Am frühen Morgen, noch bevor die Hähne anfangen würden zu krähen – wenn es hier auf der Insel denn welche geben würde – und bevor alle anderen Tiere erwachen würden, beobachte ich den Jungen, der neben mir im Bett liegt. Er liegt auf dem Rücken, einen Arm unter mir, mit dem er mich umklammert, die andere hält im Schlaf meine Hand. Sein Gesicht ist in meine Richtung geneigt und ich kann den Moment nutzen, um mir ungeniert jede Einzelheit seines Gesichts einzuprägen.
Sein Schlaf ist friedlich, aber seine Locken von dem Getobe am Abend ganz zerzaust. Mir tut alles weh, weil er mich so heftig durchgekitzelt hat und ich so viel gelacht habe. Selbst meine Gesichtsmuskeln schmerzen unter den andauernd auftretenden Lächel-Attacken.
Danke Vorfahren! Eine Zeitlang mag ich euch gehuldigt und geehrt haben, dann aber habe ich euch verabscheut. Nun aber, mit der Akzeptanz der Iho Aloha könnte ich nicht dankbarer sein für die Art des Glücks, welcher ihr mir damit geschenkt habt.
Ich werde dieses Geschenk ehren und nicht mehr mit Füßen treten, denn dafür ist das Glück in unserem vom Pech überladenden Leben einfach zu selten und genauso zerbrechlich, wie eine überreife Frucht. Kaum nimmt man es zwischen die Finger, zerreißt es und quillt an einem an dem Handgelenk herunter. Dieses Risiko werde ich nicht mehr eingehen. Ich will das Glück beanspruchen und behalten. Vorsichtig zwischen meine Finger betten und es hüten, damit es nicht zu Boden tropft und für immer versickert.
Ich will das Glück. Ich will Thien.
Der Stoff am Eingang raschelt und als ich den Kopf wende, erkenne ich Noa, der zum allerersten Mal im Leben kein belustigtes Funkeln in den Augen hat, sondern mir mit einem ernsten Rucken des Kopfes zu verstehen gibt, dass er mich sprechen will. Kaum hat er das getan, ist er auch schon wieder weg.
Mit einem letzten Blick auf Thien, ein sanftes Streichen meiner Finger über seine Wange, löse ich mich übervorsichtig von ihm und verlasse die Hütte. Noa ist schon ein gutes Stück vorausgegangen und ich folge ihm einfach über die stille Lichtung. Noas Rücken ist angespannt und seine Schultern angezogen, als würden wir in einen Krieg ziehen. Ich gehe schneller, aber Noa ist mir mit seinen langen Beinen um Längen voraus. Er hält nicht inne, als wir den Wald erreichen. Sein Benehmen ist mir suspekt und lässt mir ein flaues Gefühl aufkommen. Auch auf der nächsten Lichtung hält er nicht inne. Die aufgehende Sonne lässt sich noch Zeit, auch als wir etliche Minuten später die Dünen erklimmen.
Meine gute Laune wegen der Annäherung zwischen Thien und mir verfliegt, als ich oben angekommen bin und auf den Strand hinabsehen kann. Der Schrecken meines Lebens durchfährt mich, denn auf die Hunderten von Leichen bin ich nicht vorbereitet, die mit den Wellen an den Strand gespült werden. Mit einem Schrei schlage ich mir die Hand vor den Mund.
»Wer hat das getan?«, frage ich Minuten später, wobei ich immer noch den Würgereiz unterdrücke. Noa steht neben mir unten am Strand, Schulter an Schulter. Kasi und Paco ein paar Meter neben uns. Keiner von uns kann den Blick von den Toten lösen. Es sind nicht nur Hunderte. Es sind zweitausend Menschen. Es ist grauenhaft still trotz der Brandung. Einfach unheimlich. Ich schlucke und streiche mir die Haare aus der Stirn, eine Geste, die meine Nervosität preisgibt.
»Sie waren es selbst«, krächzt Paco. »Still und heimlich sind sie vorgestern Nacht verschwunden und nicht wiedergekehrt.«
»Aber warum?«, wispere ich. Meine Stimme hat kaum Kraft im Angesicht der Toten. Es sind die älteren Moana, die mitverantwortlich für die Flutwellen waren, die meine Familie und meine Freunde den Tod gebracht haben. Die sich genauso wie Kasi die Schuld des Mordes aufgeladen haben.
»Sie sind wahrscheinlich gegangen, weil ihr Ende in Stein gemeißelt war«, erklärt Noa mit belegter Stimme. »Sie wussten, was auf sie zukommt. Entweder du würdest noch in deiner Zeit hier über sie richten, oder spätestens dein Volk bei deiner Rückkehr, das war ihnen von Anfang an klar. Also haben sie es selbst in die Hand genommen, denn umso länger sie leben, umso länger müssen die Kinder mit weniger Nahrung leben.«
»Eik hat sie zwar zu dieser saudummen Aktion angestachelt, aber sie brauchten einen Beweis, dass du wirklich das Zeug dazu hast die Kinder zu retten«, setzt Paco hinzu und wirft mir einen kurzen Blick zu. »Das war das einzige, das für sie noch gezählt hat.«
Einen kurzen Moment schweigen wir alle. Ich kann meinen Blick nicht von den Toten wenden, auch wenn es grauenhaft ist. »Wir haben in diesem Spiel allesamt die schlechtesten Karten gezogen«, flüstert Kasi betrübt, der sich zu einen der Toten hinabbeugt und ihm die noch offenen Lider schließt. »Der Frieden ist viel zu wackelig in Anbetracht dessen, dass wir dieser Täuschung unterlagen. Nur die Kinder haben eine Chance und das war ihnen allen nur zu deutlich klar.«
Ich beiße mir kopfschüttelnd auf die Lippen. Beim Himmel, ich kann nicht glauben, was sie getan haben. Ich verstehe es, aber glauben kann ich es nicht.
Kasi und Paco treten mit gesenkten Köpfen den Rückzug an und Noas Hand in meinen Rücken befiehlt mir ihnen zu folgen. »Ich habe immer gedacht, ihr könnt nicht ertrinken.«
»Es dauert bei den meisten Stunden bis ihnen die Luft ausgeht, aber ertrinken können wir sehr wohl.« Schwerfällig erklimme ich die Düne. Noas Hand in meinem Rücken gibt mir kaum Halt. »Sie sind aber nicht ertrunken … Sie haben einfach ihre Seelen an die Vorfahren zurückgegeben.« So wie Latyas Schwester, die mit dem Verlust ihrer Zwillingsschwester nicht zurechtkam. Wie ein paar Dutzend andere meines Volkes, die ohne ihre Familie nicht mehr weiterleben konnten. So wie ich es zuerst wollte, nachdem mir Anela genommen war.
Erst als wir die Dünen und die Toten hinter uns gelassen haben kann ich wieder frei atmen. Von Angesicht zu Angesicht stehen wir uns nun alle gegenüber und wissen nicht, was wir sagen sollen. Kasi bricht als Erster das Schweigen. »Ich werde mich später mit Kelo und Zoa um das Grab kümmern.« Seine Stimme klingt gepresst, als würde er sich jeden Moment übergeben müssen. Sein Gesicht ist blass und eingefallen. Auf dieser Insel findet man keinen Friedhof, denn ihre Gräber sind wahrscheinlich tief unten im Ozean und nicht an Land. Der Ozean ist ihre Heimat. Dort ist ihr Herz und ihre Seele zu Hause.
»Eigentlich wollten wir heute etwas anderes mit dir bereden.« Paco presst die Lippen aufeinander und blickt mich geknickt an. Seitdem ich weiß, was sein Schicksal ihm angetan hat, weiß ich nicht mehr wie ich mit ihm umgehen soll. Ich kann einfach nicht mehr fies zu ihm sein. Nett zwar auch nicht, aber deswegen schweige ich meistens.
Noa wirkt genauso aufgewühlt wie ich, leckt sich über die Lippen und wippt auf seinen Füßen vor und zurück. »Was jetzt kommt, wird dir nicht gefallen«, wispert er und lockt meinen Blick an. »Als einer der neuen Anführer dieses Volkes ist es meine Pflicht für unser Überleben zu sorgen, also haben Paco und ich entschieden dir freie Hand zu lassen.«
»Was? Wovon redest du?«, frage ich schwach. Der Anblick der Toten will mir nicht aus dem Kopf gehen, weshalb ich nicht richtig bei der Sache bin.
»Thien ist vor zwei Tagen ausgestiegen«, sagt er bedrückt. »Ich bin sein Ersatz, damit der ganze Mist nicht alleine an Paco hängen bleibt.«
Sehr langsam schüttele ich den Kopf. Die Zweifel kann man mir garantiert vom Gesicht ablesen. »Warum sollte er das tun?« Verständnislos sehe ich ihn an. »Er hat mir davon nichts erzählt.«
Noas Schultern zucken, dann stellt er sich aufrechter hin. »Das spielt keine Rolle«, klärt er mich auf. »Er wollte nie ein Anführer sein und nun hat er seine Chance genutzt. Paco und ich sind ab sofort deine Ansprechpartner und wir haben gemeinsam entschieden, dir eine größere Position zu überlassen. Was das bedeutet, ist im Grunde genommen dich zukünftig offiziell als die Anführerin der Ho’oulu zu betrachten. Als Friedensbringerin steht dir diese Aufgabe für alle Zeit zu, auch wenn dein Volk versuchen sollte dagegen zu sprechen.« Noas ganzes Auftreten hat sich während seiner Worte verändert. In seinen Augen sitzt immer noch der alte Schalk, mein liebenswerter Noa. Der Rest von ihm ist wie ausgewechselt. Ein wenig unnahbar, ein wenig erhaben, viel stolz ist dazugekommen. »Mit dieser Position ist es deine Aufgabe Entscheidungen im Namen deines Volk zu treffen.«
Ich fühle mich, als wäre ich in eine Hütte eingesperrt, dessen Feuer alles an Luft verbrannt hat. Mir ist heiß, die Luft stickig, meine Lunge verkrampft. Ich kann nicht glauben was er da sagt. »Was genau soll das bedeuten? Was willst du damit sagen?«
Noa fühlt sich unwohl in seiner Haut, das kann man ihm ansehen. Mit seiner neuen Rolle ist er noch nicht warm geworden, auch wenn es ihm im Blut liegt. Ich glaube fest daran, dass er das gut meistern wird, aber einfach wird es nicht für ihn werden. »Das Urteil über Eik liegt nun in deiner Hand, weil er den Frieden gefährdet und uns alle hintergangen hat. Da dieses Vergehen direkt gegen dich gerichtet war, obliegt es alleine dir über seine Strafe zu entscheiden.«
»Und das Urteil über mich steht auch noch aus«, wirft Kasi ein. Das ist nicht wahr, denn gestern habe ich mich entschieden, wie ich mit ihm verfahren soll. Er weiß es nur noch nicht.
Mein Gesicht ist eine undurchdringliche Maske, während ich kalkuliere, was ich mit Eik tun soll. Hinter meinem Rücken knete ich mir die Hände. Wie ich mittlerweile weiß, fördert Rache nur Rache. Wut fördert Wut. Ich habe vor der Flutwelle zu Atréju gesagt: ›Wer Frieden will, muss friedlich sein. Wer Gerechtigkeit will, muss gerecht sein.‹ Wenn ich jetzt Rache nehme, dann nehme die Kinder irgendwann Rache, was wiederum zu Rache führen wird. Es ist ein ewiger Kreislauf, den ich hier und heute zerbrechen muss. »Paco, würdest du eine Versammlung einberufen und bitte meine Worte wiedergeben?«
Sofort nickt er mir zu, ohne zu zögern. Anscheinend habe ich inzwischen sein vollstes Vertrauen ergattert, was in mir ein seltsames Gefühl auslöst. »Lass Eik zappeln und mach solch ein Drama draus, dass er denkt, ich würde ihn auf das Festland verbannen.« Er grinst breit und zum ersten Mal gilt sein Lächeln mir. Nur mir. Er verabscheut den kleinen Wicht Eik genauso wie Thien und ich, deswegen macht er hierbei gerne mit. »Sag ihm, wie dumm es von ihm war, dass er das, was wir hier versucht haben aufzubauen, fast wieder zerstört hat.« Mein eigenes Lächeln versiegt. »Mach allen bewusst, was hier auf dem Spiel steht!«, setze ich eindringlich hinzu. »Und sag ihnen verdammt noch mal, dass es beim nächsten Mal die Verbannung nach sich zieht, wenn sich noch einmal jemand gegen mich stellt. Es ist mir egal, ob irgendein Dummkopf von ihnen nur Zwietracht sät oder Schlimmeres. Wer meint, sich dagegen zu stellen, der hat diesen Frieden nicht verdient und muss die daraus resultierende Strafe für sich und sein Volk in Kauf nehmen. Hast du verstanden?«
Paco hebt das Kinn, diesmal ernst. »Ich werde es mit deiner arroganten Stimme wiedergeben, dann traut sich hier keiner mehr etwas.«
Ich lache auf und nicke ihm zu. »Dann geh! Und nimm Noa mit!«
Noa wirft mir von der Seite einen fragenden Blick zu, aber ich wende mich an Kasi, ohne ihn weiter zu beachten.
Als sie außer Sichtweite sind, ist die Zeit gekommen. Das weiß auch Kasi, der resigniert meinen Blick erwidert. Ich hebe die Arme ein Stück und eröffne damit das Gespräch. »Dein Tod wird spektakulärer werden.« Ich muss fast grinsen, trotz der Situation. Es wird keinen Menschen geben, der freudiger als er in den Tod springen wird.