Freundschaft setzt Vertrauen voraus

Kapitel 37

Vignette

Ich schlage mir die Hand auf die Stirn und schüttele den Kopf. Es scheint egal zu sein, wie man etwas angeht, das Endresultat endet immer in einer Katastrophe. Da ich aber jetzt nicht meinem kleinen Anteil an Egoismus erliegen will und mich in die Hütte verkriechen kann, stelle ich mich der kommenden Katastrophe. Vielleicht schaffe es auch einmal, etwas nicht zu versauen und das Schicksal hat gleichzeitig Mitleid mit mir und lässt mich etwas Gutes bewirken.

»Nur ein Schritt in diese Hütte und dein Geruch lähmt mich in meinem Denken und in meinem Handeln«, begrüßt er mich, ohne mich anzusehen. Er liegt auf dem Bett, mit dem Rücken zu mir, den Blick auf die Wand mit den Hunderten von Zeichnungen gerichtet.

»Ich habe mich ja auch seit zwei Tagen nicht gewaschen«, scherze ich lahm. »Mein Gestank vertreibt sogar Schmeißfliegen.« Keiner von uns beiden lacht, aber Thien setzt sich wenigstens auf und dreht sich zu mir um. Die Bettdecke verrutscht und landet in seinem Schoss. Eine Sekunde lang starre ich auf sein vernarbtes Bein, dann auf seine Stirn. Dann fange ich an, seine Truhen zu durchwühlen und mich auf die Suche nach Nadel, Verband und Faden zu machen.

»Du hast eine Infektion.« Du dummer Moana. Musst du mir solche Sorgen bereiten?

In den Truhen finde ich auch das, was Thien zu Anfang hier vor mir verheimlicht hat. Die Zeichnungen der Geretteten, der Ho’oulu Kinder. Hunderte davon, die ich flüchtig durchsehe, aber dann links liegen lasse, weil das keine Rolle mehr spielt.

Mit den benötigten Utensilien lasse ich mich auf Thiens Bett nieder. Da er seine Beine von sich gestreckt hat, setze ich mich neben ihn auf die Kante, aber Thien rutscht von mir weg. Sein Blick ist klar und verständlich: Komm mir nicht zu nahe!

»Willst du unsere Freundschaft kündigen?«, frage ich rundheraus.

»Freundschaft?«, schnaubt er. Mit angespanntem Kiefer blickt er an mir vorbei, nur damit er mich nicht ansehen muss. »Freundschaft setzt Vertrauen voraus und uns Moana ist nicht zu trauen.« Aha, daher weht der Wind. »Du solltest dich von uns fernhalten und vergessen, was zwischen uns war. Geh zurück auf deine Insel und lebe dein Leben, ohne einen Gedanken an uns zu verschwenden.«

Ich habe ihn immer bewundert für die Worte, die er fand, um auszudrücken, was in seinem Herzen vorging. Ich bin nicht gut darin, mit Worten umzugehen. Bin nicht gut darin, jemanden zu überzeugen, aber ich kann jetzt nicht den Kopf einziehen und es einfach dabei belassen, während mein Herz protestiert, weil seines zerbricht.

Bhanunis Tat hat ihn in einen Abgrund stürzen lassen. Ich will ihn vor dem Aufprall schützen, mich ihm in den Weg stellen und ihn auffangen, damit er am Boden nicht zerschellt, aber ich weiß nicht, wie. Ich kann nicht einmal zu einem Bruchteil so gut mit Worten umgehen wie er. »Wir leben in einer grauenhaften Welt und wir sind ihr völlig ausgeliefert«, sage ich schließlich. »Ich will dich davor schützen, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, aber du musst mir auch Gelegenheit dazu geben.«

»Ich muss nicht beschützt werden.« Während er das sagt, baut er sich auf, sodass er breiter wirkt als sonst. Er tut gerade so, als wenn mir der Anblick seiner Muskeln sonst immer verwehrt geblieben ist, weil ich blind durch das Leben stolpere. So ein Holzkopf! Muskeln sagen doch nichts darüber aus, ob man stark genug ist, mit dem Leben fertig zu werden.

»Ich habe auch nicht behauptet, dass du beschützt werden musst«, erkläre ich ihm ruhig, auch wenn ich ihm am liebsten anschreien würde. »Ich will dir nur zu verstehen geben, dass ich mich für dich in eine Klinge werfen würde.«

Seine Augen bannen meine für Sekunden. »Das wäre ziemlich dumm und es war dumm von dir, es zu tun, als Bhanuni dich angriff und uns andere gefährdete.«

Ich zucke mit der Schulter. »Wenn jemand jemandem etwas bedeutet, dann tut man halt dumme Sachen.«

»Sich für jemanden in eine Klinge zu werfen, ist nicht einfach nur dumm, sondern ein Fehler.« Seine Stimme ist so eiskalt und abwehrend, dass mir flau wird. Der Ausdruck in seinen Augen und der harte Zug um seinen Mund, lassen mich wissen, dass etwas bereits in ihm zerbrochen ist. Er hasst sich selbst. Ich hoffe, dass ich all das kitten kann und wir irgendwann darüber lachen können, dass er sich in diesem Moment selbst als dumm bezeichnet hat, weil er sich ebenfalls für mich in eine Klinge geworfen hat.

Offen sehe ich ihn an und schüttele dabei lächelnd den Kopf. »Nein, Thien.« Ich sauge seinen ganzen Anblick in mich auf. Seine rehbraunen Locken, seine wunderschönen türkisen Augen, seine samtig weichen Lippen. »Es war ein Fehler die Gefühle, die mich übermannten, zu ignorieren.« Ich versuche nach seiner Hand zu greifen, aber er entzieht sie mir sofort und sein Blick verdüstert sich noch mehr. »Das zwischen uns ist das bisher einzig Richtige in meinem Leben. Du bist das einzig Richtige für mich.«

Trotz meiner Liebeserklärung überzieht Wut sein schönes Antlitz. »Ist dir überhaupt klar, was wir getan haben? Hast du vergessen, was du wegen unserer Dummheit alles verloren hast? Wie kannst du überhaupt noch hier sitzen und so tun, als hätten wir den Frieden verdient?«

Ich rutsche auf dem Bett weiter zu ihm herüber und Thien will weiter vor mir zurückweichen, aber er prallt rücklings gegen die Hüttenwand. Den verzweifelten Blick, welchen er zur Schau stellt, lässt mich schließlich innehalten und mir wird dadurch klar, dass ich diesen Aufprall nicht aufhalten kann, weil er es nicht zulassen wird. Ich war nie in dieser Situation, war nie für einen meiner Abstürze selbst verantwortlich, sondern dem einfach ausgesetzt, weil das Leben einem einen Beinhacker stellte.

Entgegen dem inneren Drängen in mir, Thien zu stützen und ihm beizustehen, bleibe ich schließlich auf Abstand und bedränge ihn nicht weiter. Denn er hat es auch nie bei mir getan. Immer nur hat er mich mit Worten vollgeschüttet, aber gedrängt hat er mich nicht, sondern mir immer meinen Freiraum gelassen. Seine Worte hatten aber immer genug Gewicht, um wenigstens ein bisschen Klarheit zu schaffen.

Was soll ich sagen? Was soll ich sagen, dass es für ihn einfacher wird? Wo finde ich die geeigneten Worte? Irgendwo muss es sie geben! Worte, die meine Gefühle und die Aufruhr in mir beschreiben. Worte, die gefunden werden und ausgesprochen werden müssen, weil sie helfen können, ihn am völligen Zerbrechen zu hindern. Was ist schon Trauer, wenn man nicht aussprechen kann, wie weit die Trauer reicht? Es gibt so viele große Unterschiede zwischen Wörtern und ihren Bedeutungen. Trauer kann leicht sein, erdrückend, zerreißend, auffressend. ›Ich bin traurig‹ ist nicht das gleiche wie ›Meine Trauer zerfrisst mich‹ und ›Ich liebe dich‹ ist nicht das gleiche wie ›Mein Herz hört auf zu schlagen, sollte deines jemals aufhören‹.

»Ihr verdient den Frieden, so wie jeder andere auch.« Meine Worte klingen lahm, aber es ist das Einzige, was ich in meinen Gedanken zusammengekratzt kriege. »Ihr habt Bhanuni geliebt und sie war nie böse und hat nie durchblicken lassen, dass sie gegen euch spielt. Wir hingegen haben jeden Tag zu sehen bekommen, dass Norbu nur sich selbst liebt und nur an sich selbst interessiert ist und haben trotzdem nicht bemerkt, wie weit seine Selbstverliebtheit und sein Egoismus reicht. Wenn ihr den Frieden nicht verdient habt, dann haben wir das erst recht nicht.«

Nicht genug, Nayla! Nicht genug Worte! Ich könnte mir selbst in den Hintern treten, weil ich nicht gut genug dafür bin. »Willst du wirklich diese Mauer zwischen uns errichten?«, frage ich zaghaft. »Nach allem, was war?«

Seine Stimme ist ganz ruhig und abgeklärt, aber sein Blick hält meinem nicht stand. »Du hast Besseres verdient – das hast du mit all deinen Taten deutlich bewiesen. Wir sind es nicht wert, gerettet zu werden … Ich bin es nicht wert.«

Ob es etwas nützt, wenn ich ihm einen Fausthieb ins Gesicht verpasse? Einen schönen saftigen Kinnhaken oder eine schallende Ohrfeige?

»Bist du bescheuert?«, frage ich schließlich und halte meine Wut zurück. »Woher willst du wissen, was ich verdient habe?«

Thien springt vom Bett auf und will die Hütte verlassen, aber ich bin schneller als er und versperre den Ausgang. Dann schubse ich ihn. Blicke ihn zornig an und schubse ihn gleich noch einmal. Ich könnte gerade eine ganze Hasstirade auf ihn loslassen, aber ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll.

»Hör sofort auf damit!«, beschwöre ich ihn. »Hör auf, dich selbst zu verachten! Fang erst gar nicht damit an!«

Hörbar knirscht er mit den Zähnen und kommt einen Schritt auf mich zu, sodass er verdammt nahe vor mir steht. »Ich stand daneben, Jahr für Jahr, während mein Volk die Wellen erschaffen hat.« Seine breite Brust ist direkt vor meinem Gesicht und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um seine glanzlosen Augen sehen zu können. »Ich stand daneben und habe zugesehen, wie sie deine Mutter und deine Großeltern und all deine Freunde und deren Familien umgebracht haben und ich habe so gut wie nichts dagegen getan.«

Entschieden schüttele ich den Kopf und überbrücke noch ein paar Zentimeter zwischen uns, indem ich mich nach vorne lehne.

Vielleicht kann meine Liebe ihn retten. Es ist wahrscheinlich ein hoffnungsloser Versuch, aber wer nicht kämpft, so sagt man, der hat schon verloren. Meine Stimme zittert und ist leise. »Du kannst mich nicht dazu bringen, dich zu hassen!«, erkläre ich ihm. »Ich wollte nie im Leben etwas für mich selbst, habe nie Anspruch auf etwas erhoben, noch darum gebeten oder gebettelt. Nichts war wichtig, erstrebenswert oder wünschenswert genug, dass ich es besitzen oder haben wollte. Und dann warst du plötzlich da.«

Thiens glanzlosen Augen schließen sich für wenige Sekunden. Sein Atem ist hektisch und unkontrolliert. Als er sie wieder öffnet, steckt wieder ein wenig Leben in ihnen. Was ich erblicke, ist pure Verletzlichkeit und ein Hoffen auf das Vergessen. »Was soll das heißen?«, fragt er heiser.

»Ich will dich«, gestehe ich. Die Vorfahren sollen meine Zeugen sein, was ich im Moment am sehnsüchtigsten will, ist mit diesem Jungen zusammen zu sein. Nichts anderes ist gerade wichtig. Nichts war je wichtiger. »Und es gibt nichts, was daran etwas ändern könnte! Ich will dich mit jeder Faser und jedem Atemzug und dennoch fürchte ich, Anspruch auf dich zu erheben, aus Angst, dass du mir wieder genommen wirst. Sobald ich etwas verliere, was mir wichtig ist, zerschelle ich in Millionen Splitter und es ist jetzt schon noch kaum etwas von mir übrig. Ich kann dir dementsprechend nicht viel bieten, aber wer sich meine Liebe verdient hat, kann sich sicher sein, dass sie unerschütterlich ist. Mich also von dir zu stoßen, nützt nichts, denn davon lasse ich mich nicht abhalten. Du kannst nichts tun, was mich dazu bringt, dich zu hassen.«

Thiens Brustkorb hebt und senkt sich immer noch hektisch. Seine Augen sind ein Gemisch aus Schmerz und Hoffnung, dennoch schweigt er.

Ich stoße ein Seufzen aus. »Kann ich jetzt bitte deine Wunde nähen, damit sie sich nicht noch weiter entzündet und damit ich aufhören kann, mir Sorgen um dich zu machen?«