Mehrere Minuten lang wandere ich vor der Hütte auf und ab, weil ich mir nicht sicher bin, ob Bhanunis Familie meine Anwesenheit dulden wird. Die Wahrheit hat jeden hier umgehauen und ich bin mir sicher, dass die drei nun zusammen trauern und vor sich hin wüten. Da ich es gewohnt bin, den trauernden Menschen beizustehen, drängt eine kleine Stimme in mir, auch ihnen nun beizustehen, aber ich bin immer noch eine Fremde. Eine Fremde, die schuld ist, dass eine geliebte Person von ihnen nun tot in der Schlucht liegt.
Noa ist es leid, meiner inneren Befangenheit zuzusehen und schiebt mich in die Hütte hinein. Dabei streifen seine Finger meine geschändeten Rippen und die unzähligen Kratzer auf meiner Haut. Der Staub der Lichtung klebt immer noch an mir, denn der Vorfall ist erst wenige Stunden her.
Ein Husten schüttelt uns innerhalb weniger Sekunden. Qualm macht sich in der Hütte breit und brennt in unseren Augen. Kasi steht in der hintersten Ecke von Bhanunis Hütte und wirft ihre Habseligkeiten in das Feuer. Thien und Paco sitzen mit dem Rücken zu mir vor der Feuerschale. In ihrer Hütte ist nicht viel zu sehen, denn Bhanuni besitzt so wie alle anderen kaum Wertgegenstände.
Mein Mund wird trocken. Noa stupst mich an.
»Ich … ich wollte nur-« Keiner sieht mich an, während ich um Worte ringe. »Es … es tut mir leid.«
»Wie lange wusstest du es schon?«, fragt Kasi barsch, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Ich starre erst auf seine Rücken und den dicken Verband, der sich um seine ganze Schulter windet. Dann starre ich auf Thiens Rücken, um mich konzentrieren zu können, aber seine abweisende Haltung macht es noch schwieriger. Die Platzwunde an seiner Schläfe ist voller Dreck und Blut und bisher nicht behandelt worden, denn er ist jedem aus dem Weg gegangen, der sich um ihn kümmern wollte. Auch mir.
Ich huste kräftig, als Kasi weitere Kleidungsstücke von Bhanuni in die Flammen wirft und sich dichter Rauch in der Hütte breitmacht.
Meine Antwort kommt mir nur mühselig über die Lippen, da Kasis Wut so präsent ist, als würde er sie mir entgegenschleudern. »Ich habe viel darüber nachgedacht, wie Norbu solche Macht haben könnte – trotz des Ozeans zwischen unserer Inseln – aber mir wurde schnell klar, dass es unmöglich ist. Außerdem schien es mir merkwürdig und seltsam, dass jedes Tier eure Insel mied.« Die Ebene im Ozean, die von ihrer Insel aus zu unserer reicht, war nur eine Taktik, um die Moana davon zu überzeugen, dass wir ihre Feinde sind. Eine Taktik, um von sich selbst abzulenken.
Ich beiße kurz die Zähne zusammen. »Ich … Es tut mir sehr leid. Ich wollte euer Volk und euch nicht in Gefahr bringen und euch nicht verletzen.«
Kasi sieht sich in der Hütte um, um zu sehen, ob er etwas vergessen hat. Ob es noch mehr Dinge von Bhanuni gibt, die er vernichten kann. Die ihre Existenz bezeugen und von den Flammen vernichten werden können. Er reißt die Truhen auf, kippt den Inhalt aus und fegt sie dann durch die Hütte. Alles, was sich darin befunden hat, landet im Feuerbecken. Die Flammen werden davon fast erschlagen, aber sie erkämpfen sich ihren Platz zurück und verbrennen die Erinnerungen an sie.
»Sie wusste, dass du es weißt«, erörtert Paco, ohne sich zu mir umzudrehen. »Deswegen wollte sie dich vergiften, nicht wahr?« Langsam gehe ich rückwärts und bejahe leise, auch wenn das, soweit ich es glaube, nicht wirklich stimmt. Sie hat befürchtet und gewusst, dass ich es herausfinde, war sich aber wohl noch nicht im Klaren darüber, dass ich es bereits wusste. Ich stoße mit dem Rücken gegen Noas Brust. Seine Hände legen sich an meine Seite und halten mich. Von Sekunde zu Sekunde fühle ich mich unwohler, weil keiner der drei Anführer wagt, mich anzusehen.
Geben sie mir tatsächlich die Schuld an all dem oder wie soll ich ihr Verhalten verstehen?
»Du hast es gewusst, aber nichts gesagt«, presst Kasi nun mühselig hervor.
»Ihr hättet ihr nie im Leben geglaubt«, mischt sich nun Noa ein.
»Das könnt ihr nicht wissen«, schnauzt Kasi, wobei er aber in die Flammen starrt und es immer noch nicht wagt, mich anzublicken.
Noas Antwort darauf ist sachlich und leise. »Selbst jetzt noch, wo Bhanuni es zugegeben hat, wollt ihr daran zweifeln, also wage nicht, uns daraus einen Vorwurf zu machen.« Er lässt mich los und tritt vor mich und ich starre auf seinen Rücken, mit dem er mich nun zu schützen versucht. »Nayla hatte nur die Option zu fliehen, denn wenn sie zu euch gekommen wäre, dann hättet ihr ihr niemals geglaubt, und wenn sie geblieben wäre, dann hätte Bhanuni weiterhin versucht, sie und Anela zu töten.«
Da niemand etwas darauf erwidert, redet Noa weiter und ich bin dankbar dafür. Ich bin gerade nicht in der Lage auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen. Ohne mich von irgendeinen von ihnen zu verabschieden, gehe ich hinaus und atme die kühle Nachtluft ein. Noas Worte höre ich trotzdem noch. »Trotz dessen, dass eine Flucht die einfachste Wahl gewesen wäre, vertraute sie sich mir an, gestand mir die Wahrheit über die Vergiftung der Insel und bat um meine Hilfe, damit wir dies beenden konnten.«
»Jeder andere Mensch wäre einfach gegangen, ohne zurückzublicken«, höre ich Paco fauchen.
»Weglaufen gehört aber nicht zu den Dingen, die Nayla im Blut liegen. Wenn sie nicht gewesen wäre, wie lange hätten wir dann noch diese Lüge gelebt?«
Mehrere Minuten lang ist es still in der Hütte. Gerade als ich mich abwenden will, reden sie doch weiter.
»Ich verstehe nicht, warum sie das getan hat.« Es ist Thiens Stimme. Selbst hier draußen höre ich sein Unglauben und seinen Schmerz darüber.
»Sie hatte immer Angst vor Norbu.« Kasis Stimme ist fast zu leise, weshalb ich wieder dichter an den Eingang rücke. »Solche Angst, dass sie ständig zusammenzuckte und nur von Albträumen geplagt wurde. Früher hielt sie mich immer aus ihren Angelegenheiten heraus und wollte nicht, dass ich mich einmische. Nach seinem Tötungsversuch aber, flehte sie mich an, ihn zu vernichten. Wie dumm war ich, dass ich es nicht einfach getan habe? Wahrscheinlich redete sie sich ein, dass sie erst Frieden findet und keine Angst mehr haben muss, wenn er tot ist.«
»Du hast es aber nicht getan«, wendet Noa ein und offenbart ihnen endlich alles, was wir uns gemeinsam zusammengereimt haben. »Sie entzog der Natur die Kraft und drängte uns dazu, zu handeln. Egal, wie viele Wellen ihr den Ho’oulu auch geschickt habt, Norbu überlebte und Bhanunis Angst genauso. Sie ließ die Natur nach den Überflutungen wieder aufblühen, um euch zu beweisen, dass unser Feind auf der anderen Insel ist und nicht auf unserer eigenen, aber all das hat nichts gebracht. Sie musste uns weiter unter Druck setzen und unsere Wut aufrechterhalten, auch wenn unsere Taten keine Veränderungen brachten.« Noas Stimme wird immer kälter. »Deshalb – gerade als du im Begriff warst, die Angriffe einzustellen – hat die Nahrung, die sie danach immer für kurze Zeit erschuf, plötzlich wie Gift gewirkt. Ihre Idee hat gefruchtet und ihr habt weiter gemacht und weiter Unschuldige getötet, aber nicht den, den sie tot sehen wollte. Also vergiftete sie auch das Wasser, in der Hoffnung, dass ihr endlich mit voller Kraft zuschlagt und eine Welle erschafft, die endlich auch Norbu den Tod bringt.«
»Das Wasser?«, hakt Kasi zweifelnd nach. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf gegen die Hüttenwand. Er hat es immer noch nicht begriffen. Immer noch versteht er nicht, wie bestialisch und gefühllos sie war, wenn es um andere ging.
»Damit die Frauen die Kinder verlieren, Kasi.«
Paco rastet aus. Neben seinem wilden Gebrülle hört man Sachen zerbrechen. Ich will nicht in seiner Haut stecken. Und auch wenn ich ihn nicht besonders gut leiden kann, so hat er mein vollstes Mitgefühl.
Ich entferne mich von der Hütte und wische mir fahrig über das Gesicht. Der Morgen ist nicht fern und ich weiß nicht wohin. Die unzähligen Hütten zwängen sich um mich. Die kahlen Bäume und Lichtungen verhöhnen mich. Die Menschen sind mir fremd.
Ich will heimkehren! Ich will einfach nur heimkehren!
Ich will mich in die Arme von Keanu werfen, unter einer schützenden Weide sitzen, den Geruch der Insel einatmen und die Geräusche der wunderschönen Tierwelt hören. Der Anblick von all den Farben fehlt mir, wie die, die das Fell und die Federn der Tiere schmücken oder die, die bezeugen, dass Leben in den Pflanzen steckt.
Ich bin kurz davor, schreiend zusammenzubrechen, weil ich mich so alleine und fremd fühle, aber wie immer setze ich einen Fuß vor den anderen und kämpfe mich durch das Leben und das Schlachtfeld, das unsere Taten hinterlassen.