prescht vor und zurück, duckt sich und springt hoch. Ich selbst werde von Giftstacheln beschossen, die von fremdem Pflanzen stammen, die aus dem Boden heranwachsen. Ich weiche den fliegenden Geschossen aus.

Bhanunis Macht ist beeindruckend. Ich könnte niemals zwei Dinge gleichzeitig so beeinflussen, wie sie es tut. Vor allem so konzentriert und zielgerichtet. Ich habe schon Schwierigkeiten den nicht enden wollenden und sekündlich abgeworfenen Stacheln auszuweichen, dass ich mich nicht einmal darauf konzentrieren kann, meine Macht richtig einzusetzen und mich gegen die Leere wappnen zu können. Wenn die Natur hier in ihrer vollen Pracht erblühen würde, dann wäre das alles kein Problem; ich bräuchte einfach nur ihre Kraft anzuzapfen und sie zu verändern. Wir Huna Ke Koa heißen nicht ohne Grund versteckte Krieger, denn in der Natur sind wir unsichtbar und unschlagbar. Jeder Angriff wäre präzise und tödlich und man würde den Krieger nicht einmal zu Gesicht bekommen, der einem den Tod bringt. Ohne das alles aber bin ich aufgeschmissen, denn es erfordert enorm viel Konzentration, Kraft und Zeit erst etwas anwachsen zu lassen, was man als Waffe verwenden könnte. Wurzeln und Ranken sind das einfachste, was man erschaffen kann, alles andere nimmt zu viel in Anspruch. Zusätzlich gegen die Schwärze ankämpfen zu müssen, macht es für mich nur gefährlich, denn meine Konzentration ist dann fast nur darauf ausgerichtet.

Ich gerate ins Schwitzen, habe Mühe, mich rechtzeitig zu drehen und zu winden und den Stacheln aus dem Weg zu gehen. Dann aber ist plötzlich Thien wieder da. Mitten in meinen Todeskampf stellt er sich vor mich und schützt mich mit seinem Körper.

Alle schreien auf. Auch Bhanuni. Ich aber am lautesten.

Die Erde steht dann mit einem Mal still. Bhanuni keucht schluchzend, sie muss ihn getroffen haben.

Mir bricht das Herz in der Brust. Ich spüre den Riss, der entsteht, und wie er sich durch das ganze Herz frisst, bis es auseinanderklafft. Der Heiler vor mir, der der einzige ist, der es wieder zum Schlagen bringen kann, ist mit Gift vollgepumpt.

Zittrig taste ich mich mit meinen Fingern zu seinem Rücken vor und berühre ihn. »Thien«, wispere ich.

Er reagiert nicht.

Tränen schießen mir in die Augen, meine Augen huschen zu den giftigen Pflanzen. Ich kann vielleicht sein Herz davor bewahren, stehen zu bleiben, so wie er es sonst bei mir getan hat, aber gegen Gift bin ich machtlos. Ich kenne zu jedem giftigen Tier an Land das Gegengift, auch die von den giftigen Pflanzen, aber Bhanunis Pflanze habe ich nie zuvor gesehen und jede Pflanze, die ich erschaffen würde, würde zu schnell wieder eingehen. Sein Tod ist nicht aufzuhalten.

Thien rührt sich immer noch nicht. Kraftlos ziehe ich an seiner Schulter, damit er sich zu mir umdreht. In den paar Sekunden müssen ihn Dutzende Giftstacheln getroffen haben, aber als er sich gänzlich zu mir umgedreht hat, sehe ich nur heile Haut. Keine einzige Wunde. Keine Giftstachel in seinem Fleisch.

Mein Finger gleiten ungläubig über seine Brust.

»Tu das nie wieder!« Ich schließe kurz die Augen, da mich eine unglaubliche Dankbarkeit durchflutet. »Tu mir das nie wieder an!«

Während Thien mir seinen Arm entgegenstreckt, um weiß der Himmel was zu tun, gehe ich einen Schritt an ihm vorbei und blicke auf seine Mutter. So lange sie noch am Leben ist, ist das hier nicht beendet. Ich werde nicht zulassen, es noch einmal zu so einer haarscharfen Situation kommen kann.

Bhanunis Augen liegen auf ihrem Sohn. Erkenntnis flackert in ihren Augen auf, weil ihr endlich bewusst wird, dass dieser Tag nicht so endet, wie sie es erhofft hat. Niedergeschlagen schließt sie die Augen und ihr Machteingriff versiegt nun völlig.

»Von was für einem Spiel hat sie geredet?«, höre ich Paco fragen, der nun näher an Bhanuni herangetreten ist. Hinter ihm kniet immer noch Kasi, der sich die Hand auf die Wunde drückt, um die Blutung zu stillen. Offensichtlich ohne viel Erfolg, denn sein Oberkörper und sein Rücken sind voller Rinnsalen aus rotem Blut. »Ein Spiel auf Zeit? Die Wahrheit? Besser involviert?«, redet Paco weiter. Seine von Kasis Blut überzogene Hand verkrampft er zu einer Faust. »Was ist damit gemeint?«

Bhanuni fletscht die Zähne. »Sie erzählt nur Lügen, um Zwietracht zu säen.« Ihre Stimme hat den entscheidenden Klang verloren.

»Und was ist dann mit Noa? Inwieweit hat er denn gemeint, dass du verantwortlich für den Krieg bist?«

Ihr vorgespielter Mut fällt herunter und hinterlässt eine Frau, die sich geschlagen geben muss. Ihr Spiel war schon vor Minuten vorbei, denn selbst, wenn sie es geschafft hätte mich zu töten, wäre das ihr Ende gewesen, denn jeder hat gesehen, dass sie nicht die Unschuldige ist, für die sie gehalten wird. Keiner hätte nachgegeben, bis sie erfahren hätten, was wirklich dahintersteckt.

Bhanunis Lippen kräuseln sich und sie weicht geschlagen einen Schritt zurück. Ihre verräterisch glänzenden Augen richten sich auf ihre beiden Söhne.

Ohne den Blick von ihr zu nehmen, greife ich nach Thiens Hand und verschränke unsere Finger miteinander. Egal, wie es nun ausgehen mag, ich werde an seiner Seite sein. Ob sie nun gleich in die Schlucht hinunter springt und ihrem eigenen Leben ein Ende setzt. Oder ob sie wütend auf sich selbst und die Welt wird, und uns alle mit ihr untergehen lässt.

Womit ich nicht rechne, ist, dass Bhanuni nach Vergebung sucht. »Ich kann nichts dagegen machen. Das konnte ich nie, das schwöre ich beim Leben meiner Kinder und beim Wandel unserer Vorfahren!« Bhanunis tränennasse Augen weichen nicht von den Brüdern. »Es ist ein Fluch. Ich war immer eine miserable Ho’oulu und hatte Schwierigkeiten, irgendetwas zu erschaffen oder den Pflanzen beim Gedeihen und Wachsen zu helfen – ich war nicht so mit der Natur verbunden wie die anderen. … Als Norbu mich das erste Mal misshandelte, da stellte sich heraus, dass ich verflucht war. Sobald ich Angst bekam, entzog ich allem Leben um mich herum die Kraft und es hörte immer erst auf, wenn meine Angst wieder versiegte.«

Meine Gedanken sind auf Kollisionskurs. Heilige Sonne, sie hat das gar nicht mit Absicht getan?

Heftig blinzelt Bhanuni die Tränen weg und ihr Blick sucht wahrhaftig nach Vergebung. »Erst Kasis Liebe schien den Fluch wieder zu brechen, aber als Norbu mich dann verfolgt, uns erwischt und mich fast getötet hat, da ließ mich der Fluch nie wieder los und egal, wie sehr ich es versucht habe, ich hatte keine Kontrolle darüber.«

Paco scheint als erster zu verstehen, was Bhanuni gebeichtet hat. »Du warst es?« Seine Stimme ist rau und kratzig. Seine Finger ballen sich zu Fäusten. Dann scheint er die ganze Tragweite zu begreifen. »Du hast die Insel vergiftet«, brüllt er zornig und stapft auf seine Mutter zu. Seine Finger spielen gekonnt mit dem Messer, lassen es in der Hand kreisen, bis er vor Bhanuni steht und sie vor ihm zurückweicht, mit hoch erhobenen Händen, bitterlichen Tränen und einem entschuldigenden Blick.

Thiens Hand zerquetscht meine. Sein Puls rast mit meinem im Gleichtakt.

Ein letztes Mal kreist das Messer in Pacos Hand, dann liegt es fest zwischen seinen Fingern. »Du hast einfach zugesehen, wie meine Frau und mein Kind gestorben sind?«, knurrt er. »Und du hast nichts gesagt und nichts getan, um das aufzuhalten?«

Bei meinen Vorfahren! Das ist es? Das ist der Grund, warum Paco so ist, wie er ist? Das ist es, was ihn so verändert hat?

Bhanuni weicht wieder einen Schritt vor ihm zurück, näher an den Abgrund der Schlucht heran, immer noch mit dem entschuldigenden Ausdruck im Gesicht. Für Paco ist das wohl Bestätigung genug, denn die Klinge seines Messers landet in Bhanunis Brust. »Sie starben in meinen Armen – wegen dir«, brüllt er unter tränenerstickter Stimme.

Bhanuni reißt die Augen auf und röchelt. »Ich … ich konnte nichts tun.« Paco schreit auf und dreht die Klinge, welche immer noch in ihrer Brust steckt, herum, damit es ihr Innerstes zerfetzt. Nicht weniger schrecklich, wie sie auch seines zerfetzt hat.

Paco hat eine Frau und ein Kind gehabt, ich kann es kaum glauben, aber jetzt, nachdem ich es weiß, verschiebt sich meine Sicht auf ihn und er hat mein vollstes Mitgefühl. Bisher habe ich niemanden hier mit dem Namen, welcher auf seinen Knöchelband gestanzt ist, getroffen, aber es gibt ein Mädchen aus meiner Vergangenheit, das diesen Namen trug. Eine gute Freundin, die mir in der Welle entrissen wurde und die eigentlich auf dieser Insel sein sollte, es aber nicht ist. Ich habe befürchtet, dass dieses Mädchen eine Verbindung zwischen uns herstellt, aber mich bisher davor gedrückt, Erkundigungen anzustellen, aus Angst, dass ihr Leben verwirkt ist und es sich um ein und dieselbe Person handelt.

Thien neben mir zuckt heftig zusammen. Seine Hand zerquetscht meine. Dann sehen wir alle dabei zu, wie Paco die Klinge zurückzieht, und Bhanuni, deren Augen leblos auf ihm liegen, rücklings in die Schlucht fällt.