Durch das Leben stolpern und immer weiter gehen

Kapitel 47

Vignette

Ich kann ihr nicht nahe sein. Ich bin so enttäuscht, dass sie nicht mit mir geredet, sich verschlossen hat, mich nicht an sich herangelassen hat. Nun verstehe ich es und bin zusätzlich auch noch wütend.

»Rede mit mir, Thien!« fleht sie. Ich habe ihr den Rücken zugedreht und starre auf die Zeichnungen an der Wand. Nach all den Wochen ist auf den meisten Bildern nur noch sie zu sehen. Weinend, lachend, feixend. All meine Gedanken drehen sich nur noch um sie.

»War es wegen den Sachen, die du gesehen hast oder wegen der Entstehung der Iho Aloha?«, frage ich barsch. »Warum, beim Sturm, hast du mit ihm geredet und nicht mit mir?« Ich kralle meine Finger in die Bettdecke. Noch nie habe ich mich so klein und unbedeutend gefühlt. Wie ein kleiner Junge, dessen Welt zusammenbricht und sich einfach nur im Bett seiner Mutter verstecken will.

Naylas Atem schlägt in meinen Nacken. Sie ist mir zu nah! Viel zu nahe! »Wegen der Iho Aloha?«, fragt sie schrill nach. »Was hat die Iho Aloha damit zu tun?«

Meine geplatzten Fingerknöchel brennen. Das meiste haben sie an der Eisdecke abbekommen, aber der Schlag gegen die Hüttenwand hat es nur verschlimmert. »Weil es nicht die Bedeutung hat, die man uns sonst erzählt hat«, wispere ich, kaum mehr fähig zu sprechen.

Die Worte, die Kasi vorhin gesagt hat, kriege ich nicht aus meinem Kopf. ›Um auch die letzten Streitereien zu beenden, erschufen die Vorfahren die Iho Aloha.‹ Dieser Satz und Naylas vorherige abweisende und verstörte Haltung, hat mein Herz fast zerbrechen lassen.

Nayla holt zischend Atem. »Thien, es tut mir leid. Daran liegt es nicht, niemals, das schwöre ich!« Sie klettert auf das Bett, setzt sich auf meinen Schoss.

Zu dicht! Viel zu dicht!

Zaghaft legt sie ihre Hände an meine Wangen, aber ich zucke vor ihrer Berührung zurück. Ihr schuldbewusster Blick brennt sich in meine Augen. »Es ist mir egal, warum die Iho Aloha existiert. Egal, ob sie die Wut des Volkes dämpfen soll oder uns aus dem Krieg reißen soll. … Ich hätte dich auch ohne die Segnung geliebt.«

»Wirklich?«, will ich fragen, aber meine Lippen bringen keinen Ton hervor.

»Es war einfach zu viel. Alles, was passiert ist. Ihre Worte, die Bilder, mein Beinahe-Tod«, rattert sie runter. »Ich hatte solche Angst dort unten«, flüstert sie. »Sie waren da und sie haben es nicht aufgehalten … Sie haben mich fast ertrinken lassen … Mich gezwungen, meiner Angst ausgesetzt zu sein und mich dann mit dieser verhassten Macht gesegnet.« Ihre zarten Finger krallen sich nun an meine Schulter. Ihre Augen werden, wie so oft in letzter Zeit, von Tränen heimgesucht. »Sie haben mir diese ganzen Sachen prophezeit und die Verantwortung dafür auf mir abgeladen und ich muss nun zusehen, dass ich damit klarkomme, dass ich das schaffe und dabei nicht zerbreche, dabei weiß ich gar nicht wie ich – « Nayla blinzelt heftig. Sucht nach Verständnis oder Vergebung oder sonst etwas. Egal, was sie braucht, egal, was sie von mir will, ich werde es ihr geben. Mein schmerzendes Herz beruhigt sich. Meine Angst, dass sie die Iho Aloha erneut verabscheut, verschwindet langsam. »Es ist nicht nur mein Leben, was immer auf Kollisionskurs gerichtet ist, sondern auch Anelas. Und nun auch noch deines. Maˈipu qua`oe?«

Ich sehe, wie sie fieberhaft nach Worten sucht und wie es sie schmerzt, auszudrücken, was in ihr vorgeht. »Ich wollte Freiheit für mein Volk und einen Anführer, der sie gütig und gerecht behandelt. Ich wollte den Krieg beenden und war bereit, dafür zu sterben, damit es endlich ein Ende nimmt. Ich glaubte mich in dem Wissen, dass sich alles irgendwann ändern wird, Thien. Dass sie einen ehrwürdigen Anführer bekommen und dass der Krieg endet. Wenn die Vorfahren aber Recht haben, dann wird das nicht enden.«

Nichts als pure Verzweiflung ist in Naylas Gesicht zu sehen. Ich nehme meine gekrümmten Finger aus der Decke, lege meine Arme um sie, damit sie nicht zerbricht. »Es wird sich nichts ändern«, haucht sie verloren. »Es wird nicht enden. Wir sind auf Ewigkeit dazu verdammt, zu leiden und wir sind dem hilflos ausgeliefert. Ist es zu viel verlangt, ein normales Leben zu haben? Ich wollte es für Anela, für mein Volk. Nun will ich es auch für mich, wegen dir – mit dir – denn durch dich weiß ich, was es bedeutet zu leben und zu lieben und ich will das fühlen, was ich fühle und es auskosten und in diesem Glück baden und Zeit haben dich zu lieben … « Nayla japst nach Luft, weil die Tränen ihr den Atem nehmen.

»Schon gut!«, unterbreche ich ihren Redeschwall und nehme ihren zerbrechlichen und wunderschönen Kopf zwischen meine Hände. »Wir werden Zeit haben. Du kannst mich lieben, so viel du willst und wir werden lachen und weinen und leben und dann wird irgendwann wieder ein Zeitpunkt kommen, wo du denkst, dass du zerbrichst, aber du wirst nicht zerbrechen … ich werde dich halten.« Ich atme tief ein, lehne meine Stirn gegen Naylas. »Du solltest auf Noa hören und auf Kasi, denn sie haben beide Recht mit ihren Worten. Du bist stark genug dafür, uns zu retten, aber es ist ebenfalls dein gutes Recht, den Vorfahren zu sagen, dass es nicht an dir liegt, wenn die Welt so mies bleibt, wie sie ist.«

Ein zartes Nicken ist von Nayla zu vernehmen. Mit traurigen großen Augen sieht sie dann zu mir auf.

»Du kannst das schaffen, wenn du es willst«, flüstere ich. »Aber wenn du es nicht willst, wenn du dich nicht diesem Leben, welches dir aufgedrückt wurde, fügen willst, dann kann dir daraus keiner einer Vorwurf machen.«

»Ich will mich nicht fügen, denn ich habe Angst, daran zu zerbrechen.«

Ich habe Angst, sie zu überfordern. Etwas Falsches zu sagen. »Wirst du nicht. Kannst du gar nicht, denn ich werde dich halten. Wenn die Erde dich verschlucken sollte, dann werde auch ich unter ihr begraben, und wenn der Himmel auf uns nieder kracht, dann werden wir zusammen in den Wolken versinken! Du bist mein Leben, und ohne dich will nicht sein.«