Gib jetzt nicht auf!

Kapitel 43

Vignette

Nayla war nicht an meiner Seite, als ich aufgewacht bin. Dafür hat mich der Lärmpegel auf der Lichtung sofort aus der Hütte getrieben. In einigen hundert Metern Entfernung konnte ich eine Versammlung ausmachen, die die älteren Kinder beiwohnten. Ein Blick nach rechts verriet, dass Mitira sich in dieser Zeit um die Kleineren kümmerte und sie ablenkte.

Ich ging sofort los und hielt Ausschau nach Nayla. Viel zu spät platze ich nun in die Versammlung, die Paco einberufen hat. Nayla kann ich nirgends entdecken, weshalb ich meinen Bruder aus der Ferne beobachte, am Rand der versammelten Menge. Er ist gerade dabei zu erklären, dass ich ausgestiegen bin und Noa der neue Ansprechpartner für alle Belange ist. Die Kinder werfen sich unsichere Blicke zu und tuscheln leise miteinander, bis Pacos Worte sie wieder verstummen lässt. Ich erkenne E’katarinas Haar in der Menge vor mir und kämpfe mich zu ihr durch. Ihre Schultern beben und als ich sie erreiche, sehe ich die ganzen Tränen auf ihrem Gesicht.

»Das ist nicht die einzige Veränderung«, erklärt Paco gerade der Menge. »Ihr wisst, was auf dem Spiel steht. Jeder von uns ist zukünftig dafür verantwortlich, wie unsere Zukunft aussieht.«

Behutsam greife ich E’katarina an die Schulter. Sie zuckt zusammen, lehnt sich aber dann schluchzend an mich, als mich erkennt. Den einen Arm schlinge ich um ihre Mitte, mit der anderen tätschele ich ihren Kopf. »Die Erwachsenen sind fort, für immer«, sagt Paco mit seltsamer Stimme. Wut und Trauer kämpfen darin. E`katarina bebt noch stärker an meiner Brust. Mir fährt ein Schock durch die Glieder. Wovon zum Teufel redet er? »Mit ihren Taten haben sie uns ein tiefes Grab geschaufelt, was uns jeder Zeit verschlucken könnte. Nichts in ihrer Macht liegende hätten sie tun können, um das rückgängig zu machen, weshalb sie wenigstens die Chance ergriffen haben, uns als Kriegsopfer dastehen zu lassen. Das ist das einzige, was uns nach allem, was passiert ist, vor einer Racheaktion der Ho’oulu schützen kann. Ihnen zu zeigen, dass wir genauso wie sie in einen Krieg gezogen wurden, dem wir uns nicht entziehen konnten.«

»Sie haben sich umgebracht, Thien!«, murmelt E’katarina an meinem Hals. Tief zieht sie den Atem ein, fängt aber gleich wieder an zu schluchzen. »Großmutter ist mit ihnen gegangen.« Das Blut weicht aus meinem Gesicht. Ich schlucke und weiß nicht, was ich sagen soll. Meine Arme legen sich kräftiger um das Mädchen, die meiner Familie immer sehr nahe stand. Das Gesagte dringt kaum zu mir durch.

Pacos Blick gleitet über die einzelnen Gesichter der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. »Nayla hat in ihrer Zeit hier für unsere Freiheit und für unseren Frieden gekämpft und das wird sie auch weiterhin tun.« Die Trauer weicht aus der Mimik meines Bruders, wird abgelöst von zorndurchtränkter Wut. »Zumindest wenn es nicht noch einmal jemand wagt sich gegen sie zu stellen und in irgendeiner Weise den Frieden zu gefährden.« Auf Eik kommt sein Blick schließlich zum Ruhen. Alle Gesichter wenden sich nun in seiner Richtung, da jeder wohl weiß, was er getan hat. »Wir Anführer lassen es nicht zu, dass der kommende Frieden gefährdet wird, also müssen die, die eine Dummheit wagen, mit den Konsequenzen rechnen.« Eik schluckt und starrt auf seine Füße. Wie soll er in diesem Moment auch tausend vorwurfsvollen Blicken standhalten. Dafür ist er viel zu feige. »Wir können froh sein, dass Nayla sich nach deinen Taten nicht einfach von uns abwendet und uns ohne Hilfe zurücklässt. An ihrer Stelle hätte ich dich auf dem Festland verrotten zu lassen, aber deine Strafe liegt nicht in meiner Hand, dafür kannst du den Vorfahren auf Knien danken.«

Eiks Kopf ruckt nach oben. E’katarina sinkt trotz meiner Arme kraftlos und zitternd auf die Knie. Ich schlucke erneut, Eik ebenfalls. E’katarina umklammert meine Beine.

»Wie sieht die Strafe denn aus?«, ruft jemand von weiter vorne, der genauso ungeduldig und angespannt ist, wie der Rest von uns.

Paco grinst kalt. »Weiß der Himmel warum, aber die Kriegerin gewährt Eik eine Schonfrist! Aber ich kann euch gleich sagen, dass dies eine einmalige Begnadigung ist! Eine weitere Tat, die sich gegen den Frieden und gegen die Friedensbringern stellt, wird mit einer Verbannung bestraft werden, damit die Festlandbewohner und nicht wir uns um eure Leiche kümmern müssen.«

Ich bin mehr als empört darüber, dass Paco und Noa hinter meinem Rücken solch eine Entscheidung gefällt haben. Mit meinem Ausstieg denken sie wohl, dass mich das nichts mehr angeht, aber alles was Nayla betrifft, betrifft auch mich. Die Sitzung ist seit einer halben Stunde beendet, aber es gibt genug Leute, die immer noch Fragen an meinen Bruder haben. Mit zur Faust geballten Händen warte ich darauf, meinen Bruder alleine zu erwischen. In der Zeit sehe ich Eik E’katarina zärtlich in den Arm nehmen. Ich habe immer gehofft, dass ihre feinfühlige Art ihn zähmen kann, aber das ist wohl zu viel verlangt. Er ist ein Trottel wie eh und je. Ich muss fast würgen, als ich sehe, dass Eik ihr einen Kuss auf die Stirn drückt und dann schnurstracks verschwindet. Irgendwie hat er es geschafft ihre Tränen zu trocknen, denn als sie sich wieder an meine Seite heftet sind ihre Augen nicht mehr so stark gerötet und ihre Wangen trocken.

Der Rest der Menge verteilt sich endlich und ich sprinte los. Kaum erwische ich Paco, halte ich ihm eine Predigt darüber, was das alles soll. Nayla ist immer noch eine Fremde und ein ehemaliger Feind des Volkes und ich bin der Ansicht, dass das Nayla nur wieder mehr Probleme bereiten wird, von denen sie eh schon genug hat.

Paco zieht mich beiseite, weiter fort von den anderen. »Die Entscheidung war richtig«, beteuert mein Bruder ohne jegliche Schuldgefühle. »Nayla hätte ihm keine harte Strafe gegeben, das weißt du selbst genauso gut wie ich.«

Wütend sehe ich ihn an und boxe ihm gegen die Brust »Wie kannst du dir da so sicher sein? Mir ist relativ egal, welche Strafe er bekommt, aber Nayla sollte nicht in die Enge getrieben werden.«

Ich starre meinen großen Bruder nieder, was nicht wirklich funktionieren will. Dafür stehen wir uns beide zu nah. Anstatt mich auch anzupöbeln bleibt er ganz ruhig. Diese bekloppte ruhige und souveräne Art hat er von Kasi übernommen. Umso ruhiger die beiden in Situationen sind, die mich total aus der Haut fahren lassen, umso mehr könnte ich mich darüber aufregen. »Norbu ist immer noch unser Feind und Nayla ist immer noch diejenige, die für den Frieden und die Einhaltung dessen verantwortlich sein wird, Thien.« Sanft blickt er auf mich herab, wie ein großer Bruder halt. Dass wir gleich alt sind, übersieht er gerne. »Ich muss Nayla also diese Stellung zuteilen, zumindest solange sie bei uns lebt.«

Nun knurre ich. »Du verstehst nicht, dass du sie damit in eine unangenehme Lage gebracht hast-«

Mein Bruder unterbricht mich. E’katarina steht stumm neben uns. »Sie hat die richtige Entscheidung getroffen und Noa und ich auch. Das Volk muss lernen, damit umzugehen und Nayla ebenso. Sie war vorher schon in einer unangenehmen Lage und das wird sie auch für den Rest ihres Lebens sein, denn schließlich ist sie eine Anführerin.« Ich will etwas erwidern, aber Paco hat noch mehr Worte, die gesagt werden müssen. Worte, die klar stellen sollen, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. »Sie hat für die Dinge, die sie erlebt hat, mein vollstes Verständnis und gerade weil sie nicht aufgibt und sich nicht beeinflussen lässt, hat sie meinen vollsten Respekt. Ich werde dein Mädchen in jeder Situation und Handlung unterstützen, versteh mich da nicht falsch, aber wir müssen sie auch auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereiten, weil es bisher kein anderer getan hat.« Paco senkt die Stimme, als die Menschen in unserer Nähe versuchen das Gespräch zu belauschen. »Sie ist noch ein Kind – genauso wie wir – dem abverlangt wird wie eine Erwachsene zu Handeln. Ich glaube ihrer kleinen Schwester, dass Nayla etwas Besonderes ist. Sie wurde mit diesem einzigartigen Mal geboren und sie war diejenige, der wir es zu verdanken haben, dass alle Lügen aufgedeckt wurden. Unsere Vorfahren stehen uns endlich wieder bei und haben uns jemanden geschickt, der uns retten wird. Denkst du tatsächlich, ich setze das waghalsig auf’s Spiel oder weiß es nicht zu würdigen?«

Paco hat die Frage nicht gestellt, um eine Antwort zu bekommen und er bekommt auch keine. Knurrend wende ich mich ab und bleibe nur stehen, weil E’katarina mir mitfühlend die Hand auf die Schulter legt. »Dein Bruder hat recht, Thien. Das Mädchen macht mir oftmals immer noch eine Heidenangst, aber in der ganzen Zeit hat sie nichts getan, was an ihr zweifeln lässt. Ganz im Gegenteil, wie man eben mit Eik gesehen hat. Das sehen auch alle anderen.«

Ihre Worte beruhigen mich nicht wirklich. »Ich verstehe nicht, dass sie immer wieder diesen ganzen Mist abkriegt.«

»Sie kriegt den Mist ab, weil sie sich selbst mitten hinein schmeißt« E’katarina legt den Kopf schräg und deute auf die Menschen um uns herum. »Und ich kann dir auch sagen warum. Sieh sie dir an, Thien. Siehst du das Licht, das sie umgibt? Das Glimmen in ihren Augen? Zum ersten Mal haben die Kinder und Jugendlichen Hoffnung. Das ist der Grund, warum sie alles abkriegt. Weil sie es so will.«

Ich werfe einen Blick über die Schulter. Paco sieht mich vielsagend an und auch wenn ich nichts entgegne, so würde ich ihm am liebsten eine runterhauen. Es war trotzdem nicht rechtens, dies ohne Vorwarnung zu tun. Ich bin derbe enttäuscht von ihm. Auch wenn ich kein Anführer bin, so bin ich doch immer noch sein Bruder.

E’katarina wird ein wenig unruhig neben mir. »Eik und Noa sind übrigens mit ihr in die Schlucht hinunter gegangen um … die Leiche zu beseitigen«, erklärt sie uns scheu. Das Wort ›Leiche‹ hat sie nur schwer über die Lippen gebracht.

Paco sieht sie fassungslos an. »Du hast Nayla mit Eik da hinunter gehen lassen?«

E’katarina verdrehte ihre Augen und verteidigt Eik. »Er ist nicht so, wie du denkst und du kannst mir ruhig glauben, wenn ich sage, dass er ein netter Mann ist. Eik hat nur getan, was er für richtig hielt, auch wenn ich seine Vorgehensweise nicht gut heiße.«

So wütend und fassungslos wie ich eben war, ist nun mein Bruder. »Du überschätzt deine Einsicht in die Köpfe der Menschen!«, zischt Paco. »Eik ist ein Vollidiot, der Sachen nie zu Ende denkt, bevor er sie in Angriff nimmt.«

E’katarina spannt den Kiefer an. »Und du unterschätzt die Menschen deines Volkes. Nayla hat sein Leben verschont und Eik ist nicht so dumm, dass er das nicht zu würdigen weiß.« Das sagt sie nur, weil sie völlig in ihn vernarrt ist. Eik verhält sich oft ziemlich dumm und jenes würde der arrogante Mistkerl noch nicht einmal abstreiten, sondern auch noch stolz darauf sein. Ich konnte ihn noch nie leiden.

Die Zankerei zwischen Paco und E’katarina nimmt an Fahrt auf, aber meine Aufmerksamkeit wird von etwas anderem abgelenkt. Ein leichtes Beben in der Erde unter unseren nackten Füßen. Verwundert drehen wir uns um, sehen die anderen, die ebenfalls in ihrer Arbeit innehalten. Wir lauschen wo der Ursprung dessen liegt, auch wenn wir nicht definieren können was uns zu Ohren kommt. Ich folge dem Geräusch langsam. Die anderen dicht neben mir. Das Beben steigert sich ein wenig, während wir die Lichtung verlassen und den Wald durchqueren.

»Wasserrauschen?«, haucht Paco ungläubig. Endlich habe ich einen Namen für dieses Geräusch, auch wenn ich nicht weiß, wieso ich es mitten auf der Insel hören kann. Das Rauschen wird lauter. Meine Schritte schneller.

Das Beben kommt aus Richtung der Schlucht, die auf der nun verlassenen Lichtung liegt. Die Kinder und Jugendlichen sind uns gefolgt und laufen neugierig an uns vorbei. Wir treten näher an die Schlucht und müssen uns durch die Massen hindurchdrängen. Dann schauen wir über den Rand hinweg und sehen das Wasser, das extrem schnell nach oben drängt. Und wir sehen, wer davor flieht. Ein Junge neben mir flucht lautstark, als er das sieht. Eines der Mädchen schreit auf.

Eik wird schon einen Wimpernschlag später unten von den Wassermassen begraben, aber meine Sorge gilt nicht ihm, sondern meinem besten Freund und dem Mädchen, das mein Leben auf den Kopf gestellt hat. Sie erreichen die letzten Stufen, aber das Wasser ist mit ihnen auf gleicher Höhe. Es sieht aus, als wäre es lebendig, als würde es sie jagen. Dann verschluckt es die beiden und treibt sie weiter nach oben. Wir machen uns bereit die Drei aufzufangen, wenn das Wasser aus der Schlucht tritt, aber mit einem Mal steht es still. Einfach so, als wäre nichts gewesen.

Wir sehen Nayla und Noa, die einfach im Wasser bleiben anstatt aufzutauchen. Ihre Hände liegen an der Oberfläche, fahren mit den Fingerspitzen darunter entlang. Dann stößt Nayla ihre Hand gegen das Wasser, und mit einem Mal verstehe ich, warum sie nicht auftauchen, denn eine unsichtbare Mauer trennt sie von uns. Eik taucht nun noch neben ihnen auf. Gemeinsam lassen sie ihre Fäuste gegen die Mauer prallen. Luftblasen entsteigen ihren Mündern und sammeln sich unter der unsichtbaren Decke wie fein geschliffenen Perlen.

Ich springe runter, pralle auf die Knie und stoße ein Zischen aus, als ich das kalte Eis berühre. Unter meinen Fingern sehe ich das Blut der Drei. Wie besessen prallen ihre Fäuste auf das Eis ein. Die Vibration geht durch das Eis und ist in meinen Füßen zu spüren.

Naylas Hände verharren in den Schlägen, als sie mich erblickt. Fassungslos sehe ich sie an. Werde in den Sog ihrer Augen gezogen und kann kaum noch atmen.

Nein! Das darf nicht passieren!

Ich greife auf meine Macht zurück, will das Feuer in mir dazu nutzen, das Eis zu schmelzen, aber es ist, als pralle ich gegen einen unsichtbaren Widerstand. Genauso unsichtbar, wie die Eisdecke unter meinen Füßen.

Ich greife an meinem Gürtel, ziehe die Machete heraus und schlage dann damit auf das Eis ein. Ich vollführe einen Schlag nach dem anderen, aber die dünne Schicht bekommt keinen einzigen Kratzer, keinen einzigen Riss. Nur der Stahl zerbeult unter den Schlägen.

»Was geht hier vor?«, flüstert Kasi schwach, der urplötzlich neben mir aufgetaucht ist.

»Was sollen wir tun?«, ruft Mitira von oben.

Paco schlägt mit seinen Hacken auf das Eis ein, aber es nützt nichts. »Langäxte! Hammer! Meißel! Alles was wir an Waffen haben, hier runter! Sofort! Macht schon Leute!«

Nayla hämmert nun wieder mit Eik und Noa gegen das Eis. Dutzende Menschen kommen in die Schlucht und helfen mit ihren Fäusten und Messern dabei, die Drei zu befreien.

Diverse Waffen landen scheppernd bei uns auf dem Eis und jeder greift sich eine davon. Ich packe die Langaxt und spreize die Beine. Dann hebe ich sie über meinen Kopf und hole so viel Schwung, wie es nur geht. Die Klinge prallt auf das Eis und ein lautes Knacken erklingt. Nicht vom Eis, sondern vom Stahl, welcher sich verbiegt. Ich fluche und schnappe mir die nächste Langaxt. Sie ereilt dasselbe Schicksal und das Schneideblatt wird völlig verbeult.

»Es bringt nichts! Hört auf, Leute!« Kasis Brüllen wandert wie ein Echo durch die Schlucht und jeder hält inne. Bloß ich nicht. Ich schnappe mir wieder die nächste Waffe und hacke mit der Spitze auf das Eis ein.

»Thien! Das ist sinnlos … Das Eis hätte schon längst brechen müssen. Es sind die Vorfahren. Nur sie können so etwas bewerkstelligen.«

»Sie ertrinkt, verdammt!«, brülle ich zurück, halte aber nicht inne.

Ist das hier die Hölle? Sind wir alle Übeltäter in unserem Leben gewesen und müssen jetzt unser Dasein in einer Welt fristen, die uns unerlässlich foltert? Was kann unser Volk Schreckliches getan haben, dass wir all das verdient haben? Dass sogar noch die Kinder darunter leiden müssen? Was kann Leilani Falsches getan haben, dass sie mit ihrem Kind in ihrem Leib sterben musste? Was kann mein Bruder Falsches getan haben, dass er ihren und den Tod seines Kindes mitansehen musste? Was kann die kleine Anela getan haben, dass sie nun ihre Schwester verlieren muss? Was kann Nayla getan haben? Bei allen Meeren, es ist gerade einmal ein paar Tage her, dass sie uns beschützt hat. Warum also verliere ich sie jetzt? Warum meint es unser Leben so schlecht mit uns?

Naylas Haut sieht so blass aus. Ihre Augen sind schreckgeweitet. Ihre langen Haare schweben im Wasser. Seit ein paar Tagen trägt sie die Verbände nicht mehr und man kann deutlich erkennen, was sie seit dem Tag der Verhandlung durchgemacht hat. Die Narbe an ihrem Kopf ist längst nicht verheilt. Ihre Handgelenke schimmern rot und hätten wahrscheinlich noch Monate zum Verheilen gebraucht. Ihre Handmitte ist von Pacos Messer deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden und die ganzen tiefen Kratzer und Hautabschürfungen von dem Kampf gegen meine Mutter sind auch immer noch deutlich zu sehen. Die Narben wäre sie nie losgeworden.

Eik und Noa blicken fassungslos zu uns herauf, weil die anderen nichts mehr tun, um ihnen zu helfen. Die Stärksten von uns können stundenlang tauchen, indem sie ihre Lungen mit Wasser füllen. Aber keiner von uns kann es unbegrenzt und unsere Macht ist enorm von unserer körperlichen Verfassung und unserem Alter abhängig. Die Frauen, die so viele verbundene Wellen haben, können stundenlang tauchen. Manche wenige sogar länger als einen Tag. Wir Männer hingegen nur ein paar Minuten. Eik und Noa, deren Wellen gar nicht miteinander verbunden sind sogar noch weniger. Wahrscheinlich nicht länger, als Nayla es kann.

»Thien! Hör auf!«

Ich werfe die Waffe beiseite und nutze meine Faust. Ich höre nicht auf, auf das Eis einzuprügeln. Meine Fingerknöchel platzen unter den Schlägen.

Ich treibe meine Faust noch einmal auf das Eis, aber es ist vergebens. »Tut mir das nicht an! Bitte, nicht!« Nayla hält nun ebenfalls inne, aber in ihrem Gesicht sehe ich keinen Vorwurf. Ihre Hand legt sich von unten gegen das Eis, direkt unter meine Finger. »Nein! Nein!« Ich schüttele den Kopf. »Du gibst nicht auf! Hast du gehört? Du gibst jetzt nicht auf!«

Anela schreit herzzerreißend auf. »Warum tut ihr denn nichts? Helft ihr doch!« Ich blicke nach oben. Zoa, ihre ehemalige Wache, hält sie im Arm, damit sie nicht zu uns nach unten rennt. Sie tobt in seinen Armen. Kratzt ihn, beißt ihn, tritt ihn. Sie schreit und schreit und schreit, aber er lässt sie nicht los.

Mein Blick fliegt zurück zu Nayla. Meine Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten. Sie platschen neben meinen Händen auf das Eis. Nayla schickt mir ein sachtes Lächeln nach oben, obwohl ihre Augen so voller Furcht sind. Sie legt sich die Hand auf ihre Brust, genau dort wo ihr Herz schlägt, dann legt sie sie wieder von unten gegen das Eis. ›Mein Herz gehört dir!‹

»Wag es nicht zu sterben!«, stoße ich hervor. Meine Verzweiflung ist deutlich in meiner Stimme zu erkennen, aber ich bezweifle, dass sie es hören kann. »Vergiss es! Das lasse ich nicht … «

Ein Leuchten flackert am Rande meines Sichtfeldes auf. Das Wasser, das unter uns ist, beginnt zu schimmern und zu leuchten, als wäre es voller Kristalle oder Diamanten, welche das Licht reflektieren. So soll es damals gewesen sein, als die Schlucht noch mit Wasser gefüllt war und die Vorfahren über uns gewacht haben. Immer dann, wenn der Wandel anstand und die Toten zu Vorfahren wurden. Auch wenn ich selbst nie mit eigenen Augen gesehen habe, so sieht es aus, wie es in den Geschichten beschrieben wurde. Es ist genauso, wie ich es mir immer vorgestellt habe.

Anela schreit immer noch. Sie hört einfach nicht auf. Ihre Tränen laufen über ihr Gesicht auf Zoas Arme, auf die Kratzer und die Bisswunden, die sie ihm zugefügt hat. »Nayla!« Ihr Körper bebt in seinen Armen. »Nayla!«

»Was passiert da unten?«, ruft E’katarina.

»Sind es wirklich die Vorfahren?«, fragt jemand heiser neben mir. Keine Ahnung, wer. Ich kann kaum noch klar denken.

Weitere Luftblasen steigen auf. Nayla verzieht schmerzhaft das Gesicht und schließt die Augen. Dann presst sie sich die Hände auf die Ohren. Noa und Eik werfen sich verwunderte Blicke zu, dann halten sie Nayla nahe der Eisfläche, weil sie selbst nicht mehr mit den Beinen strampelt und sie sonst nach unten treiben würde.

»Bei allen Meeren!«, stößt Paco geschockt aus. »Was passiert da?« Ich beginne wieder auf das Eis einzuschlagen, aber es ist immer noch undurchdringlich.

Lasst sie nicht sterben!‹, flehe ich in Gedanken. Meine Gebete schicke ich an die Vorfahren und an all die Götter, an die ich bisher nie geglaubt habe. ›Lasst sie nicht sterben!‹

Irgendwann endlich weicht der schmerzhafte Ausdruck in Naylas Gesicht. Sie nimmt die Hände von den Ohren und beobachtet die feinen Lichtkristalle, die dichter auf sie zu schweben und sich dann um ihre Gestalt herum sammeln. Die winzigen Lichtpunkte kriechen ihr über die Haut. Zu Hunderten legen sich darauf ab und bedecken ihren Hals und ihren Oberkörper. Das Licht wird heller, blendet uns so sehr, dass es nicht ausreicht die Lider zusammenzukneifen. Nach einigen Atemzügen schwächt es aber wieder ab. Das reflektierende Licht stiebt wie ein explodierender Stern auseinander und erlischt dann wie eine Flamme, die man einfach auspustet.

Ehrfürchtige Stille umgibt uns bei dem Anblick. Naylas Geburtsmal ist viel größer als vorher. Die Wurzeln kämpfen sich nun an ihrem Hinterkopf bis zu der Spitze ihrer Ohren hoch, und auch vorne am Hals schlängeln sie sich auf der Unterseite ihres Kinns empor.

Beeindruckender sind aber die Wellen, die sich nun um ihren Oberkörper ranken. Es sind verdammt viele. So unzählig viele, dass ich meinen Augen nicht traue. Sie wandern vom Schlüsselbein bis zum Bauchnabel. Von den Oberarmen bis runter zu den Ellenbogen. Jede einzelne Welle ist miteinander verbunden. Reihe um Reihe.

Sie ist eine Moana. Eine Ho’oulu und eine Moana. Im Moment ist mir egal, warum, wieso, weshalb. Erleichtert atme ich ein. Sie kann nicht mehr ertrinken.

Nayla aber schließt gequält die Augen. Noas Griff an ihrem Arm wird fester. Als sie die Augen öffnet, verdeutlicht er ihr, dass sie das Wasser einatmen muss, aber Nayla schüttelt den Kopf. Noch einmal versucht er ihr begreiflich zu machen, dass sie den Sauerstoff in ihren Lungen mit dem Salzwasser austauschen muss, aber Nayla schüttelt erneut den Kopf und drückt seine Hand von sich. Sie schwimmt von ihm weg. Prallt mit dem Rücken gegen die Felswand.

Ihre Augen versprühen Wut. Nichts als Wut, aber im nächsten Moment ist da wieder nur Furcht. Erneut schließt sie die Augen, so als hätte sie schon aufgegeben.

Nayla kann nicht mehr ertrinken, denn sie ist jetzt eine Moana. Aber sie ist immer noch ein Mensch und kann immer noch ersticken. Und Nayla ist nun einmal Nayla. Dickköpfig wie eh und je. Ihre Angst vor dem Ertrinken ist zu groß. Ihre Angst vor dem Geschmack auf der Zunge, das Salz, das Wasser, der Druck auf ihrem Brustkorb. Sie hat mir von allem erzählt, nachdem sie in einem der Nächte schreiend aus einem Albtraum aufgewacht ist.

Irgendwann übernimmt der Körper und atmet automatisch ein, aber Nayla würde es sicher hinkriegen, ihn daran zu hindern. Ich kenne dieses Mädchen mit den Trotz in den Augen zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann wird sie es tun, auf Gedeih und Verderb.

Ich lasse meine Faust auf das Eis krachen. Es bebt unter meinem Schlag. Ein Vibrieren geht durch das Wasser.

Nayla blickt auf. »Atme das Wasser! Nayla, verdammt! Atme das Wasser!« Ich könnte ihr einen Schlag ins Gesicht verpassen, als sie wieder den Kopf schüttelt. Ich sinke tiefer auf das Eis. Blicke sie verzweifelt an, damit sie jetzt nicht aufgibt. Es ist mir egal, warum sie denkt, jetzt nicht weiterkämpfen zu müssen. Ich kann das nicht zulassen. »Ich liebe dich!«, sage ich langsam, in der Hoffnung, dass sie mir meine Worte von den Lippen ablesen kann. »Atme das Wasser! Ich flehe dich an! Gib jetzt nicht auf!«

Ich weiß, wie sie aussieht, wenn sie von Gefühlen überrannt wird und völlig in Tränen ausbricht. So ist es jetzt gerade. Bei meinen Vorfahren, woran zweifelt sie denn? Am Leben? An der Zukunft? An meiner Liebe?

»Ich bin da! Hab keine Angst!«

Unsere Augen weichen nicht voneinander und ich kann nicht mit dem Sprechen aufhören. Ich kann sie nicht verlieren. Nayla krallt sich unter meinen Fingern an das Eis. Ihre Augen sind ein Abgrund. Wie die Schluchten, die tief im Ozean zu finden sind und in wabernde Dunkelheit hinunter ragen. Es fehlt ihnen das, was man sonst in ihren Augen zu sehen bekommt. Keine Wut, kein Trotz, keine Arroganz. Nur unendliches Leid, gepaart mit Dutzenden von Tränen, die ungesehen ein Teil des Ozeans werden. Ihr Anblick bricht mir das Herz.

Immer noch atmet sie nicht, aber ich sehe wie ihr Brustkorb verkrampft. Sehe, dass ihr Körper am Ersticken ist. Mein Herz zerreißt. Unaufhaltsam strömen meine Tränen hervor. »Ich bin bei dir, alles wird gut!«, sage ich langsam, damit sie Zeit hat meine Worte zu verstehen. »Egal, was ist, wir bekommen das hin! Atme, bitte! Atme das Wasser! Aloha ˈoena! Vertrau mir! Alles wird gut! Ich bin da! Gib nicht auf! Ich flehe dich an!«

Es kostet sie grausige Überwindung, aber sie gibt ein zaghaftes Nicken von sich.

Dann endlich atmet sie das Wasser ein. Es strömt in ihre Lunge und ihren Körper wie lebensrettender Sauerstoff, aber sie sieht aus, als würde sie den Tod inhalieren.

Das Eis unter meinen Finger knackt. Risse durchziehen die spiegelglatte Oberfläche. Dann schlage ich erneut meine Faust darauf. Das Eis bricht.